Unterschrift Wolfgang Thierse

Zeit im Osten

 
8. Juli 2020

Beitrag von Wolfgang Thierse für Zeit im Osten "Der Osten bekam, was er wählte"

Tatsächlich, eine selbstkritische und selbstbewusste Debatte unter Ostdeutschen ist an der Zeit, 30 Jahre nach friedlicher Revolution und Deutscher Vereinigung. Aber muss sie unbedingt im Ton des Vorwurfs und der Schuldzuweisungen geführt werden? Ein Riss soll durch den Osten gehen und natürlich sei der Westen – vor allem – Schuld daran und – ein wenig – auch die elitären Bürgerrechtler. Wie bequem. Wie vertraut.

Dass nicht alle Ostdeutschen mit den gleichen Gefühlen auf die damaligen Ereignisse und die Veränderungen seitdem blicken, dass ist verständlich und erklärlich. Nicht alle Ossis können sich als Sieger der Geschichte empfinden, erst recht nicht alle haben die dramatischen ökonomisch-sozialen und politisch-kulturellen Veränderungen erfolgreich bestanden. Es gibt ja nicht nur diejenigen, die sich mit Intelligenz oder Cleverness oder Anpassung in der Konkurrenzwirtschaft und der offenen Gesellschaft behauptet haben. Es gibt eben auch „Fußkranke des Fortschritts“, die auf bittere Weise unter die Räder geraten sind. Deren Nöte und Probleme, deren Forderungen und Vorwürfe hat demokratische Politik verdammt ernst zu nehmen, ohne (wieder) Wunder zu versprechen! Die Spaltungen allerdings sind nicht nur ostdeutscher Art und können deshalb auch nicht nur ostdeutsch gelöst werden. Worüber wir Ostdeutsche aber endlich und freimütig miteinander sprechen sollten, das sind ein paar durchaus unangenehme Erinnerungen und Einsichten. (Ich will das ohne den Ton des Vorwurfs meinerseits tun.)

Reden wir also über unseren zähen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex, den wir offensichtlich immer noch nicht losgeworden sind! Viele Ostdeutsche haben mit dem Blick nach Westen gelebt, allabendlich sind wir per Fernsehen gen Westen ausgewandert. Der Westen war (und ist) der Maßstab, gegenüber dem viele Ossis sich als „zweiklassig“ empfanden und noch empfinden und der die Debatten über den Stand der Deutschen Einheit bestimmt. Aber darf er der allein seligmachende Maßstab sein? Könnte nicht ein Blick gen Osten, nach Polen und Tschechien und gar Russland hilfreich sein?

Vermutlich gilt es als Nestbeschmutzung, wenn man meint, dass Weiterwirken einer tiefen autoritären Prägung unter Ostdeutschen wahrnehmen zu können. Die DDR war als SED-Diktatur ein autoritärer, ein „vormundschaftlicher“ Staat (wie ihn Rolf Henrich 1990 bezeichnet hat). Von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ hatte Rudolf Bahro schon in den 70er Jahren gesprochen. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben: Selbstbewusste, selbstverantwortliche Bürgerschaftlichkeit konnte nicht praktiziert werden, über Jahrzehnte hin blieb sie seltene tapfere Ausnahme – bis zum Herbst 89, der eben vor allem ein Ausbruch aus Hörigkeit und Unterwerfung war, von vielen, aber doch nicht von allen. Auch 1989 waren die Ostdeutschen nicht einer Meinung, so wenig wie es das ostdeutsche fast schon mythische „Wir“ tatsächlich je gegeben hat. Die Risse durch die DDR-Gesellschaft – sie waren vielfältiger gewesen also die Unterscheidung zwischen „Fügsamen“ und „Widerständigen“, sie waren in den 40 Jahren auch unterschiedlich politisch, sozial und kulturell getönt. Die „sozialistische Menschengemeinschaft“, das war immer pure Ideologie, in Wirklichkeit war die DDR eine zerrissene Gesellschaft, die Risse waren nur weniger sichtbar durch das gemeinsame Schicksal des Eingesperrtseins, aber selbst dieses haben die „Reisekader“ nicht wirklich geteilt.

Einen kurzen Moment lang, im revolutionären Herbst 89 schienen die Risse überwunden, gab es das Wir tatsächlich, konstituiert durch das Gegenüber: die SED-Herrschaften, der lähmende status quo der Macht. Konnten Bürgerrechtler und Intellektuelle tatsächlich der Überzeugung sein, sie seien das Sprachrohr des Gemeinsamen. Schon nach dem 4. November und erst recht nach dem 9. November war es damit vorbei.

Die Wahl vom 18. März hatte ein Ergebnis von schmerzlicher Eindeutigkeit: Die Bürgerrechtler hatten verloren, die Ost-SPD nicht gewonnen. Die Mehrheit der Wähler hatte kein Interesse an einem neuen sozialistischen Experiment oder an der Vision einer ganz anderen Gesellschaft, an einem dritten Weg. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik. Angesichts des faktischen wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Zukunftsunsicherheit war dies ein verständlicher Wunsch, den zu verachten (nicht nur damals) arrogante politische Dummheit war. Daran zu erinnern mag wehtun, für alle Beteiligten! Das gilt allerdings auch für die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Seine beruhigenden Versprechen nach dem Motto: „Ich nehme Euch an die Hand und führe Euch ins Wirtschaftswunderland“ haben gewirkt und die CDU zu Wahlerfolgen geführt. Eine Mehrheit der Ostdeutschen wollte in all ihren Hoffnungen und Ängsten den Verheißungen unbedingt glauben. Das sollten die Ostdeutschen nicht verdrängen! Denn: Je größer die Versprechen und Erwartungen, je heftiger das Glaubenwollen, umso größer die späteren Enttäuschungen und Vorwürfe, bis heute. Aus den übergroßen Erwartungen – die nüchtern-kritischen Botschaften á la SPD hatten damals keine Chance gehört zu werden – und den ihnen regelmäßig folgenden Ernüchterungen folgte auch die größere Volatilität ostdeutscher Wähler: Erst hat man seine Hoffnungen an die CDU (1990 und 1994) adressiert, dann an die SPD (1998 und 2002) und danach seine Enttäuschung und Wut zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Eine Revolution, selbst eine so friedliche, kommt nicht ohne Personalwechsel aus. Wir wollten ja die alten SED-Eliten schließlich loswerden. Die Übernahme von Positionen durch Westdeutsche ist gewiss nicht immer gut gelaufen und war oft mit persönlichen Zurücksetzungen und Verletzungen verbunden. In Wirtschaft, Justiz, Medien war dieser Wechsel unausweichlich. Aber es ist ein skandalöses Ärgernis, dass auch nach 30 Jahren immer noch nicht ausreichend Ostdeutsche in Führungspositionen einrücken konnten (z. B. weder in der Bundestagsverwaltung noch im Bundesverfassungsgericht)! In der Politik allerdings hatten die Ostdeutschen immer die Chance Ihresgleichen zu wählen – und haben die westdeutschen Biedenkopf, Vogel und Ramelow gewählt. Und heute wählen die, die über Kolonisierung des Ostens durch den Westen klagen, westdeutsche AfD-Funktionäre übler Art!

 

Ich war als Bundestagspräsident der erste Ostdeutsche in einem der Verfassungsämter und habe in den 24 Jahren meiner politischen Biografie immer versucht, erkennbar als Ostdeutscher zu sprechen und zu handeln. Ich habe wirklich keinen Grund, mich zu beklagen. Aber ich erinnere mich doch daran, dass ich für die mir zugeschriebene Rolle („Mundwerk der Ossis“) nicht nur Lob und Unterstützung erfahren habe. Im Westen wurde ich als „Ossi-Bär“ karikiert, der nach westlichem Honig giert, im Osten wurde ich dafür kritisiert, dass ich die Wunder nicht bewirke, die Helmut Kohl versprochen hatte. Angela Merkel und Joachim Gauck, die beiden weiteren Ostdeutschen in Verfassungsämtern, haben allerdings noch weit mehr ostdeutsche Unzufriedenheit und Kritik erfahren. Solch Umgang macht Repräsentanz der Ostdeutschen in der Politik nicht eben leicht und verlangt nach stoischem Gemüt á la Merkel oder frecher Anmaßung nach Art der AfD-Funktionäre.

 

An die unter Ostdeutschen ziemlich verbreitete Unfähigkeit und Unwilligkeit zu positiver Selbstwahrnehmung kann und will ich mich jedenfalls nicht gewöhnen. Ich wage gar nicht von Stolz zu reden. Dabei haben wir Ostdeutschen doch genug Anlass, mit Selbstbewusstsein auf die friedliche Revolution und die Bewältigung einer dramatischen und schmerzlichen Transformation zu blicken. Das ist und bleibt eine große soziale und kulturelle und menschliche Leistung! Und ist ein Erfahrungsschatz, der für die uns bevorstehenden nicht weniger dramatischen Änderungsprozesse ein Vorteil sein könnte, sein sollte. Schuldzuweisungen an „den Westen“, Vorwürfe gegen „die da oben“ erscheinen mir allerdings nicht als Ausdruck solch erwünschten Selbstbewusstseins! Und produktiv machen sie schon gar nicht.

Wir müssen tatsächlich miteinander reden, selbstkritisch und selbstbewusst zugleich – um der nötigen ostdeutschen Selbstvergewisserung willen. Aber wir sind nicht mehr allein, nicht mehr nur unter uns. Zum Glück. Sonst hätten wir 89 nicht die Mauer aufstoßen dürfen. Also reden die Wessis mit, die guten wie die schlechten, im Guten wie im Schlechten. Also streiten wir mit denen, aber auch unter uns. Demokratie ist halt Streit und nur so lassen sich Risse bearbeiten und überwinden.