Unterschrift Wolfgang Thierse

September 2022

 
September 2022

Publik Forum Nr. 17/2022

Beitrag von Wolfgang Thierse über Michail Gorbatschow

"Auch ihn bestrafte das Leben - Michail Gorbatschow brach mutig mit dem erstarrten Sowjetsystem. Doch erst sein Scheitern brachte die Freiheit."
 

Als das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion am 11. März 1985 den Nachfolger des am Tag zuvor verstorbenen Konstantin Tschernenko bekannt gab, horchten wir auf. Michail Gorbatschow, der neue Generalsekretär, der mächtigste Mann des Ostblocks, war 54 Jahre alt, nach den greisen Herrschern Leonid Breschnew, Juri Andropow und eben Tschernenko wirkte er geradezu jugendlich. Wo seine Vorgänger sich im Kreml eingemauert hatte, ging er einfach auf die Menschen zu. Er war charmant und humorvoll, er zeigte sich gerne mit seiner großartigen Frau Raissa. Wann hatte es das gegeben: einen KPdSU-Generalsekretär, der sich von seiner Frau beraten lässt? Gorbatschow sprach schon bald nach seinem Amtsantritt von Glasnost und Perestroika, von Transparenz und Umbau. Bei uns keimte Hoffnung auf, erst zögernd, begleitet von großem Misstrauen, dann immer stärker, bis hin zur Euphorie.

Wir, das waren jene Menschen in der DDR, die unter der Erstarrung des SED-Regimes litten, unter der Bespitzelung aller Andersdenkenden, die sich wünschten, dass Menschenrechte und Demokratie nicht die zynischen Leerformeln einer Diktatur blieben. Aber der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953, der Ungarn-Aufstand von 1956 und der Prager Frühling von 1968 – alle niedergeschlagen von sowjetischen Panzern - hatten uns gelehrt: Es kann im kommunistisch beherrschten Teil der Welt keine Freiheit geben, wenn in Moskau sich nichts ändert. Unsere Geschichte schien eine Geschichte der Niederlagen und Enttäuschungen zu sein. Und jetzt, ganz unerwartet, schien die ewig währende bleierne Zeit an ihr Ende zu kommen. Verständlich, dass Michail Gorbatschows neuer Kurs bei den Machthabern der DDR auf strikte Ablehnung stieß; verständlich, dass wir umso lauter riefen: Gorbi, Gorbi!

Was er tat, erforderte großen Mut. Goratschow bekämpfte Alkoholismus, Korruption und Schlendrian im Land, legte sich mit den Parteieliten an, versuchte den Abschied von der Planwirtschaft. Er hatte eine außerordentlich intensive Wahrnehmung der wirklichen Lage im Land – vermittelt auch durch den Geheimdienst, dessen Zögling er war. Die propagandistisch-ideologische Verbrämung der Misere, von der sich seine greisen Vorgänger hatten täuschen lassen, sie funktionierte bei ihm nicht mehr. Er rehabilitierte Dissidenten wie Andrei Sacharow. Und er trat in Abrüstungsverhandlungen mit US-Präsident Ronald Reagan – die ersten Schritte zur Beendigung des Kalten Krieges kamen von ihm. Das ist eine große, historische Leistung, ebenso, dass er sich von der Breschnew-Doktrin verabschiedete, der zufolge kein Staat innerhalb des sowjetischen Machtbereichs unabhängig seine Staatsform wählen konnte. Das zauberhafte Bild vom gemeinsamen Haus Europa, in dem es viele unterschiedliche Wohnungen gibt, es stammt von ihm. Und am 7. Oktober 89 sagte er, dass nicht erfolgreich sein wird, der sich nicht auf die Wirklichkeit einlässt – in einem komplizierten Satz, der dann verkürzt wurde zu: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Und doch verdanken wir nicht seinem Mut und seiner Klarsicht die deutsche Einheit – sondern seinem Scheitern. Michail Gorbatschow wollte die Sowjetunion retten und das Sowjetimperium, mit mehr demokratischen Elementen, einer freieren Wirtschaft, einem reformierten Ostblock. Aber das Sowjetsystem war nicht zu retten, es war in sich falsch und faul und nicht reformierbar. Zudem stand es wirtschaftlich am Abgrund. So brauchte Gorbatschow die Hilfe der Vereinigten Staaten und das Geld der reichen Bundesrepublik, so musste er die mittelosteuropäischen Länder freigeben und Bundeskanzler Helmut Kohl die deutsche Einheit geradezu zu schenken – über das Geld hinaus fast ohne Gegenleistungen.

Auch ihn, den so intelligenten Analytiker, bestrafte das Leben. Die Sowjetunion zerfiel, Kriege und Bürgerkriege begannen, im August 1991 wurde Gorbatschow weggeputscht von unzufriedenen Militärs und gerade so gerettet von seinem Rivalen Boris Jelzin, auf demütigende Weise. Auch das zeigt, wie kurz nur die Zeitspanne war, in dem die Einheit Deutschlands möglich wurde. Seitdem aber sind in Russland Demokratie, Freiheit, Pluralismus, Abrüstungspolitik verbunden mit der Erinnerung an Niedergang, Zerfall, Armut, Kriminalität und Unsicherheit, obwohl das in Wahrheit die Folgen des alten, maroden Sowjetsystems waren. Die Wurzel von Putins imperialistischen Nationalismus liegt im Scheitern Gorbatschows. Auch das gehört zur Tragik dieses großen Mannes.

Als ich ihn persönlich kennenlernte, als Politiker und Präsident des Deutschen Bundestages, da umwehte ihn diese Tragik des Scheiterns, obwohl er doch die Welt verändert hatte. Am 9. November 1999, zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, durfte ich ihn im Bundestag begrüßen. Seine geliebte Frau Raissa war gerade gestorben. Er aber war und blieb ein zugewandter, liebenswerter Mensch, wo andere vielleicht bitter oder zynisch geworden wären.

Es bleibt Michail Gorbatschows Traum vom gemeinsamen europäischen Haus. Ausgerechnet er, der führende Mann des Ostblocks, hat diese Idee, diesen Traum formuliert, vielleicht, weil er noch mehr als die Politiker aus dem Westen wusste, dass dieses Haus gepflegt und immer wieder repariert und renoviert gehört, damit alle, die in ihm gut wohnen und leben können. Es bleibt sein Mut zur Öffnung und zur Klarsicht, seine Erkenntnis, dass versteinerte Verhältnisse nicht so bleiben dürfen, wie sie sind – auch wenn man dann vielleicht nicht mehr steuern kann, was man da in Gang gesetzt hat. Es bleibt seine Vision von einem friedlichen und freien Russland, so fern und ortlos sie zur Zeit zu sein scheint.

Und schließlich bleibt ist uns in Deutschland unsere angemessene und trotz aller Ambivalenz von Herzen kommende Dankbarkeit dafür, dass er uns die Möglichkeit zur Wiedervereinigung eröffnet hat und damit zur Vereinigung Europas eröffnet hat. Michail Gorbatschow ist der Vater der deutschen Einheit, viel mehr als Helmut Kohl. Bundeskanzler Kohl ergriff 1990 die Gelegenheit, die Michail Gorbatschow geschaffen hatte. Auch Helmut Kohls Handeln im richtigen Moment ist ein historisches Verdienst. Aber hätte der sowjetische Staats- und Regierungschef 1989 die Panzer rollen lassen, hätte es diesen Moment nicht gegeben.

Die Bundesrepublik sollte Michail Gorbatschow mit einer Trauerfeier in Berlin ehren. Das sind wir ihm schuldig.