Unterschrift Wolfgang Thierse

Polis

 
Juli 2020

Beitrag von Wolfgang Thierse für POLIS "30 Jahre friedliche Revolution - 10 Punkte für die zukünftige politische Bildungsarbeit"

Im vergangenen Jahr konnten die Deutschen sich der friedlichen Revolution vor 30 Jahren erinnern, in diesem Jahr haben wir den 30. Jahrestag der deutschen Vereinigung zu begehen – beides in einem Land, dessen Aufmerksamkeiten durch ganz andere Ereignisse Probleme und Konflikte bestimmt sind, zuletzt durch die Corona-Pandemie. Aber auch in Sachen Bilanz der Wiedervereinigung ist das Land zerstritten, ja gespalten und die Erinnerungen und Bewertungen schwanken zwischen Freude und Kritik, zwischen Missmut und Desinteresse.

Sichtbar geworden ist, dass der Prozess der Wiedervereinigung noch längst nicht abgeschlossen ist und dass für ihn nicht nur ökonomische und soziale Faktoren von Gewicht sind. Die deutsche Vereinigung ist offensichtlich auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess der Mentalitätsveränderungen, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen.

Ralf Dahrendorf sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: Für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse veranschlagte er 6 Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft 6 Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft 60 Jahre! Nach dieser Prognose liegen wir also noch im Zeitplan. Ostdeutschland hatte Dahrendorf allerdings nicht vor allem im Blick, für uns Ostdeutsche galt nämlich eine durchaus privilegierte Sondersituation.

Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als  Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das Eine ist die Norm, die die Anderen zu übernehmen haben; die Einen sind die Lehrmeister, die Anderen die Lehrlinge; bei den Einen kann alles so bleiben, bei den Anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den Einen als Bestätigung des Status quo, bei den Anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Köln oder München jemand denken, bei ihm müsse sich was ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde!

Aber aus dieser unvermeidlichen und zugleich für die Ostdeutschen sehr schmerzlichen Grundkonstellation folgerte kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Folgerte die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Folgerte die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und folgerte dann die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zu beschämend niedrigen Wahlbeteiligungen und zuletzt in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen und Erwartungen an die CDU adressiert und danach (1998 und 2002)  an die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Dieses Wahlverhalten und auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach drei Jahrzehnten eines schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten von heftigen Umbrüchen und dramatischen Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet.

Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet, weil die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen zäh sind und die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung schwieriger ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen, also angesichts von Arbeitslosigkeit, von Benachteiligungserfahrungen, von Veränderungsängsten. (Pegida ist eben nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.)

Allerdings: Es geht trotzdem nicht nur um eine allein ostdeutsche Problematik! Die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die der Begriff Globalisierung zusammenfasst, die Migrationsschübe, die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die ökologische Bedrohung, die zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, die Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte und jetzt die globale Pandemie, insgesamt also das Erleben einer „Welt in Unordnung“ – das alles verstärkt auf offensichtlich dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Darauf muss die Demokratie, müssen die Demokraten Antworten finden.

Vor allem auch, weil die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen was Halt gibt und Zusammenhalt sichert, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste, soziale Überforderungsgefühle, kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt sind. So gibt es – drei Jahrzehnte nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit – neben den sozialen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft eben auch eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: Nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.

Das sind Zeiten für Populisten, also für die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die die verständlichen Sehnsüchte nach Erlösung von ängstigenden Unsicherheiten flott zu befriedigen versprechen. Zumal eben in Ostdeutschland! Denn was ich für Deutschland (und Europa) insgesamt zu beschreiben versucht habe, gilt für den Osten in besonderer, verschärfter Weise. Dort trifft die gegenwärtige Veränderungsdramatik auf Menschen, die die dramatischen Veränderungen seit 1989/90 mit Schmerzen, Opfern, Verlusten noch nicht gänzlich und vor allem nicht alle gleichermaßen erfolgreich bestanden haben. Soviel Umwälzung in kurzer Zeit! Und nun die nächste Welle umgreifender Veränderungen! Das eben macht nicht weniger empfänglich für die einfachen, radikalen Botschaften, für das Angebot alt-neuer konservativer-nationaler Gewissheiten und wütend-aggressiver Abwehr. Eine erfolgreich-gefährliche Mischung – nicht nur im Osten Deutschlands, wie man gerade wieder in der Corona-Krise erleben kann.

Eine Herausforderung für die Demokraten, für Demokratiearbeit und für politische Bildung auch. Ich nenne in aller Kürze 10 Punkte, die mir wichtig erscheinen, um unsere Demokratie in umkämpften Krisenzeiten zu verteidigen und zu stärken (und sie haben nicht alle mit politischer Bildung zu tun und berühren doch alle die Aufgaben politischer Bildung).

1.) Die Politiker (also Parlamente wie Regierungen) sollen selbstverständlich ihre Pflicht tun, also an der schrittweisen Lösung der ängstigenden Probleme arbeiten. Ich betone schrittweise, weil es in der Demokratie nicht schneller geht. Demokratische Politik kann (und darf) Erlösungsbedürfnisse nicht befriedigen. Die wirkliche Politik ist auch keine Talkshow, in denen es um die schnelle und treffende Pointe geht. Die wirkliche Politik ist schweißtreibend und langsam und immer auf der Suche nach möglichst gelingenden und überzeugenden Konsensen oder Kompromissen. Die unvermeidliche Langsamkeit demokratischer Politik gilt es immer wieder neu verständlich zu machen, weil diese erst ermöglicht, dass sich an ihren Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen möglichst viele beteiligen können, wenn sie es denn wollen.

2.) Politiker sollen ihre Arbeit, also ihre Ziele, die Alternativen, die Strategien, Instrumente und Schritte von deren Verwirklichung in einer verständlichen und einladenden Sprache erklären, also auch erklärend debattieren. (Das unangemessenste  Wort für die politische Kommunikation der letzten Jahre war das Wörtchen „alternativlos“!) Politiker müssen sichtbare kommunikative Anstrengungen unternehmen, der sich immer wieder einstellenden Tendenz zur Selbstbezüglichkeit der politischen „Klasse“ zu begegnen und zu widerstehen.

3.) Wir sollten alle Formen der Öffnung der Politik, der Partizipationsmöglichkeiten, der Teilhabe an politischer Meinungsbildung und Entscheidung nutzen und wenn möglich erweitern, allerdings ohne uns allzu sehr den Suggestionen direkter Demokratie, der Faszination plebiszitärer Demokratie auszuliefern. Aber bürgerschaft-liches Engagement ist so viel wie möglich zu unterstützen und zu fördern. Die Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit machen zu können, ist eine vitale Grundlage von Demokratie (auch außerhalb von Zeiten einer friedlichen Revolution).

4.) Streit und zwar friedlicher Streit nach Regeln der Fairness ist wesentliches Element der Demokratie. Sie ist eben eine diskursive Herrschaftsform. Genau als solche gilt es sie zu verteidigen – gegen das populäre Missverständnis, Demokratie sei einfach Volksherrschaft, Herrschaft der Mehrheit (dieses – gerade in Ostdeutschland verbreitete  - Missverständnis begründet illiberale Demokratie). Demokratie ohne Rechtsstaat und ohne Minderheitenrechte ist keine. Die Art, wie wir Meinungs-verschiedenheiten und Interessenskonflikte austragen, macht die Qualität der politischen Kultur aus: Der diskursive Entscheidungsweg ist es, der die Legitimität getroffener Entscheidungen begründet. Mäßigung, Kompromiss, Konsenssuche als notwendige Elemente von demokratischer Kultur sind immer wieder neu zu verteidigen gegen die autoritären Versuchungen.

5.) Demokratie ist, nüchtern betrachtet, ein Institutionengefüge und ein Regelwerk, dessen Kenntnis, Nutzbarkeit und Nutzung elementar für ihr Funktionieren ist.  In unserer Demokratie sind und bleiben dabei Parteien besonders wichtige Akteure des diskursiven politischen Prozesses: Sie zu verachten, heißt demokratische Politik zu verachten. Die Parteien sind zugleich Teil der Zivilgesellschaft und Brücke in das notwendige politische Regierungshandeln.

6.)  Was ist zu tun gegen den drastischen Vertrauensverlust von demokratischen Institutionen, von Parteien, von „Eliten“? Dafür gibt es kein Patentrezept. Natürlich gehört die eigene überzeugende Arbeit an den Problemlösungen an die erste Stelle der Antworten auf die Frage. Aber Problemlösungen bleiben ja immer langsam und enttäuschen unweigerlich die heftigen Sehnsüchte und Erwartungen. Die sind nicht selten durchaus autoritärer Art. („Die da oben, die im Westen…“) Deshalb müssen autoritäre Denkmuster und Einstellungen selbst zum Gegenstand der Demokratiedebatte werden und deren Überwindung ist auch Aufgabe von Demokratieerziehung.

7.)  Eine entscheidende Zukunftsaufgabe: Das Internet muss aus einem Echoraum der eigenen Vorurteile, der Entladung von Hass und der Steigerung von Aggressivität ein Raum der Demokratie werden. Demokratie aber gibt es nicht ohne Sichtbarkeit und ohne persönliche Verantwortungsbereitschaft. Genau dafür brauchen wir Regeln! Die gibt es aber bisher nicht wirksam, weshalb das Internet bisher auch nicht zu einem wirklichen Raum der Demokratie geworden ist.

8.)  Gelingende Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft verlangt nach einem Fundament von Gemeinsamkeiten, nach einer gemeinsamen Antwort auf die Frage nach ihrer politischen Identität. Um der Zukunft der Demokratie willen müssen wir uns immer wieder neu des ethischen und kulturellen Fundaments der Demokratie als politischer Lebensform der Freiheit vergewissern. Gerade in umkämpften Zeiten, in zersplitterter Kommunikation, angesichts von zunehmender sozialer, kultureller und weltanschaulicher Heterogenität haben wir nach dem „Wir“ der politischen Gemeinschaft zu fragen: Je pluralistischer eine Gesellschaft, je streitiger eine Demokratie ist, umso wichtiger werden fundamentale  Gemeinsamkeiten, umso mehr müssen wir uns darum kümmern, dass die geschwächten gesellschaftlichen Kohäsionskräfte wieder gestärkt werden!

9.)  Die Verteidigung und Stärkung der Demokratie ist deshalb wesentlich auch eine kulturelle Aufgabe. Eine pluralistische und zunehmend heterogener werdende Gesellschaft ist geprägt durch Wert- und Identitäts-Konflikte, also durch Kulturkonflikte. Damit haben wir weniger (positive) Erfahrungen als mit der Austragung von (sozialökonomischen) Interessenskonflikten. In welcher Sprache tragen wir sie aus – zwischen falschem Korrektheitskorsett einerseits und der Sprache der Ausschließung, der Aggressivität, des Hasses andererseits. Darüber müssen wir reden! Wie ermöglichen wir die Erfahrung des Gehörtwerdens (und überwinden das Gefühl, „die da oben wissen nichts von uns, die verstehen uns nicht…“)?

10.) Demokratie ist Streit, ist Debatte. Sie wird schwieriger angesichts von Rechtspopulisten und –Extremisten in den Parlamenten und angesichts der aggressiven Stimmung im Alltag. Wie gelingt ein demokratischer Diskurs in solchen Zeiten und mit wütenden Bürgern und rechtspopulistischen Ideologen? Es geht darum, die richtige Mischung zu finden zwischen Verstehens-Orientierung und Konfrontations­bereitschaft. Beschimpfungen und Stigmatisierungen helfen nicht. Das Gespräch zu führen ist übrigens nicht nur Aufgabe von Politikern, sondern es ist Bürgeraufgabe. Als Demokraten sollten wir immer wieder neu versuchen, „Hermeneuten der Wut“ (Bernhard Pörksen) zu werden.

Zum Schluss. Wir sollten dabei immer auf Unterscheidungen achten: Angst und Hass sind sehr verschiedene Emotionen. Angst überwindet man nicht durch Schulterklopfen oder Beschimpfungen, sondern durch Aufklärung, durch Gespräch, durch Begegnungen, durch gemeinsames Handeln. Hass (gegen Fremde, gegen Ausländer, gegen Juden, gegen Demokraten) haben wir offensiv und selbstbewusst zu begegnen und zu widersprechen. Die Artikulation von Besorgnissen ist etwas gänzlich anderes als Hetze. Demokraten sollten in jedem Fall auf solche Unterscheidungen achten und danach handeln.