Unterschrift Wolfgang Thierse

Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Heft Nr. 11/2020

 
Wolfgang Thierse in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 11/2020

Kultur im deutschen Vereinigungsprozess

Die 30. Jahrestage von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung waren Anlass, sich der glücklichen Wendung unserer deutschen und europäischen Geschichte zu erinnern, also auch zu feiern (so schwer das nicht wenigen in Deutschland auch fallen mag). Und sie waren Anstoß, wieder einmal zu bilanzieren und also auch zu Debatten mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Dabei hätte man schon vor 30 Jahren wissen oder wenigstens ahnen können, dass die deutsche Vereinigung dauern wird. Man hätte wissen können, dass sie nicht nur ein politisch-rechtlicher und ökonomisch-sozialer Prozess sein wird. Man hätte wissen können, dass ihr Gelingen auch eine Geschichte menschlicher Begegnung und Verständigung, der Mentalitätsveränderungen und der zivilgesellschaftlichen Wandlungen, also ein eminent kultureller Prozess sein muss.

Mit der Vereinigung sind wir jedenfalls auch nach drei Jahrzehnten nicht an ein Ende gelangt, auch und gerade mit der kulturellen Vereinigung nicht. Weder sind ökonomisch und sozial alle Aufgaben auf dem Weg zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erledigt – die jährlichen Berichte zum Stand der deutschen Einheit weisen die bleibenden Differenzen aus - noch haben die Verständigungs­schwierigkeiten zwischen Ost und West (und eigentlich auch zwischen Ost und Ost) abgenommen. Aber sind sie auch tatsächlich gewachsen, wie immer mal wieder behauptet wird?

Die friedliche Revolution vor 30 Jahren selbst war eine kulturelle Umwälzung,  zunächst glücklich, dann auch schmerzlich. Sie war unübersehbar geprägt durch den wesentlichen Beitrag von Künstlern – von ihrer Vorgeschichte, über ihren Ablauf bis zu ihren Folgen. Das sollte man nicht vergessen. Neben den Kirchen und den Christen waren es nämlich Kultur und Künstler, die zu den Wegbereitern von 1989 gehörten. Die Opposition, die kritisch-unzufriedenen Bürger versammelten sich in den 80er Jahren und vor allem auch im Jahr 1989 in den Kirchen, bevor sie auf die Straßen und Plätze gingen. Die Kirchen waren Orte der Freiheit im unfreien Land. Dort aber traten die kritischen Künstler auf, deren Auftritte sonst verboten waren. Wie viele Schriftsteller und bildende Künstler, wie viele Untergrundkultur-Akteure fanden in Kirchen und deren Umfeld bis 1989 Platz! Das kritische Potential der Christen und der Künstler wurde in dem Moment umstürzend wirksam, wo beide zusammentrafen – und der Unzufriedenheit und Kritik der Vielen (sowohl der „Ausreiser“ wie der „Dableiber“) Sprache und Stimme gaben.

Und auch dass die Herbstrevolution friedlich wurde und blieb, hatte mit diesen Akteuren zu tun! Mit Kerzen und Gebeten aus den Kirchen tretend, dem Aufruf zur Friedfertigkeit sowohl von Kirchenleuten wie von Künstlern folgend, blieben beide Seiten friedlich. Man denke nur an die Montagsdemonstrationen in Leipzig und den entscheidenden 9. Oktober 1989, zu dem eben der Aufruf des Dirigenten Kurt Masur und des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange u. a. gehörte. Theater wurden zu Orten der Veröffentlichung kritischer Aufrufe, Konzerte bekannter Rock- und Pop-Gruppen wurden Gelegenheiten zu kritischen Debatten und Apellen. Theaterleute riefen zur großen Demonstration vom 4. November am Berliner Alexanderplatz auf. Prominente Autoren ergriffen dort das Wort. Sie hatten in den Jahrzehnten davor politisch-moralische Autorität erworben und erschienen in diesem Augenblick als die Anführer, wenigstens die Wortführer, des geschichtlichen Wandels – und spiegelten auf diese Weise noch einmal (und wohl zum letzten Mal) die außerordentliche Rolle der Kultur, der Künstler, die diese als kritische Gegenöffentlichkeit in der ideologischen Diktatur der DDR auf immer prekäre und durchaus widersprüchliche Weise gespielt hatten.

Mit dem politischen Erfolg der Revolution, die allerdings nicht unbedingt der Intention aller Intellektuellen folgte, mit dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung änderte sich auch für die Kultur und für die Künstler (fast) alles. Von der Planwirtschaft, von der Aufsichts-, Genehmigungs- und Zuteilungskulturpolitik der DDR zum freien Markt, zur offenen (Meinungs-) Konkurrenz – das war ein gravierender Einschnitt. Viele fielen ihm zum Opfer, für die meisten bedeutete er tiefe Karrierebrüche, aber es gab auch Erfolgreiche. Und es gab erbitterten Zwist. Ich erinnere an den deutsch-deutschen Literaturstreit um Christa Wolf, an die quälenden Auseinandersetzungen um die Vereinigung der beiden Berliner Akademien der Künste, an den endlos langen Bilderstreit und andere heftige Debatten voller grobschlächtiger, vernichtender (westlicher) Urteile. Besonders erbittert und verletzend war der Ost-Ost-Streit, vor allem zwischen denen, die die DDR früher verlassen hatten und denen, die in der DDR geblieben waren. Vermutlich waren all diese heftigen Debatten unvermeidlich, wohl nachgeholte, weil in den Zeiten der Spaltung nicht ausgetragene Auseinandersetzungen. Inzwischen aber ist ruhigere, differenziertere Betrachtung möglich, ja sogar Wertschätzung von vielem – wahrlich nicht allem – in der DDR, in den Künsten Geleistetem erlaubt.

Wir sehen und erleben inzwischen ganz selbstverständlich, welch großer Zugewinn die vielfältige (historische) Kulturlandschaft Ostdeutschlands für die Kultur Deutschlands insgesamt bedeutet. Deren Pflege – die Erhaltung der kulturellen Substanz, wie es der Deutsche Einigungsvertrag verlangte – und die Modernisierung der kulturellen Infrastruktur ist Aufgabe von Bundeskulturpolitik geworden, die es erst und dank der Deutschen Vereinigung gibt (als deren nicht schlechteste Folge). Es entspricht durchaus dem Gewicht der Kultur in der Friedlichen Revolution, dass Kultur vom Rand in die Mitte der politischen Agenda gerückt ist und Kulturpolitik größeres gesamtpolitisches Gewicht im gemeinsamen Land erhalten hat. Das gilt bis heute und umso mehr, als weiterwirkende oder neuaufbrechende Ost-West-Differenzen eben nicht nur ökonomisch-sozialer Art sind, sondern ganz wesentlich kultureller Natur: Unterschiede, ja Gegensätze in der Selbstwahrnehmung, im Anerkennungs-Bedürfnis, im Werte-Verständnis.

Das verlangt nach kultureller Bearbeitung, nach kommunikativer Anstrengung, das gehört auf die Bühne, in den Film, in die Literatur – damit allmählich überwunden werden kann, was man vorwurfsvoll die Pflege von Fremdheiten und Vorurteilen nennen kann. Die Friedliche Revolution hat nicht nur die ostdeutsche Welt radikal verändert, sondern Deutschland insgesamt, auch wenn das im Westen zunächst beinahe unmerklich, aber dann doch immer sichtbarer der Fall war. „Bewältigt“ oder „aufgearbeitet“ ist das Ganze noch längst nicht, wie gerade auch der Intellektuellen-Streit um die Bewertung von 89 zeigt: Eine Revolution? Ein Zusammenbruch? Eine Übernahme? Eine verpasste Chance? Anlass zu hadern oder für fortdauernde Glücksgefühle? Stoff(e) immer noch genug für die Künste, für die Künstler.

Inzwischen sehen und erleben wir längst, wie sehr ostdeutsche Akteure die Kultur in Deutschland prägen. Was wären deutsche Literatur, Theater, bildende Kunst oder bildende Künste, Film und Fernsehen, Rock- und Popszene ohne die Ostdeutschen. Da ist – nach den Ab- und Umbrüchen der 90er Jahre – zusammengewachsen, was zusammengehört. Wie hieß es doch im Artikel 35 des Einigungsvertrages: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation“. Kultur war einigendes Band in Zeiten der Teilung, war Vorhof der Friedlichen Revolution, war Akteursraum der Veränderungen. Und ist nun Raum und Modus, in dem die Wert- und Identitäts-Konflikte einer widersprüchlicher, pluralistischer werdenden Gesellschaft ausgetragen werden: Das zu gestalten ist die Herausforderung für Kulturpolitik heute.

Es sind gegenwärtig – also 30 Jahre nach staatlicher Vereinigung und umgreifenden Transformationsprozessen im Osten Deutschlands – eigentümliche und irritierende Widersprüche zu beobachten: Eine große Mehrheit der Ostdeutschen sagt, ihre wirtschaftliche Lage sei gut. Und auch nach objektiven Daten geht es der ostdeutschen Mehrheit materiell deutlich besser als zu DDR-Zeiten. Zugleich und trotzdem empfindet sich eine Mehrheit als Bürger 2. Klasse, artikulieren viele Ostdeutsche Erfahrungen der Nichtanerkennung, Gefühle der Unterlegenheit und Zurücksetzung. Sie betrachten sich als Opfer und Vergessene. Dabei ist über keinen Bevölkerungsteil Deutschlands in den vergangenen Jahrzehnten so viel geschrieben, berichtet, diskutiert worden, wie über die Ostdeutschen! "Die DDR gehört dreißig Jahre nach ihrer Selbstauflösung zu den am gründlichsten erforschten Phänomenen der Zeitgeschichte. Es gibt kaum ein Gebiet, einen Bereich oder einen Gegenstand der Forschung, über den in den letzten drei Jahrzehnten so viel und so umfassend recherchiert, dokumentiert, gesammelt, geschrieben und publiziert worden ist wie über die DDR. Dies betrifft nicht nur ihre politische, ökonomische, soziale und kulturelle Struktur und Verfasstheit, ihre Institutionen und Funktionsweisen, sondern auch ihre Geschichte, ihre Traditionen sowie das Denken und Fühlen der Menschen, ihren Alltag und ihre Lebenswelten.“ Das ist der Befund einer Tagung der Leibniz-Sozietät über die “DDR als kulturhistorisches Phänomen“, die in diesem Jahr stattgefunden hat.

Die Liste der Kino- und Fernsehfilme, der Dokumentationen, der literarischen Werke, der wissenschaftlichen Studien historischer, soziologischer, sozialpsychologischer Provenienz zur DDR und zur Transformationsperiode seit 1990 ist schier endlos. Und speziell für die Kulturlandschaft, die kulturelle Infrastruktur Ost gilt: Die aus dem Einigungsvertrag sich ergebende Verpflichtung des Bundes zu deren Erhalt und Pflege ist eingelöst. Ja, es gab Verluste. So sind etwa die meisten DDR-Verlage verschwunden; von den 76 ostdeutschen Symphonieorchestern haben 24 nicht überlebt; die soziokulturellen Einschnitte sind erheblich, so gibt es z. B. die Kulturhäuser (häufig von den VEB getragen) nicht mehr; nicht alle Fusionen von Theatern und Orchestern sind geglückt. Aber insgesamt hat das „Substanzerhaltungsprogramm“ des Bundes (für die Jahre 1991-1993 immerhin mit 1,5 Mrd. an Bundesmitteln ausgestattet) und eine ganze Reihe weiterer Fördermaßnahmen doch gewirkt: Die kulturelle Infrastruktur Ostdeutschlands dürfte reicher und vielfältiger sein als in anderen europäischen Ländern und auch als in Westdeutschland!

Ökonomisch, sozial und auch kulturell ist viel geleistet worden, aber ein Ende der Debatte über Ost-West-Differenzen ist nicht in Sicht. Steffen Mau, einer der soziologischen Erforscher ostdeutschen Empfindens sagt: „Ist der Osten, ist die deutsche Einheit ausdiskutiert? In der Menge vielleicht schon, in der Sache aber nicht“. Und wir erleben das ja gerade: Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregung. Regelmäßig – zumal nach Landtagswahlen wie im Herbst 2019 und den Erfolgen der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Zuletzt erregte wieder die Klage Aufmerksamkeit, Ostdeutschland würde von einer westdeutschen Elite beherrscht und Ostdeutsche hätten in den vergangenen 30 Jahren kaum Führungschancen gehabt (als habe es die Ossis Gauck, Merkel, Thierse in höchsten Staatsämtern nicht gegeben). Von „kulturellem Kolonialismus“ wird gesprochen. Vom Osten als abgehängter Region ist die Rede, von Demütigungen und Missachtung.

Die Klage über die Besetzung nahezu aller Führungspositionen im Osten durch Westdeutsche ist zu einem festen Topos des aktuellen Diskurses über Ostdeutschland geworden: Das Fehlen einer eigenen ostdeutschen Elite, der Mangel an ostdeutschen Führungspersönlichkeiten in den Chefetagen erzeuge eine Artikulations- und Diskursschwäche des Ostens. Wer will das bestreiten, auch wenn man einwenden kann, dass nach der Vereinigung die ostdeutsche Sache vernünftigerweise nicht mehr nur Sache der Ostdeutschen sein konnte und sein sollte. Schließlich haben wir die Mauer nicht eingedrückt, um als Ossis unter uns zu bleiben!

Der zutreffende Befund und erst recht die Klage darüber bestätigen aber meinen Ärger über die Unfähigkeit und den Unwillen vieler Ostdeutscher zu positiver Selbstwahrnehmung. Dabei haben wir Ostdeutsche doch wirklich Anlass, mit Selbstbewusstsein auf die friedliche Revolution und die Bewältigung einer dramatischen und schmerzlichen Transformation zu blicken. Das ist eine große soziale, kulturelle und menschliche Leistung! Wir haben einen Erfahrungsschatz gewonnen, der für die zukünftigen, vermutlich nicht weniger dramatischen Veränderungsprozesse von Vorteil sein könnte, sein sollte. Daraus wünsche ich mir mehr Ermutigung und Ermunterung für uns Ostdeutsche. Einen selbstbewusst freundlichen Rückblick halte ich jedenfalls für produktiver, als das ständig neu angestimmte Klagelied über Benachteiligung, Kolonisierung und Unterdrückung der Ostdeutschen! Und ich wünsche mir natürlich auch, dass die Ostdeutschen jede mögliche Chance nutzen, dieses Selbstbewusstsein zu artikulieren und zu praktizieren.

Eine unüberhörbare Missmutsgemeinschaft Ost aber, der von der AfD betriebene Verbitterungspopulismus, die fatalen DDR-Gleichsetzungen (DDR 2.0., Stasi-Methoden, staatshörige Medien…) – all das zeigt auch, wie viel unbearbeitete DDR-Vergangenheiten und schmerzliche Transformationserfahrungen nach wie vor virulent sind und wie sehr Ossiland emotional und kulturell zerstritten und gespalten ist. Offensichtlich ist die DDR-Vergangenheit noch längst nicht ausgestanden, obwohl sie doch seit 30 Jahren Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung und breit gestreuter kultureller Auseinandersetzung ist. Wir sind mit ihr noch nicht am Ende trotz der zahllosen Dokumentationen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen, trotz der zahllosen Kino- und Fernsehfilme, Romane und Erzählungen, Begegnungen und Gespräche.

Eine selbstkritisch–selbstbewusste Debatte bleibt notwendig und muss neu geführt werden! Damit die Ostdeutschen  nicht mehr das Gefühl (und vielleicht die Ausrede) haben, es werde über sie, aber ohne sie geredet. Damit sie tatsächlich selbst zu Wort kommen und auch selbst das Empfinden haben, zu Wort zu kommen. Allerdings sollte es eine vielstimmige Diskussion sein, in der nicht nur die zu Wort kommen, die ihre Ressentiments artikulieren und bestätigt sehen wollen. Eine Diskussion auch nicht nur unter Ostdeutschen. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Erfahrungen vor und nach 89 sollten zu Wort kommen und ebenso verschiedene Perspektiven: Nicht so sehr der Opferdiskurs, nicht vor allem identitätspolitische Selbstbehauptung, sondern der Streit um die Bewertung von Erinnertem, von Erfolgen und Fehlern sollte im Zentrum der Debatte stehen. Ein Gespräch also auch zwischen den Generationen, zwischen den Erfolgreichen und Erfolglosen – mit dem Ziel, die Hoffnungen, Illusionen, Enttäuschungen zur Sprache zu bringen und zu bearbeiten. Und vielleicht sogar die – verständliche – Sehnsucht nach dem (früheren) Zusammenhalt in der Notgemeinschaft DDR nicht zu lähmender Nostalgie werden zu lassen.  Das ist eine enorme, eben vor allem kulturelle Aufgabe. Gerade für Ostdeutschland, wo die massenhafte, persönliche und familiäre Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bisher eher ausgeblieben ist, wo eine Mehrheit zwischen trotziger Verteidigung der eigenen Biografie, dem Nachtrauern über verpasste Chancen und sehr sehr viel Sprachlosigkeit schwankt.

Es gibt viel Diskussionsstoff:

  • Zu reden, endlich und aufrichtig und kontrovers, wäre über eine weiterwirkende tiefe autoritäre Prägung aus dem „vormundschaftlichen Staat DDR“ (Rolf Henrich), in dem die Entfaltung selbstbewusster Bürgerschaftlichkeit kaum möglich war: Umso erstaunlicher, uns auch selbst überraschend, war der demokratische Ausbruch 1989 und ist der enttäuschende Rückfall danach.
  • Zu reden wäre über die unbewältigte Nazi-Erbschaft: Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus waren Realitäten in der DDR, die einfach unter den Teppich gekehrt wurden.
  • Zu reden wäre über die zähen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplexe: Wir Ostdeutsche haben ja immer mit dem Blick nach Westen gelebt und uns deshalb als den schwächeren, weniger erfolgreichen Teil Deutschlands empfunden. Der westdeutsche Maßstab wirkt bis heute nach bei allen Debatten über den Stand der deutschen Einheit.
  • Zu reden wäre auch über eine sowohl modische, wie doch auch erklärliche Kritik am deutschen Einigungsprozess und den Wunsch nach einer ganz anderen Einheit: Da hilft nur ein schmerzlich-nüchterner Rückblick auf die Alternativen damals, auf die Ungeduld der DDR-Bürger 1990, auf die patriarchale Prägung des Einigungsprozesses durch Helmut Kohl, auf das Übermaß an Versprechungen und an Glaubenwollen und die ihnen folgenden Enttäuschungen, auf den unvermeidlichen Elitenwechsel und die damit verbundenen Schmerzen und Demütigungen.

Ich glaube nicht, dass dabei kontrafaktische Überlegungen hilfreich sind, „die allein die vertanen Chancen der Vergangenheit betreffen und damit heute politisch ins Leere gehen“ (Jürgen Habermas). Die nachgetragenen Ressentiments gegenüber dem historischen Gang von friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung (wie sie zuletzt z. B. von Klaus Wolfram und Thomas Oberender – auf die sich Habermas bezieht – vorgetragen wurden) eröffnen keine wirklichen Zukunftsperspektiven.

Denn zu verhandeln ist insgesamt nicht nur eine ostdeutsche Problematik. Die radikalen Veränderungsprozesse, die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen durch die Globalisierung, die Migrationsschübe, die Veränderung der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die ökologische Bedrohung, die zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle-religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, die Ängstigungen durch eine „Welt in Unordung“ und zuletzt die Corona-Pandemie:  Das alles verstärkt auf offensichtlich dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Sicherheiten, nach Identität und Beheimatung. Diese umgreifenden Herausforderungen machen keinen Unterschied zwischen Ost und West (so wenig wie das Virus dies tut). Allerdings treffen sie auf eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten -  nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.

Die Nachahmungsphase, die Phase der Adaption an den Westen sollte und könnte für Ostdeutschland nach 30 Jahren endgültig zu Ende sein. Wir sind im gemeinsamen Land mit den gemeinsamen Problemen der Bewältigung der Globalisierung, der digitalen Transformation, der ökologischen Herausforderung, der kulturellen Pluralisierung. Sich darüber zu verständigen, was Beiträge zu deren Lösung aus der ostdeutschen Vergangenheits- und Umbruchserfahrung sein könnten, darüber nach vorn zu debattieren, das wäre endlich an der Zeit. Das könnte und sollte produktiv sein und Missmut und Verbitterung überwinden helfen. Und darin besteht die eigentliche kulturelle Herausforderung für Ostdeutschland, für die Ostdeutschen!