Unterschrift Wolfgang Thierse

Februar 2022

 
Februar 2022

Beitrag von Wolfgang Thierse in Herder Korrespondenz

Zur Diskussion um die Identitätspolitik

"Wider das Gegeneinander von Betroffenheiten"
Die sogenannte „cancel culture“ und verabsolutierte Identitätsdebatten gefährden den
Zusammenhalt der Gesellschaft. Es braucht die Suche nach Gemeinsamkeit, nicht nur die
Anerkenntnis von Verschiedenheit. Nach einem Jahr Debatte, auch den Polarisierungen in
der katholischen Kirche, bin ich weiterhin sehr besorgt. VON WOLFGANG THIERSE


Vor einem Jahr, im Februar 2021, habe ich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen Essay veröffentlicht, dem die Redaktion den Titel gegeben hat: „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ Untertitel: „Identitätspolitik darf nicht zum Grabenkampf werden, der den Gemeinsinn zerstört: Wir brauchen eine neue Solidarität.“ Diesem Text vorausgegangen war ein ausführliches Interview für die Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“(deren Mitherausgeber ich bin), unter der Überschrift abgedruckt:„Es gilt die Balance zu halten. Über falsche Radikalisierungen und verfehlte Feindbilder im Kampf um Anerkennung“. 

Dieser Titel gibt sehr genau die Intention meiner Intervention wieder. Niemals zuvor eine solche Fülle an teils heftigen Reaktionen erlebt. Das Echo auf meinen Essay war erstaunlich. In den 30 Jahren meiner öffentlichen Existenz, meines politischen Wirkens habe ich niemals zuvor eine solche Fülle an teils heftigen Reaktionen erlebt. Über tausend Mails, Briefe, Anrufe haben mich erreicht. Noch viele Monate später werde ich auf meine Stellungnahme angesprochen. Die Einladungen zu Interviews, Diskussionen und Vorträgen zum Thema haben mich das ganze Jahr beschäftigt. Gewiss ist die Wahrnehmung und Wirkung meines Textes dadurch befördert worden, dass eine Vorsitzende und einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Partei, der ich angehöre, meinten, sich von meinen „rückwärtsgewandten Ansichten“ distanzieren zu müssen. Was ich mir nicht gefallen lassen wollte und was auch vielfach sehr kräftigen Widerspruch aus der Partei erfahren hat. Aber es ging nicht um einen SPD-Streit, der übrigens auch längst – durch Entschuldigung – beigelegt ist. Denn  offensichtlich habe ich auf einen Nerv getreten, denn die Reaktionen auf meinen Text haben dessen Intention, also die Aufforderung zur Mäßigung im Streit, auf grelle Weise bestätigt. Auf der einen Seite war ein heftiger Shitstorm zu erleben, wohl vor allem zunächst angefeuert von Funktionären der Schwulen-Community, mit den Vorwürfen: Ich sei homophob, minderheitenfeindlich, sei ein arroganter alter weißer Mann, bediene mich AfD-Sprechs, sei ein Rassist, ein latent faschistischer Reaktionär …

Nun ja, denkt man, zum Glück muss ich das nicht alles wirklich zur Kenntnis nehmen, muss mich nicht in den Social Media tummeln. Betroffener wird man, wenn man in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen kann, mein Text sei ein „Manifest weißer Fragilität“. Oder mir (wegen der Verwendung des kleinen Wörtchens „normal“ in einem Interview) im Berliner „Tagesspiegel“ eine Nähe zu autoritärem, ja faschistischem Denken bescheinigt wird. (Was übrigens zu Leserprotesten und Abonnements-Kündigungen geführt hat.) Und von rechts außen kam hämischer Spott über meine Inkonsequenz und Feigheit. 

Auf der anderen Seite habe ich ein geradezu überwältigendes Ausmaß an Zustimmung erlebt: vielhundertfach positive Äußerungen aus dem ganzen sozialen Spektrum – vom prominenten Professor bis zum einfachen Arbeiter, von Männern und Frauen verschiedensten Alters, verschiedener sexueller Orientierung (auch Schwule also), verschiedener Parteizugehörigkeit, auch vielfach aus den Kirchen. Und auch von Journalisten, die sich beklagten über eine aggressiver gewordene Atmosphäre und über Sprachverordnungen in Redaktionen. Warum ist das Wort „normal“ inzwischen vergiftet? Lob und Zuspruch erfreuen natürlich. Aber: Es hat mich doch sehr irritiert, wie viele Menschen sich bei mir bedankt haben für meinen Mut (den ich beim Verfassen des Textes nicht einen Moment lang empfunden habe). Dank für den Mut, etwas auszusprechen, was viele besorgt und bedrängt und sie nicht (mehr) auszusprechen wagen, wie sie mir schreiben. Das bezieht sich in vielen Mails und Briefen auf eine aggressiver gewordene Stimmung, auf Sprachverbote, auf mangelnde Wahrnehmung von „normalem“ arbeitsamem Leben, auf mangelnde Anerkennung „normaler“ Biografien. (Inzwischen habe ich erfahren müssen, dass das Wörtchen „normal“ vergiftet ist, seine Verwendung sofort schlimme ideologische Verdächtigung auslöst. Dabei erleben wir doch gerade in Corona-Zeiten, wie groß die Sehnsucht ist, wieder wie ein normaler Mensch leben zu können, die alte Normalität wieder erleben zu dürfen!) 

Die Zuschriften vermittelten mir eine Stimmungslage, die durch Umfragen, beispielsweise von Allensbach, bestätigt wurden: Fast die Hälfte der Befragten war der Auffassung, man könne seine Meinung nicht mehr frei sagen. Das halte ich für einen beunruhigendenBefund, gerade weil ich der Überzeugung bin, dass dies eine irrige Auffassung ist.

Ein weiteres Umfrageergebnis unterstützt den Eindruck aus der Post an mich: Eine deutliche Mehrheit lehnt „gendergerechte Sprache“ ab und klagt über sprachliche Tabuisierungen und Verbote. Das bestätigt meine Beobachtung einer zunehmenden sprachlichen Spaltung unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite diejenigen, vor allem in Universitäten und Redaktionen, die sich einer gender- und rassismussensiblen Sprache befleißigen – auf der anderen Seite das gewöhnliche Volk, das weiter so quatscht wie gewohnt und sich „von oben“ belehrt und bedrängt fühlt. Das ist eine sprachliche Entfremdung, die wohl nicht zu mehr sozialer Gemeinsamkeit führen dürfte! In den vergangenen Monaten ist die Debatte, von der mein Text nur ein Teil, vielleicht ein Verstärker war, weitergegangen, haben sich die Streitfronten verzweigt, ist das Feld der Auseinandersetzungen noch unübersichtlicher geworden. Die Berichte über das kommunikative Klima an den geisteswissenschaftlichen Ressorts der Universitäten vermitteln ein Bild härterer Konfrontationen. Die einen sprechen von einer sich verstärkenden „cancel culture“, die anderen bestreiten, dass es diese hierzulande überhaupt gäbe. Ein „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ hat sich gegründet. In Medien, in Verlagen übt man sich in immer neuer „Achtsamkeit“, Manuskripte werden auf ihre „Wokeness-Kompatibilität“ überprüft. Museen reinigen ihre Kunstwerke von ihren historischen, aber heute womöglich verletzenden Titeln. Gewiss bleibt die sehr deutliche Unterscheidung zwischen Identitätspolitik von rechts und von links notwendig und wichtig. Insgesamt aber beunruhigen mich die Schärfen und Ideologisierungen in den Auseinandersetzungen, die zu falschen Frontstellungen führen, zu einem Kulturkampf-Klima. So war zu lesen: „Weiß sein ist der Kern des Rassismus.“ Oder: „Rassismus gehört zur DNA unserer Gesellschaft.“ Oder „Normalität ist die cancel culture des alten weißen Mannes.“

Solcherart immer heftiger vorgetragener Thesen charakterisieren ein Klima, in dem Herkunft, Hautfarbe, Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierungen Schuldvermutungen begründen können; in dem wer etwas und aus welcher Betroffenheit sagt, entscheidend wird und weniger das, was jemand sagt und worauf man sich im Streit und nach dem Streit vernünftigerweise verständigen kann. Es geht ja in den identitätspolitischen Auseinandersetzungen immer auch um die sehr grundsätzliche Frage: Was hält eine diverse Gesellschaft zusammen? Was verbindet sie? Wie ist die Kommunikation einer vielfältigen Gesellschaft so möglich, dass sie verbindet und nicht entzweit? Ist schon der Streit, der Konflikt selbst das Verbindende, wie Befürworter identitätspolitscher Zuspitzungen sagen? Ist Identitätspolitik ein notwendiges Mobilisierungsinstrument zum Zweck der Disruption, der Konfliktzuspitzung, der Sichtbarmachung von Ungleichheiten mitdem Ziel von deren Überwindung?

So wurde mir jedenfalls in Diskussionen entgegengehalten. Eine strategische Essenzialisierung von Identitätsunterschieden sei eben (übergangsweise) notwendig und richte sich nicht gegen den Universalismus der Aufklärung, sondernziele auf Wahrnehmung, Anerkennung, Überwindung von Benachteiligung, Diskriminierung,  Unterrepräsentation. Veränderungen für Minderheiten brauchen Mehrheiten Identitätspolitik ist ja wirklich nicht gänzlich neu, jedenfalls sofern sie entschiedene Interessen- und Anerkennungspolitik ist. Das gilt zum Beispiel für die Arbeiterbewegung, aus deren Erfolgsgeschichte zu lernen wäre. Diese ist aber eine Geschichte von Reformen, des Gewinnens demokratischer Mehrheiten für die eigenen Ziele und deren Verwirklichung. Und genau das ist auch meine schlichte Lebenserfahrung: je frontaler der Angriff auf eine Person, ein Kollektiv, je aggressiver und totaler die Kritik – umso stärker die Abwehr, selbstkritischer Reflexion und Korrektur! Und meine einfache politische Erfahrung besagt: Wer in einer Demokratie etwas für Minderheiten erreichen will, wer etwas verändern will, der muss dafür Mehrheiten gewinnen! Die Mühsal von Verständigungs- und Veränderungsprozessen abkürzen zu wollen, dieser Wunsch mag verständlich sein, aber er muss nicht zum Erfolg führen. Es gilt immer neu die Balance zu finden, weil beides notwendig ist: der energische Einsatz für die Anerkennung und Verwirklichung der jeweils eigenen Identität, der individuellen-und Gruppeninteressen – und ebenso die Bereitschaft und Fähigkeit, das Eigene in Bezug auf das Gemeinsame, auf das Gemeinwohl zu denken und zu praktizieren, also auch das Eigene zu relativieren. In der Politikwissenschaft, so habe ich gelesen, gibt es die Unterscheidung zwischen demokratisierender und demokratiegefährdender Polarisierung. Das ist eine Unterscheidung, die ich für hilfreich halte. Welcher Art sind die akuten identitätspolitischen, also wesentlich kulturellen Konflikte und wie tragen wir sie so aus, dass sie nicht demokratiegefährdend sind?

Wir haben Erfahrungen mit dem Austragen und Lösen sozioökonomischer Verteilungskonflikte, das Modell sind Tarifkonflikte: In ihnen geht es nicht um alles oder nichts, sondern um mehr oder weniger. Kompromisse sind möglich. Das schafft Vertrauen in die Regeln und die Konfliktpartner. Wie aber ist das bei kulturellen Konflikten? Wie tragen wir die aus und zu welchen Lösungen können wir sie bringen? Stimmt die Beobachtung, es gehe bei kulturellen Konflikten immer ums Ganze, um wahr oder unwahr, um Wahrheit oder Lüge, um Anerkennung oder Nichtanerkennung, um Betroffenheit gegen (Nicht-)Betroffenheit, eben um Identität gegen Identität? In ihnen würden grundsätzliche und aus Sicht der jeweils Betroffenen unverhandelbare, weil moralisch absolute Werte verhandelt. Der ihnen inhärente Purismus erlaube weder relative Positionen noch Kompromisse. Deshalb die Tabuisierung von bestimmten Worten, deshalb sprachliche Verordnungen, deshalb Tilgung von Geschichte, deshalb Radikalität von politisch-moralischen Verdächtigungen, deshalb die Zunahme von Verfeindungen und deshalb insgesamt die extreme Moralisierung der Auseinandersetzung. Nach einem Jahr, nach ganz viel Lektüre, nach vielen unfreiwilligen Beobachtungen und erhitzten Diskussionen sind meine Fragen nicht geringer und meine Besorgnisse eher größer geworden. 

Meine grundsätzliche Überzeugung aber ist die gleiche geblieben: Wenn Vielfalt, Diversität, Pluralität friedlich und produktiv gelebt werden sollen, dann müssen sie mehr sein als das bloße Nebeneinander sich voneinander nicht nur unterscheidender, sondern auch abgrenzender Identitäten und Minderheiten. Vielfalt erzeugt nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit. Es bedarf vielmehr grundlegender Gemeinsamkeiten, zu denen zuerst und selbstverständlich die gemeinsame Sprache gehört, so dann natürlich auch die Anerkennung von Recht und Gesetz. 

Darüber hinaus aber muss es die immer neue Verständigung darüber geben, was uns als Verschiedene miteinander verbindet, was verbindlich ist in den Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz, also in den unsere liberale, offene Gesellschaft tragenden Werten – und ebenso auch in den geschichtlich geprägten kulturellen und sittlichen Normen, Erinnerungen, Traditionen. Solcherart definierte kulturelle Identität ist das Gegenteil von dem, worauf Identitätspolitik von rechts und gelegentlich auch von links zielt. Der unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein ist nicht alles. Er muss eingebettet sein in die Anerkennung von Regeln und Verbindlichkeiten auch von Mehrheitsentscheidungen und auch des Respekts. Sonst ist der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet oder wird gar zerstört durch radikale Meinungsbiotope, tiefe Wahrnehmungsspaltungen und eben auch konkurrierende Identitätsgruppenansprüche. 

Wir erleben das gerade in dieser Pandemiezeit auf besonders drastische Weise. Weil der Zusammenhalt in einer diversen, sozial und kulturell fragmentierten Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich ist, muss dieser Zusammenhalt ausdrücklich das Ziel von demokratischer Politik und eben auch und gerade von kulturellen und kommunikativen Anstrengungen sein. Demokratie bedeutet, so habe ich bei einer identitätspolitischen Aktivistin gelesen, dass wir mehr streiten, weil wir mehr Leute sind, die gehört werden wollen. Aber, so meine Sorge, sind es noch genug Leute, die bereit sind zuzuhören? Gibt es noch genug Leute, die zuhören wollen? Trifft dies alles auch auf die (katholische) Kirche zu? Durchaus, denn im notwendigen Streit um Reformen, also um notwendige Veränderungen gilt es sich immer wieder neu des Gemeinsamen zu versichern, des tragenden Fundaments. Wobei auch für die Kirche gelten sollte: Nicht wer etwas sagt, darf entscheidend sein, nicht das Gegeneinander von Betroffenheiten,sondern die Überzeugungskraft, die Begründungsstärke des Arguments. Debattenprozesse, also Synodale Wege haben zwingend eine antihierarchische Tendenz. Aber auch hier sollte man wissen: je frontaler ein Angriff, je aggressiver die Kritik, – umso geringer die Chance und Bereitschaft zu selbstkritischer Reflexion und Korrektur. Das kirchliche Wir verlangt wechselseitige aufmerksame Zuhörbereitschaft und schmerzend-geduldige Erklärund Lernbereitschaft. Sonst bleibt es nicht bei der einen, gemeinsamen Kirche. Die Geschichte der Kirchenspaltungen war schließlich auch eine quälende und vielleicht lehrreiche Abfolge von identitätspolitischen Auseinandersetzungen über Jahrhunderte! ■