Unterschrift Wolfgang Thierse

DLF-75 Jahre Ende 2. WK

 
8. Mai 2020

Interview im DLF: „Die Deutschen bedurften der Niederlage, um frei zu sein“

Anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges sprach Wolfgang Thierse mit Jörg Münchenberg vom Deutschlandfunk. Das Interview kann auf der Internetseite des Deutschlandfunk gelesen und auch gehört werden.

Hier ist es im Wortlaut zu lesen:

Jörg Münchenberg: Herr Thierse, wie schwer wiegt aus Ihrer Sicht die Tatsache, dass dieser 75. Jahrestag nicht so begangen werden kann, wie man ihn ursprünglich geplant hatte, dass die Gedenkveranstaltung doch wegen Corona deutlich kleiner ausfallen muss?

Wolfgang Thierse: Das wiegt schon schwer, denn der 75. Jahrestag ist wahrscheinlich das letzte rundere Jubiläum, wenn man das so nennen darf, an dem noch Betroffene, Zeitzeugen, Menschen, die damals schon gelebt haben, die damals gekämpft haben, die damals Opfer waren, dabei sein können. Und es ist schon wichtig, dass auch Deutschland öffentlich und demonstrativ und ausdrücklich diesen Tag begeht.

Münchenberg: Nun könnte ja auch ein neuer Feiertag helfen, dass man den 8. Mai offiziell zum Gedenktag erklärt. Das fordern ja Linkspartei, aber auch die Grünen. Wie sehen Sie das?

Thierse: Ich denke, es sollte ein Gedenktag sein, auch ein Feiertag, aber es wird ein Feiertag sein, der ambivalent ist, an dem wir uns an die bittere Seite dieser Geschichte, aber auch an den Prozess, an den Tag der Befreiung erinnern.

Wenn man sich einmal vorstellt, was ich gelegentlich tue, wie sähe dieses Land aus und dieser Kontinent, wenn die Nazi-Wehrmacht diesen Krieg gewonnen hätte – ein entsetzlicher Gedanke. Was wären wir eine entmenschte Gesellschaft, ein unfreies Land, ein unfreier Kontinent. Schon dieser Gedanke zeigt, dass dies ein wirklicher Tag der Befreiung war, aber es ist trotzdem eine bittere Erinnerung für uns Deutschen, denn wir müssen uns daran erinnern, dass wir Deutschen nicht selbst in der Lage waren, uns von dieser verbrecherischen Diktatur befreien zu können, sondern dass es der totalen militärischen Niederlage bedurfte. Wir erinnern uns deswegen auch an eine moralische Katastrophe und das ist die bittere Seite dieses Tages, der ein Tag der Befreiung war, aber auch der Tag, an dem die Deutschen sich erinnern, dass sie selber der Niederlage bedurften, um wieder frei zu sein, um einen neuen Anfang zu beginnen.

Münchenberg: Warum tut sich die Politik trotzdem dann so schwer, diesen 8. Mai offiziell auch zum Feier-, zum Gedenktag zu erklären?

Thierse: Genau wegen dieses Zusammenhangs, dass die Bitterkeit, die Totalität der Niederlage die Voraussetzung war für den Neuanfang, für Frieden und für die Befreiung. In dieser Ambivalenz – das sind solche deutschen Tage; der 9. November ist auch ein solcher deutscher Schicksalstag, an dem wir uns an entsetzliche Ereignisse der Geschichte erinnern und an ein glückliches Ereignis, nämlich die Überwindung der Mauer. Das macht den Umgang mit solchen Feiertagen schwer. Trotzdem bin ich dafür. Es ist ein Feiertag, aber es ist immer auch ein Gedenktag. Das ist ja vielleicht der vernünftige Sinn von Feiertagen, nicht nur, dass wir hemmungslos jubeln über die Befreier, die Sieger. Wir müssen uns an die bittere Seite dieses Tages erinnern.

Münchenberg: Nun war ja der 8. Mai auch schon in der DDR als Tag der Befreiung ein Feiertag. Ist das manchmal auch vielleicht ein Grund, dass manche sagen, Deutschland könne jetzt nicht an eine DDR-Tradition anknüpfen?

Thierse: Das mag so sein. Es gibt ja ohnehin, ich glaube, einen Ost-West-Unterschied in Bezug auf diesen Tag. Er war in der DDR, wenn ich mich richtig erinnere, bis 1967 ein gesetzlicher Feiertag. Dann war er nur noch ein Gedenktag. Ich glaube, dass die Ostdeutschen eine intensivere Erinnerung haben, ein anderes Verhältnis zu diesem 8. Mai, weil wir doch ein etwas anderes Verhältnis auch zu den Russen, den Ukrainern, unseren östlichen Nachbarn haben – nicht, weil wir das Sowjetsystem so gemocht haben; im Gegenteil! Aber es gehörte zu unserem Leben. Wenn ich mich daran erinnere, dass wir großen Respekt hatten vor den Opfern unserer Nachbarn, den riesigen Opfern, denn das gehört zur Wahrheit. Die größten menschlichen Opfer hat die Sowjetunion gebracht, die Sowjetunion, die Ukraine, Belarus. Da sind die meisten Toten.

Münchenberg: Herr Thierse, der damalige Bundespräsident von Weizsäcker hat ja von einem Tag der Befreiung gesprochen. Das war 1985. Das hat damals ja noch für viele Irritationen gesorgt. Aber jetzt im Rückblick: Diese damalige Neueinordnung, wie wichtig war die für die deutsche Erinnerungskultur?

Thierse: Sie war zunächst einmal besonders wichtig für die westdeutsche Erinnerungskultur, denn in Ostdeutschland galt dieser Tag schon immer als Tag der Befreiung. Das war natürlich zunächst einmal von oben dekretiert, aber nach und nach auch von der eigenen Bevölkerung angenommen. Im Westen Deutschlands dauerte das länger, weil dort die Kontinuitäten, die personellen Kontinuitäten mit dem Nazi-Reich anders waren als in der DDR. Aber das Dilemma war immer: Im Osten bekam der Antifaschismus Züge des Autoritären, des von oben Verordneten, und im Westen Deutschlands musste er mühselig über Jahrzehnte hin erarbeitet werden. Ein Ergebnis dieser mühseligen inneren Erarbeitung war dann diese berühmte und gute und große Rede von Richard von Weizsäcker.

Münchenberg: Nun sagen manche Kritiker, Befreiung, das klinge auch danach, da sei irgendwas über Deutschland einfach selbstverschuldet gekommen. Dabei haben ja viele das Regime mitgetragen, haben weggeschaut. Ist der Begriff nicht doch manchmal ein wenig ungenau?

Thierse: Welchen historischen Begriff gibt es, der ganz genau wäre und unumstritten wäre. – Aber ich sage es noch einmal: Es bedurfte der entsetzlichen, der totalen Niederlage, dass Deutschland von diesem Nazi-Regime, von diesem verbrecherischen Regime befreit wurde. Es war dazu selber nicht in der Lage. Trotzdem bleibt es eine Befreiung von einer entsetzlichen, grausamen Diktatur. Aber wie gesagt, unter großen Opfern.

Münchenberg: Herr Thierse, hören Sie mich noch? Da haben wir leider ein Leitungsproblem. Herr Thierse, können Sie mich hören?

Thierse: Ich kann Sie hören.

Münchenberg: Wunderbar. – Wir haben gerade noch mal über den Begriff der Befreiung gesprochen. Ich will noch mal auf die deutsche Erinnerungskultur zu sprechen kommen. Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hat einen provokanten Titel für ihr Buch gewählt: „Von den Deutschen lernen“. Deutschland habe sich letztlich seiner NS-Vergangenheit gestellt und seine historische Schuld anerkannt. Ist die deutsche Aufarbeitungsgeschichte auch eine Erfolgsgeschichte?

Thierse: Das Wort Erfolg fällt einem schwerer, aber dass wir Deutschen gewiss auch unter Qualen und in mühseligen Schritten uns dieser Geschichte wirklich gestellt haben, das glaube ich – bis hin zum Holocaust-Denkmal im Zentrum der Hauptstadt der Deutschen. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass man im Zentrum der eigenen Hauptstadt sich an die schlimmste Tat der eigenen Geschichte erinnert.

Wir müssen nicht ganz stolz darauf sein, aber wir können doch sagen, diese Geschichte ist angenommen von den Deutschen, auch wenn es immer noch Leute à la Gauland gibt, die von einem Vogelschiss reden. Nein, ich glaube, die Mehrheit der Deutschen weiß, dass die Bundesrepublik Deutschland, dass unsere Freiheit und unsere Demokratie auf den Ruinen einer entsetzlichen Verbrechensdiktatur steht, und dass es gewissermaßen zu den moralisch-politischen Grundfesten unserer Republik gehört das „nie wieder“. Deswegen ist die Erinnerung an 1945, an die Nazi-Diktatur und an die Verbrechen eine moralische Verpflichtung, eine politische Verpflichtung in der Gegenwart: Einsatz für Humanität, Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Das ist die Lehre aus 1945.

Münchenberg: Sie haben den Fraktionschef der AfD, Alexander Gauland, gerade schon angesprochen. Der hat ja vom „Fliegenschiss der Geschichte“ gesprochen, hat auch gesagt, der 8. Mai, das sei ein Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten für Deutschland gewesen. Gibt es nicht auch trotzdem in Deutschland Tendenzen, Geschichte zu relativieren? Die AfD bekommt ja teilweise auch gerade in Ostdeutschland Zustimmungsraten von 20, 25 Prozent.

Thierse: Ja, das ist so. Das dürfen wir auch nicht übersehen. Wobei mich die Bemerkung, Deutschland hat Gestaltungsmöglichkeiten verloren, wirklich irritiert. Welche Gestaltungsmöglichkeiten hätte Deutschland unter Hitler weiterhin gehabt? Es ist doch großartig, dass dieses Hitler-Deutschland keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr hatte, seine Mordfeldzüge nicht fortsetzen konnte, seine Diktatur nicht über den ganzen Kontinent ausbreiten konnte. Das waren die Gestaltungsmöglichkeiten, die damals verloren gegangen sind. Gott sei Dank ist das so.

Aber im Übrigen haben Sie recht. Die geschichtlichen Ereignisse müssen in Erinnerung, müssen lebendig bleiben, damit die Gefahr des Rechtsextremismus, die Sehnsucht nach einem totalitären, einem homogenen, einem rassereinen Deutschland nicht etwa zunimmt, angesichts von Irritationen, Problemen, Konflikten, Verlusten in der Gegenwart.

Münchenberg: Ihr Eindruck: Ist der politische Widerspruch gegen solche Aussagen groß genug?

Thierse: Ich denke, die große Mehrheit der Deutschen ist darin wirklich entschieden und eindeutig, und unsere Politiker und die Intellektuellen sind auch darin eindeutig. Aber wie gesagt, es bleibt eine Aufgabe, eine bleibende Aufgabe, die Erinnerung zu pflegen. Deswegen wäre ein Feier- und Gedenktag auch wichtig, die Erinnerung zu pflegen: Was war das für ein Regime? Mit welchen Verbrechen waren sie verbunden? Was sind die Mittel dagegen? Freiheit und Demokratie und alltägliche Humanität.