Unterschrift Wolfgang Thierse

Beitrag in der FAZ

 
11. April 2016

"Mehr kulturelles Selbstbewusstsein wagen!" - Ein Beitrag von Wolfgang Thierse in der Integrationsdebatte

Der folgende Text ist unter der Überschrift „Das Fremde und das Eigene“ in um den letzten Absatz gekürzter Form in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 11. April 2016 veröffentlicht.

 

 

Mehr kulturelles Selbstbewusstsein wagen!

 

25 Jahre ist das erst her: Die friedliche Revolution, die Überwindung des Ost-West-Systemkonflikts, die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Und wir erleben schon wieder eine neue, dramatische Wendung der Geschichte. Hunderttausende Flüchtlinge stürmen nach Europa, nach Deutschland – eine Bewegung, die vermutlich anhalten wird und die manche von einer neuen Völkerwanderung sprechen lässt. Sie trifft auf ein verunsichertes, zerstrittenes Europa, Deutschland darin eingeschlossen. Keiner weiß genau, welche Veränderungen diese Entwicklung bewirken wird, vermutlich aber werden die Wirkungen der nun nicht mehr leugbaren Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, viel folgenreicher sein als die der Wiedervereinigung.

 

Wir erleben jedenfalls, wie sich die politische Tagesordnung heftig verändert hat – durch die Hunderttausende die zu uns flüchten, als wäre Deutschland das gelobte Land, das Paradies auf Erden. Welch‘ riesige Hoffnungen, welche zu befürchtenden Enttäuschungen (denn Deutschland kann das Paradies auf Erden nicht sein), welche große Herausforderung!

 

Gewiss ging und geht es zunächst und auch weiterhin vor allem um unmittelbare Hilfe und um menschenfreundliche Aufnahme und damit um die Bewältigung immenser praktischer Probleme. Die Willkommenskultur, die freundliche Aufnahme durch eine Mehrheit der Deutschen ist sowohl überraschend wie erfreulich. Sie macht mir das eigene Land unendlich viel sympathischer. Aber wir können sehen, wie schwer das durchzuhalten ist, und haben auch deshalb keinen Anlass zu moralischer Arroganz.

 

Könnten wir das miteinander verknüpfen: Empathie mit den Flüchtlingen, menschenfreundliche Aufnahme der aus Krieg und Not zu uns Kommenden, das herzliche Willkommen, das so viele Bürger in Deutschland auf beeindruckende Weise gezeigt haben – mit der nüchternen Einsicht, dass diese so sympathische Willkommenskultur übersetzt werden muss in den mühseligen Alltag von Integration, die nicht ohne viele praktische Probleme, ohne soziale und finanzielle Lasten zu haben sein wird! Hier ist politische Rationalität gefragt und weniger der Versuch, parteipolitisch daraus Kapital zu schlagen oder gar Ängste, Unsicherheiten, Vorurteile, Wut auszubeuten für den eigenen politischen Vorteil.

 

Wir ahnen, dass die deutsche Gesellschaft sich durch Migration stark verändern wird. Sich auf diese Veränderung einzulassen, ist offensichtlich eine anstrengende Herausforderung, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen (Einheimischen) Angst, vor allem unübersehbar und unüberhörbar im östlichen Deutschland. Pegida ist dafür ein schlimmes Symptom. Vertrautes, Selbstverständliches, soziale Gewohnheiten und kulturelle Traditionen: Das alles wird unsicher, geht gar verloren. Individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt – durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folge sind Entheimatungsängste, die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken. Genau das ist unsere demokratische Herausforderung und sie ist eine politisch-moralische Herausforderung: Dem rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Trend, der sichtbar stärkerund selbstbewusster geworden ist, zu begegnen, zu widersprechen, zu widerstehen.

 

Was ist zu tun? Worüber müssen wir uns in unserem Land, in unserer Gesellschaft verständigen? Angesichts des vielhunderttausenfachen Zustroms von Fremden, der vielen Problemen und Ängste und einer verunsicherten, gespaltenen Gesellschaft.

 

1.

Notwendig ist Ehrlichkeit im Ansprechen und Aussprechen der Probleme und Herausforderungen durch die Zuwanderung so vieler Menschen. Ohne Beschönigungen, aber auch ohne Dramatisierungen und ohne Hysteristerung, also so sachlich wie möglich, sollten Politiker über diese Probleme sprechen, aber auch die Chancen benennen.

 

Das heißt vor allem zu begreifen, dass eine pluralistischer werdende Gesellschaft keine Idylle ist, sondern  voller sozialem und kulturellem Konfliktpotential steckt. Das heißt auch zu begreifen, dass Integration eine  doppelte Aufgabe ist: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.

 

Heimisch werden heißt, die Chance zur Teilhabe an den öffentlichen Gütern des Landes zu haben, also an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Demokratie und Kultur partizipieren zu können. Es heißt auch, menschliche Sicherheit und Beheimatung zu erfahren, was mehr ist als Politik zu leisten vermag, sondern Aufgabe vor allem der Zivilgesellschaft ist, ihrer Strukturen und Gesellungsformen, von deren Einladungs- oder Abweisungscharakter.

 

Die Erfüllung dieser doppelten Aufgabe verlangt viel Kraft und viel Zeit. Erinnern wir uns an die Integration von 15 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945, ein schwieriger Prozess der mindestens zwei Jahrzehnte gebraucht hat. Erinnern wir uns an die sog. „Gastarbeiter“. Der Schweizer Max Frisch hat einmal gesagt: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und gekommen sind Menschen.“ Die alte Bundesrepublik hat lange der Selbsttäuschung angehangen, dass man sich um die Gastarbeiter und deren Integration nicht kümmern müsse. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind bis heute wahrnehmbar. Und erinnern wir uns an die „innere Einheit“ der Deutschen: Auch nach 25 Jahren sind nicht alle Differenzen überwunden.

 

2.

Notwendig sind, selbstverständlich, sichtbare und hoffentlich erfolgreiche  Anstrengungen zur praktischen Lösung der Probleme der Aufnahme so vieler Fremder. Dabei wissen wir: Je größer die Zahl, um so größer die Integrationsprobleme. Deshalb sind ja fast alle Politiker der Meinung, dass Begrenzungen der Zuwanderung unvermeidlich sind. Der Streit geht darüber, wie das politisch vernünftig, rechtlich einwandfrei und menschlich anständig gelingen kann.

 

Es ist verantwortungslos Patentlösungen zu verkünden, diese wecken nur Illusionen und erzeugen umso mehr wütende Enttäuschungen.

 

Es geht vielmehr um ein ganzes Bündel von Anstrengungen und Maßnahmen gleichzeitig, die ich hier nur stichwortartig nenne: Beschleunigung der Verfahren, Rücknahmeabkommen, Verbesserung der Situation in den Flüchtlingslagern, erheblich mehr finanzielle Unterstützung für den UNHCR, um Hilfe dort zu leisten, wo die Not am größten ist. Sodann der Versuch, der mühevolle Versuch, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden, und Verabredungen zur fairen Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union, aber auch im eigenen Land usw. usf.

 

3.

Notwendig ist eine offene und offensive Debatte darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer unsolidarischen, „homogenen“, eingesperrten Gesellschaft? Wir Ostdeutschen haben aber doch nicht die Mauer eingedrückt, damit wir unter uns bleiben, in einer geschlossenen eingesperrten Gesellschaft. Wir wollten doch ins Offene  und Freie! Wollen wir also jetzt das vereinigte Land egoistisch und etwa wieder mit Hilfe eines Schießbefehls verteidigen und einen Wohlstandsnationalismus oder gar Wohlstandschauvinismus pflegen? Oder wollen wir nicht vielmehr eine  Gesellschaft der Grundwerte, der Menschenrechte sein? Und ein Land, das seinen humanen Verpflichtungen nachkommt. Der wichtigste Satz des Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht nicht, die Würde des Deutschen ist unantastbar.

 

Das ist also die doppelte Aufgabe, die der Begriff Integration meint: Sie wird nur dort gelingen, wo beide Seiten, sowohl die zu uns Kommenden wie auch die Aufnahmegesellschaft Integration wollen und das Notwendige dafür tun. Gegen die Mehrheit einer Gesellschaft kann Integration nicht gelingen und ohne die Integrationsbereitschaft und den Integrationswillen der zu uns Gekommenen auch nicht!

 

4.

Darauf müssen wir uns einstellen: Unser Land wird dauerhaft pluralistischer, also ethnisch und religiös und kulturell vielfältiger und widersprüchlicher werden. Dieser Pluralismus wird keine Idylle sein, sondern steckt voller politisch-sozialer und religiös-kultureller Konfliktpotential.

 

Nach den zunächst und vor allem notwendigen Anstrengungen zu unmittelbarer Hilfe und menschenfreundlicher Aufnahme muss sich unser Land diesem Konfliktpotential stellen, wenn Integration – besser als in früheren Jahrzehnten – gelingen soll. Und diese Herausforderung ist nicht nur politischer, ökonomischer, finanzieller und sozialer Art, sondern ganz wesentlich auch kultureller Natur. Denn wenn in einer migrantischen Gesellschaft, die Deutschland noch mehr werden wird, Integration eine der großen Aufgaben ist und bleiben wird, dann müssen wir eine Vorstellung davon haben, wo hinein die zu uns Kommenden integriert werden sollen. Dann müssen wir die einfache und zugleich manchen unangenehme Frage beantworten, wer wir sind, was wir anzubieten haben, wozu wir einladen.

 

Und wir könnten dies durchaus mit gelassenem Selbstbewusstsein tun. Schließlich kommen die Flüchtlinge ausdrücklich nach Deutschland, wollen unbedingt zu uns – wegen unseres wirtschaftlichen Erfolgs und unseres Wohlstands, gewiss. Aber doch auch wegen unseres Rechtsstaates, unserer Demokratie, unserer politischen Stabilität – die Schutz und Sicherheit und Zukunft verheißen.

 

 

 

1. Punkt:

Das ist zunächst und vor allem das Angebot unserer Verfassungswerte, auf die alle gleichermaßen verpflichtet sind, die Einheimischen und die zu uns Kommenden. Das sind die Regeln und Angebote unseres Rechts- und Sozialstaates, die für alle gelten.

 

Die Grundwerte unserer Verfassung stehen nicht zur Disposition, dürfen es nicht! Unantastbarkeit der Menschenwürde, Gleichberechtigung, Respekt vor den Gesetzen des säkularen Rechtsstaates, Unterscheidung von Politik und Religion, Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit und Freiheit der Kunst, Toleranz, Selbstbestimmung des Individuums (die auch nicht durch Kollektivnormen, auch nicht die einer patriarchalen Kultur, beschränkt werden darf): Diese Werte verpflichten alle, die zu uns Kommenden wie auch die Einheimischen – sie verpflichten also auch AFD, Pegida, Neonazis!

 

2. Punkt:

Des Weiteren: Die deutsche Sprache zu erlernen, Ausbildung und Arbeit zu finden – das sind die ersten und weiteren, notwendigen Schritte von Integration. Sie verlangen Anstrengungen von beiden Seiten – der zu uns Kommenden, denen wir sie abverlangen müssen und dürfen – und der aufnehmenden Gesellschaft, unseres Bildungssystems, der Arbeitgeber, der Gemeinden, die diese Anstrengungen erbringen müssen. Wenn diese Integration aber gelingt, dann wird sie unserem Wohlstand und unser friedlichen Zusammenleben befördern!

 

3. Punkt:

Damit sie aber gelingt, stellen sich über das bereits Benannte weitere Fragen, die wir zu beantworten haben. Das sind Fragen nach unserem kulturellen Selbst: Wer sind wir Deutsche, was ist das Eigene? Was sind unsere Gemeinsamkeiten, die den Zusammenhalt einer vielfältiger, widersprüchlicher und konfliktreicher werdenden Gesellschaft ermöglichen und sichern? Wie schützen wir uns vor Parallelgesellschaften und  religiösem Fanatismus? Wir begegnen wir Ängsten und Vorurteilen und Entheimatungsbefürchtungen?

 

Für den Zusammenhalt einer pluralistischen Demokratie, einer widersprüchlichen, vielfältigen Gesellschaft reicht offensichtlich nicht das allein aus, auf das ganz selbstverständlich zunächst hingewiesen werden kann und muss: Die gemeinsame Sprache, die Anerkennung von Recht und Gesetz, der vielgerühmte und gewiss notwendige Verfassungspatriotismus. Auch nicht die Beziehungen, die die Gesellschaftsmitglieder über den Markt und Arbeitsprozesse miteinander eingehen, nämlich als Arbeitskräfte oder Konsumenten.

 

Über all dies Selbstverständliche und Notwendige hinaus bedarf es, so meine ich, grundlegender Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in dem, was wir Maßstäbe, Normen oder „Werte“ nennen. Es bedarf tendenziell gemeinsamer Vorstellungen von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit, vom Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vom Wert und der Notwendigkeit von Solidarität, gemeinsamer oder wenigstens verwandter Vorstellungen von sinnvollem und gutem Leben, von der Würde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Toleranz und Respekt.

 

Dieses nicht-politische sondern ethische und kulturelle Fundament gelingender Demokratie – das ist nicht ein für alle mal da, sondern es ist gefährdet, ist umstritten, kann erodieren. Es muss immer wieder neu erarbeitet werden, es muss weitergegeben, vitalisiert, vorgelebt, erneuert werden. Das ist der Sinn des so oft zitierten Satzes des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Die Verantwortung für diese Voraussetzungen, für dieses ethische Fundament unseres Zusammenlebens tragen – über die Zuständigkeit des Bildungssystems hinaus – alle Bürger, insbesondere die kulturellen Kräfte einer Gesellschaft und darin eben auch und in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und zwar im Dialog, in der Debatte miteinander.

 

4. Punkt:

Gerade in Zeiten heftiger Umbrüche, beschleunigter technisch-wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, sozialer und eben ethnischer Veränderungen ist das individuelle und kollektive Bedürfnis nach Vergewisserung und Verständigung, nach Identität besonders groß. Und damit, so meine ich, sind wir im Zentrum der Kultur. Sie – die Kultur und darin insbesondere die Künste – schaffen Erfahrungsräume menschenverträglicher Ungleichzeitigkeit, in denen die Menschen jenseits ihrer Marktrollen – der Markt kennt uns ja nur als Produzenten und Konsumenten - agieren und sich wahrnehmen können. Hier, in der Kultur, wird über Herkunft und Zukunft, über das Bedrängende und das Mögliche, über Sinn und Zwecke, über das Eigene und das Fremde reflektiert, kommuniziert, gespielt und gehandelt. Kultur ist eben mehr als normativer Konsens, als individuelle Werteübereinstimmung, auch mehr als das Bewusstsein von der Kostbarkeit und der Gefährdung der Freiheit und der Menschenwürde, mehr als der notwendige Verfassungspatriotismus. Das ist sie alles auch, aber sie ist vor allem Raum der Emotionen, der Artikulation und Affektation unserer Sinne, Raum des Leiblichen und Symbolischen – wie auch und gerade des Religiösen und des Weltanschaulichen. Und sie ist der Ort der Differenzen, ihrer Schärfung und Milderung zugleich.

 

Als je konkrete, je bestimmte, je besondere Kultur ist diese aber nicht nur ein Modus, ein Raum von Verständigung, sondern ein immer geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebens-Stilen und Lebens-Praktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen, Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten. Als solche prägt Kultur mehr als andere Teilsysteme der Gesellschaft die (relativ stabile) Identität einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation. Gilt dies nicht mehr in globalisierter Welt? Darf dies nicht mehr gelten in pluralistischer migrantischer Gesellschaft? Die aber doch gerade das Bedürfnis nach Identität verstärken - und dessen Befriedigung zugleich erschweren. Von Hölderlin stammt der Satz: „Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde.“

 

Aber was ist dieses Eigene? Was ist unser kulturelles Selbst? Dürfen, ja müssen die Deutschen darüber reden und, ja, auch streiten? Oder ist dies schon „kultureller Protektionismus“ (Simone Peter)? „Mit dem Hinweis auf Kultur fängt die ganze Misere an“, meint Armin Nassehi: „Was also ist das Deutsche? Hier zu leben. Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen.“ Aber vielleicht dürfen, hoffe ich!

 

Die islamistischen Terroristen allerdings nehmen die westliche Kultur, den westlichen Lebensstil so ernst, wie der Westen vielleicht längst nicht mehr, so ernst, dass sie ihn bekämpfen. Aber das von Ihnen Bekämpfte kann doch nicht bloß der müde oder trotzige Hedonismus sein, der sich in den Aufrufen nach den Pariser Mordtaten, nun erst recht auf Partys zu gehen, ausgedrückt hat. Nichts gegen Spaßkultur, aber sie allein kann ja nicht gemeint sein, wenn z. B. der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi zu recht sagt: „Die wollen Terror, aber wir antworten mit Kultur, die stärker ist als Ignoranz.“

 

Mit den Worten von Daniel Barenboim: „Ich glaube, es ist wichtig, den Ankommenden die hiesige Kultur zu geben. Die Deutschen müssen überwinden, sich andauernd wegen ihrer Kultur und Sprache schlecht zu fühlen … Sie haben eine grandiose Kultur. Die Flüchtlinge, die herkommen, sollen das lernen.“

 

Wer nach Deutschland kommt, muss sich auf den Grundkonsens einlassen, der dieses Land zusammenhält. Dann kann er Teil der Nation werden – egal woher er ist. – Solche oder ähnliche Sätze hört man jetzt häufig. Und sie sind ja richtig, wenn in den Grundkonsens auch kulturelle Gemeinsamkeiten eingeschlossen sind. Dies allerdings ist durchaus umstritten. Jedenfalls scheint die Frage nach dem Eigenen (als eine wesentlich kulturelle Frage) eigentümlich tabuisiert. Sie gilt irgendwie als anrüchig-konservativ. Das ist sie aber nicht, sollte es wenigstens nicht sein.

Lassen Sie mich das noch ein wenig erläutern.

 

5. Punkt:

Wer nach Deutschland kommt, der kommt in ein geschichtlich geprägtes Land, der kommt – und das ist eine wesentliche Dimension von Kultur – in eineErinnerungsgemeinschaft.

 

Ich zitiere den Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben.“ So hat er es Anfang vorigen Jahres formuliert. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Gauck spricht hier von einer kulturellen Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist.

 

Integration nach Deutschland hinein enthält diese historisch-kulturelle Zumutung für die zu uns Kommenden, auch wenn und gerade weil sie aus muslimischen Ländern kommen. Charlotte Knobloch formuliert es so: „Wer hier leben will, muss verstehen und respektieren, dass die aktive Erinnerung an den Holocaust ebenso Staatsräson ist wie der Kampf gegen Antisemitismus sowie das Einstehen für die Existenz und die Sicherheit Israels.“ Was Charlotte Knobloch sagt, gilt selbstverständlich nicht nur für die Neuankömmlinge, sondern auch für die Alteingesessenen.

 

Ich hoffe sehr, dass darüber weitgehende Einigkeit besteht. Aber wir sollten auch wissen, dass die uns in Deutschland vertraute Erinnerungskultur durch die Veränderungen, die der Begriff Einwanderungsgesellschaft meint, auf den Prüfstand gestellt ist. Was taugt von den Traditionen, Institutionen, Methoden, Ritualen für die Zukunft des Gedenkens in einer Einwanderungsgesellschaft? Die Antworten darauf werden wir nur gemeinsam mit den zu uns Kommenden muslimischen Glaubens finden. Wir sollten sie dazu ausdrücklich einladen.

 

6. Punkt:

Zu der notwendigen Selbstverständigung darüber, was das Eigene ist, was wir in diesem Land den zu uns Kommenden anzubieten haben, wozu wir sie einladen, muss die Antwort auf die Frage gehören, welchen (nicht nur historischen) Rang und welche Gegenwärtigkeit die christlich-jüdische Prägung unserer Kultur (die sie in Widerspruch und Gemeinsamkeit mit dem Prozess der Aufklärung erfahren hat) beanspruchen darf und soll. Diese Frage erzeugt, wenn ich es richtig beobachte, in der Öffentlichkeit nicht selten Reaktionen zwischen Irritation und Unsicherheit, zwischen Trotz und Verschämtheit. Als sei schon der Hinweis etwas Unziemliches und Integrationsfeindliches, dass unsere Kultur (nicht allein, aber doch wesentlich) christlich geprägt ist. Man dient aber der Integration nicht, wenn man sich selbst verleugnet und nur noch „Interkultur“ für zeitgemäß und legitim hält.

 

Ein kleines Beispiel: Mit Blick auf die Erfahrung mit seiner Tochter an einer Kölner Schule mit einem Migrantenanteil von über 50 Prozent hat Navid Kermani vor einigen Jahren geschrieben: „Gelernt habe ich allerdings auch, dass Integration dort gelingt, wo die heimische – also auf der Schule meiner Tochter: katholische und kölsche – Kultur nicht schamhaft in den Hintergrund gerückt, sondern gepflegt und selbstbewusst vertreten wird. Aus Furcht vor den Reaktionen muslimischer Eltern nicht mehr Advent zu feiern, wie es in manchen Kindergärten oder Schulen geschieht, ist mit Sicherheit das falsche Signal. Es geht nicht darum, sich selbst zu verleugnen, sondern den anderen zu achten. Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten.

 

Ich zitiere aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009:

„Die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht auf die Funktion eines Abwehrrechts, sondern gebietet auch im positiven Sinn, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“

 

Das ist nach meiner Überzeugung die eigentliche Herausforderung von zunehmendem religiös-weltanschaulichem Pluralismus: Nicht einfach Atheismus, nicht Laizismus ist die Antwort auf „Religion im Plural“, auf Weltanschauungen und Kulturen im Plural, sondern eine Zumutung anzunehmen. Diese Zumutung besteht darin, sich der Anstrengung unterziehen zu müssen, das Eigene zu vertreten und zu übersetzen, den Anderen zu verstehen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Jürgen Habermas: „In der Rolle von demokratischen „Mitgesetzgebern“ gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitigen grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität bewahren und öffentlich zum Ausdruck bringen können.“

 

Daran werden wir miteinander zu arbeiten haben: An einem gemeinsamen Bürgerbewusstsein über alle kulturellen und religiös-weltanschaulichen Differenzen hinweg, gewissermaßen an einem neuen Wir, das in der Lage ist, Toleranz, gemeinsame Verantwortung und Solidarität zu begründen!

 

 

 

„Niemand kann verlangen, dass unser Land sich ändert“ (Viktor Orban). – Das ist ein Satz der Angst, von der ich vermute, dass viele Menschen auch in unserem Land sie teilen. Es ist aber auch ein fataler Satz. Denn wir wissen doch: Nur offene, sich verändernde Gesellschaften sind produktiv und haben Zukunft! Das ist doch auch die Erfahrung von 1989: Geschlossene, eingesperrte Gesellschaften bedeuten Stillstand, sind nicht überlebensfähig, müssen überwunden werden!

 

Die Veränderungen, die wir erleben, machen den Kulturbegriff in der Tradition von Herder, die Fiktion einer homogenen Nationalkultur endgültig obsolet. Aber ist deshalb Kultur nur noch vorstellbar als Interkultur? Und haben wir die Tendenz zur „Kreolisierung“, zum „kulturellen McWorld“, zum „Kulturplasma“, also zum kulturellen Einheitsstrom – dies alles nicht nur durch Migrationsbewegungen, sondern mehr noch durch ökonomische Macht befördert – nicht nur zu konstatieren, sondern gar zu bejubeln? Die Ängste allerdings genau davor, die Abwehr dessen, der Kampf dagegen machen einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen kulturellen Globalisierungskonflikte aus, von denen die emotionalen Auseinandersetzungen in Deutschland ein Widerhall sind.

 

Offensichtlich erscheinen in Zeiten von Migrationen und von gewalttätigen Auseinandersetzungen gerade kulturelle Identitäten besonders bedroht. Nationale Identitäten geraten in Bewegung, aber sie verschwinden deshalb nicht. Sie zu schützen wird ein verbreitetes und heftiges Bedürfnis, global und sogar im eigenen Land. Und gerade Kultur ist der bevorzugte Ort, in dem man sich der eigenen Identität besonders streitig zu vergewissern sucht.

 

Dies als Kulturalisierung ökonomischer und sozialer Gegensätze zu kritisieren und abzuwehren, halte ich für unangemessen, genauso wie „Interkultur“ als einer Art neuer substanzartiger Homogenität zu verfechten. Vielmehr sollte es gehen: um die Unterscheidung zwischen legitimer kultureller Selbstbehauptung einerseits und fundamentalistischer Politisierung kultureller Identität andererseits; um kulturellen Dialog als Begegnungs- und Verständigungsprozess zwischen Verschiedenen (denn Dialog setzt verschiedene Identitäten voraus); um die Ausbildung kultureller Intelligenz, also um die Fähigkeit zum Verständnis von Denkmustern und Geschichtsbildern, von Narrativen, Ängsten und Hoffnungen der Anderen, der Fremden – und diese Fähigkeit ist nicht zu haben ohne ein Quantum an Distanz gegenüber der eigenen und kollektiven Identität.

 

Deutschland hat in Europa nicht nur wirtschaftliche und politische Macht. Unser Land ist auch eine kulturelle Macht durchaus besonderer Art, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: In den guten und glücklichen Phasen der deutschen Geschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft bewiesen – und in den schlechten Phasen unserer Geschichte war das Land mit Abgrenzung und Ausgrenzung befasst. In der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und etwas Eigenes daraus entwickelt, in gewiss widersprüchlichen und unterschiedlich langwierigen Prozessen (die nicht verordnet oder kommandiert werden können und müssen). Das macht nach meiner Überzeugung die besondere Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur aus. Diese Geschichte und Tradition der kulturellen Integration gilt es fortzuschreiben!

 

Unser kultureller wie auch unser materieller Reichtum heute gründet wesentlich auf der Zuwanderung von Menschen und Ideen in den vergangenen Jahrhunderten. Was und wer fremd war, blieb es nicht. Das Fremde und die Fremden wurden deutsch, sie veränderten sich und die Deutschen mit ihnen. Integration also lohnt sich und sie ist erreichbar, wie beides unsere deutsche Geschichte beweist. Sie zeigt auch: Wer seiner selbst nicht sicher ist, reagiert mit Abwehr und Ausgrenzung um seine labile Identität zu stabilisieren. Wer aber seiner selbst sicher ist, dem ist Offenheit und Angstfreiheit möglich. Wir sollten mehr kulturelles Selbstbewusstsein wagen!