Unterschrift Wolfgang Thierse

30.11.2022

 
30. November 2022

Grußwort zum Adventsempfang der Evangelischen Allianz

Datum: 30.11.2022

Uhrzeit: 19.00 Uhr

Ort: Haus der EKD, Behrenstraße 73, 10117 Berlin

 

Was sind das für Zeiten! In denen wir leben, die wir erleiden. Und in denen wir den diesjährigen Advent begehen. Advent heißt ja Vorbereitung, Ermunterung. In diesem Sinne möchte ich Ihnen nichts Frommes, sondern eher politisch Nachdenkliches anbieten.

Wir leben ganz offensichtlich in einer Zeit sich beschleunigender Veränderungsdramatik, der Gleichzeitigkeit verschiedenster umwälzender Entwicklungen. Ich benenne sie nur in Stichworten:

  • die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die der Begriff Globalisierung zusammenfasst
  • die Migrationsschübe
  • die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation
  • die ökologische Bedrohung, die zu radikalen Änderungen unserer Lebensweise zwingt
  • die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft
  • die Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte
  • und aktuell die noch längst nicht überstandene globale Pandemie
  • und zuletzt der Aggressionskrieg Putin-Russlands gegenüber der Ukraine mit seinen Folgen für unser Land, unseren Kontinent, unseren Globus

Im Zusammenhang mit dem letzten Ereignis hat Bundeskanzler Scholz von einer Zeitenwende gesprochen. Es ist mit Sicherheit ein tiefer historischer Einschnitt, eine tiefe Erschütterung, eine höchst folgenreiche Wendung der Geschichte.

Welch Unterschied zu der positiven Wendung der Geschichte 1989/90, nach der wir von einem goldenen Zeitalter des Friedens träumten. Jetzt sind manche, aber wohl noch nicht alle Folgen dieses tiefen negativen Einschnittes sichtbar: eine neue Hochrüstungsphase mit ihren fatalen nicht nur materiellen Kosten, neue (alte?) Konfrontationen, ökonomische und soziale und finanzielle Zuspitzungen und Herausforderungen. Was wird aus der überlebensnotwendigen ökologischen Transformation, die wir brauchen, um die Klimakatastrophe zu verhindern? Was wird aus den sozialen und ökonomischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Welt? Was wird aus unserem deutschen Erfolgsmodell? Die Grundlage für unseren ökonomischen Wohlstand und unsere politische und soziale Stabilität waren ja Verlagerungen: Für unsere Sicherheit waren die USA verantwortlich, unsere Rohstoffbasis war Russland und unser expandierender Absatzmarkt war China. Das machte alles so schön billig. Wir haben die Kosten unseres Wohlstands und unserer Freiheit nicht alle selbst bezahlt! Dass dies so nicht bleiben wird, das wird eine erhebliche Herausforderung für das Innere unserer Gesellschaft, für deren sozialen Zusammenhalt werden! Genau dies ist das Moment des Krisenhaften, an dem was uns seit dem 24. Februar beschäftigt.

Jetzt wird sich erweisen müssen, ob unsere Demokratie eine Schönwetterdemokratie (gewesen) ist. Denn die Existenzgrundlagen der Bundesrepublik waren doch stabiles wirtschaftliches Wachstum und stabile Wohlstandsmehrung. Das begründete und ermöglichte die Stabilität unserer Demokratie. Was wird aus unserer Demokratie werden, wenn diese Grundlage für nicht absehbare, jedenfalls aber die nächste Zeit nicht mehr so sicher ist, wie gewohnt. Das macht den Umfang dessen aus, was „Zeitenwende“ wirklich bedeutet, bedeuten kann!

Es ist jedenfalls viel, sehr viel, was individuell und kollektiv zu bewältigen ist: Das Erleben einer „Welt in Unordnung“, einer zersplitterten, gespaltenen Gesellschaft im Streit.

Das alles verstärkt auf unübersehbar heftige Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung). Sie sind heftig: Die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen was Halt gibt und Zusammenhalt, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste und soziale Überforderungsgefühle und kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten – sie sind allerdings höchst ungleich verteilt:

Einerseits zwischen den Erfolgreichen, auf den Wellen der Globalisierung Surfenden, dem „kosmopolitischen“, urbanen Teil der Bevölkerung einerseits und andererseits denen, die sich durch die Modernisierungsschübe bedroht fühlen, die Entfremdungsängste empfinden und die Veränderungen als sozialen Verteilungskonflikt erfahren. Andererseits gibt es neben diesen kulturellen und sozialen Spaltungen in unserem Land auch eine sichtbare West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.

Das sind Zeiten für Populisten, also für die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die die verständlichen Sehnsüchte nach Erlösung von ängstigenden Unsicherheiten flott zu befriedigen versprechen. Zumal eben in Ostdeutschland!        

Das ist doch unübersehbar und unüberhörbar: Die Stimmung ist gereizter geworden, die Auseinandersetzungen werden schärfer, die Aggressivität nimmt zu. Und es ist nicht mehr nur der altvertraute politische Parteienstreit, nicht mehr nur das Austragen der gewohnten sozialökonomischen Verteilungskonflikte, sondern es ist mehr denn je eine Auseinandersetzung auf kultureller Ebene. Ich meine jedenfalls eine Art Kultur-Kampf-Klima zu verspüren.

Ich erinnere nur an die Zuspitzung identitätspolitischer Auseinandersetzungen um Gender, um Rassismus, um Postkolonialismus, auch um Religion. So meint man etwa in Münster, ein Kreuz aus einem historischen Saal entfernen zu müssen, oder einen Bibelspruch an der Kuppel des Humboldt Forums überblenden zu sollen. Wir erleben die Tabuisierung von bestimmten Worten, die Tilgung von Geschichte, die Radikalisierung von politisch-moralischen Verdächtigungen und auch von Verfeindungen…

Ich breche hier ab und stelle meine Grundüberzeugung dagegen: Wenn viel Vielfalt, Diversität, Pluralität friedlich und produktiv gelebt werden sollen, dann müssen sie mehr und anderes sein als das bloße Nebeneinander (oder gar Gegeneinander) sich voneinander nicht nur unterscheidender, sondern abgrenzender Identitäten und Minderheiten!

Vielfalt erzeugt nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit! An der und für die müssen wir immer neu und immer wieder arbeiten!

Ich erinnere an die Erfahrung mit der Corona-Pandemie. Das war mehr als der unvermeidliche Streit um Einschränkungen um verpflichtende Regeln, zum Beispiel das Pro und Contra zu einer Impfpflicht (für und gegen die es gewiss nachvollziehbare Argumente gibt). Es war mehr. In vielen Äußerungen war in den vergangenen Monaten und Wochen (z.B. zum Vorschlag eines sozialen Pflichtjahres, den der Bundespräsident gemacht hat) wahrzunehmen, wie verbreitet die Vorstellung ist, dass Pflicht gleich Zwang sei. Pflicht habe „bevormundenden Charakter“, sagte sogar eine stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Und man denkt dabei an solche Bevormundungen wie Schulpflicht oder Gurtpflicht oder Steuerpflicht und überlegt, wie sehr sie wohl unsere Freiheit einschränken mögen.

Sichtbar wurde ein problematisches Freiheitsverständnis: Autonomie, (miss-)verstanden als selbstbestimmte, individuelle Selbstverwirklichung gilt ja als der höchste Wert unserer Gesellschaft. Regisseur des eigenen Lebens zu sein, das ist ein schönes Bild dafür – und ein verräterisches: Die Anderen, die Mitmenschen sind dann wohl die Assistenten, gar die Statisten meiner Lebensregie. Freiheit bekommt auf diese Weise Fetisch-Charakter, als habe man sie von Natur aus, als sei sie Eigentum. Und wird so zum Gegenstück des Sozialen zum Widerpart von Solidarpflichten!

Was mich ärgert, Sie merken es, ist die tiefe Politik- und Sozialvergessenheit des grassierenden, oberflächlichen Freiheitsverständnisses! Ist das Herunterdimmen von Freiheit zu einem Ausdruck Befindlichkeiten, von Identitätsansprüchen gegen Andere!

Wie wollen wir mit einem solchen individualistischen und entsolidarisierenden Freiheitsverständnis die noch längst nicht vollends beendete Pandemie bewältigen? Und die Folgen der Ukrainekrise und erst recht die noch viel größere Herausforderung, die Klimakatastrophe zu verhindern? Wie wäre es, wir würden in dieser Pandemiekrise und aus ihr lernen: Unseren egozentrischen Freiheitsnarzissmus zu erkennen und zu überwinden! Und Freiheit begreifen und praktizieren als die vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit verantwortlichen Handelns, also auch in Beschränkungen und Regeln. Um der Solidarität mit den verletzlichen anderen willen, um unserer Demokratie willen und um unserer globalen Zukunft willen.

Freiheit kann doch nur gelebt werden im Blick auf die Anderen! Das muss man, hoffentlich, unter Christen nicht besonders beteuern.

Die Christen, wir Christen, sollten dafür werben und dafür einstehen, dass Solidarität und Gerechtigkeit tragendes Fundament gelingender Freiheit sind.

Die Christen, wir Christen, sollten um Verständnis für demokratische Politik, für demokratische Politiker werben, deren Handeln und Entscheiden immer unter Unsicherheits- unter Unwägsamkeitsbedingungen stattfindet. Wir Christen wissen es doch nicht deshalb schon besser, weil wir Christen sind. Aber weil wir Christen sind, sind wir unabweisbar herausgefordert mitzudenken und mitzutun bei der Bewältigung der scheinbar überwältigenden Probleme der Gegenwart: Den Krieg zu beenden, pluralistische Vielfalt in unserer Gesellschaft friedfertig zu leben, technologische Umwälzungen menschenfreundlich zu gestalten – und vor allem die überlebensnotwendige, schmerzliche und zukunfteröffnende ökologische Transformation entschlossen zu verwirklichen.

Wie das alles genau auszusehen hat, in welchen Schritten dies genau zu erfolgen hat, darüber haben wir Christen, haben die Kirchen kein gesondertes Wissen. Das ist vielmehr im unweigerlichen demokratischen Streit zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur, zwischen den Generationen und in der Bürgergesellschaft auszuhandeln und in die Tat umzusetzen. Und wir Christen haben uns daran kräftig und engagiert zu beteiligen.

Christlicher Glaube kann und soll dazu starke Motivation sein und kräftige Hoffnung wider alle Skepsis und Resignation, wider alle Apathie und Verzweiflung vermitteln! Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn Gesellschaft und Demokratie bedürfen der Hoffnung, sie leben von der Hoffnung.

Advent ist eine Zeit der Erwartung, Weihnachten ist ein Fest der Hoffnung und der Ermutigung.

Ich wünsche Ihnen allen eine gute Adventszeit und ein fröhliches Weihnachtsfest.