Unterschrift Wolfgang Thierse

28. Mai 2022

 
28. Mai 2022

Biblischer Impuls von Wolfgang Thierse auf dem Katholikentag in Stuttgart

Das Leben der jungen Gemeinde in Apg 2, 42-47

 

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Katholikentagsgemeinde!

 

Gegenstand und Anstoß des biblischen Impulses heute Morgen ist ein Text aus dem
2. Kapitel der Apostelgeschichte, die Verse 42-47, aus einem Abschnitt, der die Überschrift trägt „Die erste Gemeinde“.

„Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nach dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauteren Herzen. Und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“

Welch beeindruckendes Bild der Jerusalemer Urgemeinde, das der Evangelist Lukas, der ja der Verfasser der Apostelgeschichte ist, mit diesem Text gemalt hat! Ein Bild voller überwältigender Gemeinsamkeit des Glaubens und des Lebens, des Miteinanders im sozialen Alltag, im Feiern, in der Mahlgemeinschaft: Sie bleiben beständig – in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft des Brotbrechens und des Gebets. Sie verzichten auf Privatbesitz, leben also in Gütergemeinschaft, teilen alles miteinander, üben sich in Freigiebigkeit: sie leben und wirken so überzeugend und ansteckend, dass die Gemeinde größer und größer wird…

Ist das eine realistische Darstellung der ersten Gemeinde? Sollen, dürfen wir das glauben? Ist es ein allzu schwärmerisches Bild, ja mehr noch: eine Glorifizierung der Anfänge des Christentums? Zu schön, um wahr zu sein? Ein Idealbild, eine Utopie, eine utopische Idylle? Und ist dieses Idealbild vielleicht die wehmütige Erinnerung aus der Perspektive späterer Zeiten? Ein Kontrastbild zu dem, was aus den Anfängen geworden ist? Denn geschrieben ist der Text ja viele Jahrzehnte später, als so vieles sich bereits geändert und von den so schwärmerisch geschilderten Zuständen entfernt hatte. Wie wir aus weiteren Kapiteln der Apostel-Geschichte und aus den Apostel-Briefen wissen. Es ist jedenfalls, so mein Empfinden, ein Text, der den überwältigenden Zauber des Anfangs festhält und wiedergibt, der den Lichtstrahl bündelt: So war es, so kann es sein, so soll es sein, so soll es wieder sein!

 

In diesem Sinne galt das Urchristentum zu allen Zeiten und in allen Konfessionen des Christentums als das goldene Zeitalter, in dem die Kirche ihren wunderbaren Anfang nahm. Und wie oft ist nicht der „Geist der Urkirche“ beschworen worden, vor allem in Zeiten, in denen viele die Kirche als verbürgerlicht oder versteinert empfunden haben und über die Notwendigkeit von Reformen stritten. Wir sind wieder mittendrin in einer solchen Zeit, das macht den Blick auf die Anfänge so interessant.

Und auch über den Kirchenhorizont hinaus übte das Urchristentum eine über die Zeiten hinweg wirkende Faszination aus, wie z. B. die Rede vom „Urkommunismus“ in der Arbeiterbewegung und unter Kommunisten belegt. Und erst recht die Tatsache, dass für emanzipatorische und revolutionäre Bewegungen verschiedenster Art das Urchristentum eine Berufungsinstanz war, eine Verheißung, der Verweis auf etwas, was einmal möglich war und deshalb wieder möglich gemacht werden muss.

Unser schwärmerischer Text steht in dem Kapitel der Apostel-Geschichte, das dem Pfingstgeschehen gewidmet ist, der Geburtsstunde der Kirche. Es erzählt vom Kommen des Heiligen Geistes, vom Aufbruch der Apostelgemeinde, der Überwindung ihrer Angst, dem Sprachenwunder, dem Erstaunen darüber, dass die Botschaft dieser Gemeinde sich an alle richtet und von allen, die doch so verschieden sind, so unterschiedliche Sprachen sprechen, verstanden werden kann. Es berichtet über die programmatische Predigt des Petrus, über deren Überzeugungskraft und Wirkung: „Als sie das aber hörten, ging’s ihnen durchs Herz und sprachen zu Petrus und zu den anderen Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“ Und Dreitausend ließen sich taufen und wurden Teil der Jerusalemer Gemeinde.

Welch ein großer Beginn wird da geschildert! Welch ein kraftvoller Anfang einer Religionsgemeinschaft und zwar ein Anfang als Gemeinde, die erst später die soziale Gestalt der Kirche annimmt, also Institution wird – mit Hierarchie, Eigentum, Machtstrukturen. Die Gemeinde ist es, die das Ursprüngliche, den Ausgangspunkt, den Geburtsort der Kirche darstellt! Es folgen dann im weiteren Gang der Apostelgeschichte die Erzählungen von Streit und Konflikten, vom Bemühen um Einheit in der jungen Jesus-Bewegung, es folgen die Märtyrer-Geschichten von Stephanus und Petrus, es folgen die Berichte von den Missionsreisen des Paulus, von der Ausdehnung der christlichen Gemeinden über das Judentum hinaus, in das Gesamt des Römischen Reiches, in die Welt.

Die Apostelgeschichte erzählt von Menschen, die auf das Reich Gottes warten und sich dabei und doch pfingstlich-selbstbewusst und hoffnungsvoll der Welt zuwenden. Die Jesus-Bewegung sprengt den religiösen Rahmen der Tradition, aus der sie stammt – ohne diese Tradition gänzlich zu verlassen. Was da erzählt wird, ist (mit einem heutigen Begriff ausgedrückt) die Geschichte der Globalisierung einer Glaubensgemeinschaft, wie sie vor 2.000 Jahren begann: die Entgrenzung einer Botschaft aus ihrem religiösen und kulturellen Herkunftskreis. Von seinen Anfängen an hat der christliche Glaube eine universalistische Orientierung: Sein Adressat ist der ganze Mensch und die gesamte Menschheit! Das meint die Geschichte vom Pfingstwunder, und darum geht es auch in den fünf Versen unseres Textes, in der schwärmerischen Darstellung der sogenannten Urgemeinde, die von diesem Atem, diesem Impuls ganz geprägt ist.

(Musik)

Unser Text also handelt von der ersten Christengemeinde und beschreibt sie in den schönsten Farben. Es drängt sich auf, dies heute als Wunschbild zu lesen und zu verstehen. Fulbert Steffensky, der wunderbare Bibelarbeiter, hat in seiner Auslegung den Bericht über das Leben der ersten Christen als einen „in die Vergangenheit verlegten Zukunftstraum“ interpretiert. Das erscheint mir ganz überzeugend. Schließlich ist der Text vielleicht fünfzig Jahre nach dem Pfingstgeschehen aufgeschrieben worden, zu einer Zeit, als die Gemeinde-Verhältnisse längst nicht mehr so poetisch-schön waren, wo es Streit und Missgunst, Arme und Reiche unter den Christen gab, und die Bereitschaft abgenommen hatte, alles zu teilen. Wo also uns Heutigen durchaus vertraute prosaische Verhältnisse herrschten. Der Autor Lukas beschreibt eine Vergangenheit, die es vielleicht so nie gegeben hat. Er sehnt sich nach einer Kirche, in der Liebe und Gerechtigkeit herrschen, in der man einig ist in der Lehre und, wie es in unserem Text heißt, „Wohlgefallen beim ganzen Volk findet“. Eine uns aktuell doch ganz verständliche Sehnsucht. „Die Geschichte ist nicht erzählt, weil es so war, sondern weil es so sein soll“, meint Fulbert Steffensky.

Mit Blick auf die Realität der Kirche und der Gemeinden heute lesen wir den Text erst recht als ein Kontrastbild, als ein Wunschbild: So sollte es sein! So sollte es werden! Wenigstens unter uns Christen. Ein Stachel ist das, damit wir uns nicht zufrieden geben mit dem Zustand jetzt, der Gegenwart unserer Gemeinden, unserer Kirchen. Damit wir ahnen, dass es ein Mehr, ein Anderes gibt, das ursprünglich gemeint ist. Dass der Zustand des Gelingens noch aussteht.

Aber liebe Zuhörende, es geht, meine ich, um doch noch mehr als um ein Wunschbild. Nicht nur Lukas, auch der Apostel Paulus begreift und beschreibt die Gemeinde als den Kern, als das Ursprüngliche und Eigentliche von Kirche. Im 1. Korintherbrief schreibt er: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt“ (1. Kor. 3,16). Im 2. Korintherbrief heißt es: „Wir aber sind der Tempel des lebendigen Gottes, wie denn Gott spricht: Ich will unter ihnen wohnen und wandeln und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein“ (2. Kor. 6,16).

Wie sehr die Gemeinde die ursprüngliche und eigentliche Vorstellung und Erfahrung von Kirche bei Paulus ist wird besonders deutlich in seinem Epheser-Brief:

„So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herren, auf welchem auch ihr miterbaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geist. (Eph. 19-22).

Das sollten wir festhalten: Die Kirche ist nicht zuerst Institution (Organisation, Hierarchie, Machtgefüge). Das ist sie als historisch-erfolgreiche Größe unweigerlich auch, ja gewiss. Sondern Kirche ist zuerst und grundlegend Gemeinde und soll das auch sein! Die Gemeinde ist das Bauwerk, die Gemeinde ist die Behausung! Und wir sind darin Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes! So Paulus. Kann man Größeres sagen über Gemeinde?!

Was aber ist nun das Besondere, das Eigentliche der christlichen Gemeinde in unserem Text? „Sie blieben aber beständig in der Apostel-Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ – so heißt es geradezu programmatisch. Für die Gemeinschaft, die aus Glauben und Beten und gemeinsamem Mahl entsteht, hat Martin Luther in seiner Übersetzung des Textes ein wunderbar-genaues, treffend-schönes Wort gewählt: Beieinander. Er verwendet es gleich zweimal: „Alle, die gläubig geworden waren, waren beieinander…“, „Und sie waren täglich und stets beieinander…“.

Gemeinde, das ist Beieinandersein, Beieinanderbleiben! Der Glaube verbindet uns, macht uns – die wir doch immer Individuen, also Verschiedene sind - zu Gleichen im Beieinander der Mahlgemeinschaft und des Gebets. Beieinander, das heißt ja nicht Über- und Untereinander, nicht Nacheinander oder Nebeneinander. Beieinander – das Wort erzeugt eine so wunderbar un-hierarchische, ja anti-hierarchische Vorstellung von Gemeinde, ein so freundlich-geselliges, gänzlich un-klerikales Bild von Kirche. „Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern“, so lautet Vers 46. Stellen wir uns das vor!

Am Tisch des Herrn sind alle beieinander: Arme und Reiche, Frauen und Männer, Hebräer und Griechen, Einheimische und Dazugekommene, Junge und Alte. Das ist sehr anspruchsvoll. Die Gemeinde ist, die Gemeinde soll sein: der Ort der Beheimatung von Vielfalt, der Ort der Überwindung von sozialer Ungleichheit und kultureller, auch ethnischer Differenz! Die Gemeinde soll der Ort eines praktizierten Universalismus sein (um wieder einen modernen Begriff zu verwenden), der soziale, ethnische, kulturelle Grenzen überwindet! Das ist ja der Anspruch der Kirche, zumal der katholischen Kirche als „global player“. Konkret wird dieser Anspruch in der Gemeinde, hier muss er gelebt werden – und das mehr denn je in einer pluralistischer gewordenen Gesellschaft, in einer globalisierten, entgrenzten Welt. Offenheit ist die diesem Anspruch angemessene Haltung, Offenheit für Neue und für Neues. Wir sollten gerade auch in unseren Gemeinden nicht unter uns bleiben wollen! „Der Herr aber tat täglich hinzu, die gerettet wurden, zu der Gemeinde“, so endet Vers 47.

Der Text der Apostel-Geschichte ist gewiss ein Traum von Kirche – und er formuliert einen Anspruch, an dem wir Christen uns zu messen haben. Ich lese ihn als ein Loblied auf die Gemeinde, als ein nachdrückliches Plädoyer, die Gemeinde als die Basis der Kirche zu verstehen und  (soll ich sagen)  zu verteidigen – angesichts der diskutierten und durchgesetzten Strukturreformen, der XXL-Pfarreien. Wie soll man in solchen Pfarreien beieinander bleiben und das „Leben teilen“ (unser Kirchentagsmotto)? Ich lese den Text als Verteidigung von Gemeinde angesichts der schweren Krise vor allem der katholischen Kirche, angesichts des Missbrauchsskandals, angesichts von Mitgliederschwund und Glaubensverlust, angesichts von Reformmühseligkeit und Zukunftsunsicherheit.

Dabei weiß ich doch und wissen wir alle: Gemeinden sind keine Idyllen, sind keine heile Welt! (Sie sind es ja schon in der Apostel-Geschichte nicht gewesen.) Die Gemeinde, zumal die Ortsgemeinde, deren Mitglieder man ja sich nicht aussuchen kann, sie ist immer auch ein Ort des Ärgerns, des Konflikts, des Erleidens. Muss ich alle Anlässe dafür aufzählen? Wir könnten miteinander sicher eine ganze Litanei von Vorwürfen herunterbeten: Der Gottesdienst ist altmodisch und langweilig, die Predigt zu fromm oder formelhaft oder realitätsfern oder moralinsauer, der Pfarrer, die Gemeinde kümmert sich zu wenig um die Jungen, um die Alten, es gibt zu wenig Mitbestimmungs- und Mitwirkungschancen, es gibt zu wenige, die mitmachen usw. usf. … Die Konkurrenz der individuellen und Gruppen-Ansprüche und Geschmäcker ist gewachsen, der Ärger darüber auch. Kann und soll überhaupt die Gemeinde alle Erwartungen befriedigen? Oder sollte nicht auch bei Kirchens mehr Spezialisierung bei der Befriedigung von religiösen Bedürfnissen stattfinden – wie in der Konsumwelt, in der Kulturwelt sonst auch? Vielleicht ist das notwendig und möglich. Ich bin aber nicht ganz sicher, denn mein Verständnis von Kirche, wie ich es in unserem Text unserer Apostel-Geschichte zu finden meine, und vor allem auch meine Erfahrungen mit Kirche sprechen eher dagegen.

Ich habe, wenn ich mich richtig erinnere, an meine Pfarrgemeinde in Berlin Prenzlauer-Berg, zu der ich seit 50 Jahren gehöre und die sich in diesen Jahrzehnten sozial und kulturell nahezu vollständig verändert hat, nie den Anspruch gerichtet, in Sachen religiösen, ästhetischen, rhetorischen, theologischen Geschmacks, unter meines Gleichen sein zu wollen. Wie langweilig wäre das. Gemeinde, das ist doch kein Wunschkonzert. Ich wünsche mir jedenfalls keine gentrifizierte Gemeinde. Diese Grundeinstellung muss mit meiner Prägung, meiner sogenannten „kirchlichen Sozialisation“ zu tun haben. (Darf ich davon erzählen?)

Ich stamme aus einer Vertriebenenfamilie, die 1945 aus Breslau nach Thüringen geraten war. Wir waren dort Fremde, zunächst nicht sonderlich willkommen. Waren katholisch, wo alle Anderen evangelisch waren (damals noch). Wir sprachen hochdeutsch mit leicht schlesischem Beiklang, die anderen Kinder sprachen südthüringisches Fränkisch. Wir hatten keinerlei Besitz, die Nachbarn hatten die bescheidenen Reichtümer einer fast unzerstörten Stadt. Die katholische Gemeinde war ganz neu – bis 1945 gab es keinerlei Katholiken in der Gegend, wie heute beinahe wieder – und sie bestand aus Geflüchteten und Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen und aus den Sudeten. Sie war der Ort der Erinnerung und der Trauer, der Bewältigung des Schicksals von Not und Heimatverlust und Familientrennung – im gemeinsamen Glauben, im Beieinandersein. Der südliche Teil Thüringens, also auch unsere Gemeinde, gehörte zum Bistum Würzburg. Aber man sang die Kirchenlieder der alten Heimat. Ich bin mit schlesisch-sudetendeutscher Sentimentalität aufgewachsen. Wir waren ein paar hundert Katholiken, in der kleinen Stadt und verstreut in den umliegenden Dörfern. Wahrlich eine kleine Herde, die sich sonntags versammelte in der „Notkirche“, einer Baracke, in der wir winters froren und sommers schwitzten. Auch später erlaubte der kommunistische Staat keinen Kirchenbau, sondern nur die Umwandlung der hölzernen in eine steinerne Baracke.

Das war meine nachhaltige Kirchen-Prägung: die Erfahrung einer armen, kleinen, angefochtenen Gemeinde. Ein katholisches Milieu habe ich niemals erlebt, sondern Minderheitskatholizismus, Diaspora, die Mühsal der Selbstbehauptung, den Trotz des Durchhaltens. Das galt alles nicht weniger, sondern eher mehr für die Folgejahrzehnte der 60er bis 80er Jahre in der DDR, dieser weltanschaulichen Erziehungsdiktatur. Sich nicht anzupassen, dem obrigkeitlichen Druck nicht nachzugeben, sich nur in Grenzen zu assimilieren und doch einen Modus Vivendi zu finden mit Verhältnissen, die man sich nicht hat aussuchen können. Nicht dazuzugehören und trotzdem nicht „abzuhauen“ (wie in den 50ern bis zum Mauerbau noch Hunderttausende), sondern in trotziger Treue da zu bleiben, weil „auf dieses Land unser Los gefallen war…“. Christsein, Katholischsein –das hieß, sich immer neu entscheiden zu müssen, denn nichts war durch den „Zwang des Milieus“ vorgegeben. Minderheit, Diaspora – das heißt, nichts ist selbstverständlich: Am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen, zur ersten heiligen Kommunion, zum Religionsunterricht am Nachmittag in die Pfarrerwohnung (denn an der Schule hatte Religion nichts zu suchen), sich firmen zu lassen, nicht an der Jugendweihe teilzunehmen… - all das bedurfte der Entscheidung für die einzustehen man von Kindheit an zu lernen hatte.

Katholizismus in der DDR – das war vor allem Gemeindekatholizismus, natürlich bestimmt durch den sonntäglichen Gottesdienst, den Rhythmus des Kirchenjahres, die Feier der Gemeinschaft. Das Beieinandersein, das Beieinanderbleiben war wichtig, wohl sogar überlebenswichtig. Und ebenso der Blick auf die evangelische Nachbargemeinde: Wir haben unser Christsein gelebt mit dem Blick auf die Anderen, mit der Aufmerksamkeit für deren Christsein. Eine ökumenische Gemeinsamkeit, die dann 1989 weithin sichtbar und öffentlich und fruchtbar wurde.

Habe ich jetzt meine Nostalgie vor Ihnen ausgebreitet, Romantisierung einer Vergangenheit betrieben, die wirklich vergangen ist? Ich hoffe nicht. Diese Erinnerung an meine – Ihnen hoffentlich nicht allzu exotisch erscheinende – Kirchenerfahrung, vor allem aber der Blick darauf, dass wir Christen, dass die Kirchen gegenwärtig und zukünftig Minderheit sein werden: Dies beides macht mir den Text der Apostel-Geschichte so wichtig und so aktuell.

(Musik)

Wir können nicht alleine und einsam glauben. Christlicher Glaube ist als Akt des Individualismus nicht möglich. (Die heiligen Einsiedler sind legendäre Ausnahmen!)  Glauben und Hoffen sind zu schwer für den Einzelnen. Wir beten doch zu recht: Vater unser. Auch und gerade als glaubende Menschen sind wir gesellschaftliche Wesen. Im Beieinandersein zunächst der Familie und dann der Gemeinde lernen wir glauben. Und treten ein in den Traditions-Zusammenhang namens Kirche, die den Reichtum der Bilder und Lieder, der Rituale und Geschichten aufbewahrt und vermittelt, in denen Hoffnung und Trauer, Verheißung und Schmerz, Sinn und Gedächtnis weitergegeben werden. Und die machen unseren Glauben aus, gestalten ihn, machen ihn fassbar!

Dieses Angebot der Kirche wird im Beieinandersein der Gemeinde verlebendigt und praktiziert. Deshalb auch ist die Gemeinde Ort gelebten und bezeugten Glaubenssinns, der theologisch im gemeinsamen Priestertum aller Getauften und Gefirmten begründet ist. Deshalb auch ist die Gemeinde ein Ort der Theologie. Sie ist Ort der Ermutigung zum Glauben und im Glauben. Ort, an dem Tradition bewahrt und an dem Wandel erfahren, erlitten, experimentiert wird. Ort, an dem Vielfalt, Pluralität gelernt werden kann, weil die Anderen, auch die bisher Fremden ganz nahe kommen, Diejenigen, die anders Christ sind und doch ebenso Christen sind.

Die Gemeinde ist der Ort des Teilens, eben auch des Leben-Teilens. Auch wenn wir es heute nicht mehr bis zur Gütergemeinschaft bringen, so ist die Gemeinde doch unverzichtbar ein Ort solidarischen Verhaltens und praktischer Hilfe – zwischen den Generationen, zwischen den Gutsituierten und den Ärmeren. Eine Gemeinde ohne Obdachlosen- oder Flüchtlingshilfe ist nicht mehr wirklich lebendig. Praktizierte Solidarität ist eben eine Form des Beieinanderseins, die konstitutiv ist für eine Gemeinde.

Veränderung, Reformen sind notwendig, ja unbedingt! Was sie wert sind, wird nicht zuletzt in den Gemeinden erfahren, muss in ihnen erfahrbar sein. Hier wird’s konkret. Nur zwei Stichworte. „Man kann keine Kirche für alle sein, wenn man nur der Hälfte der Menschheit zuhört“, so hat es treffend die neue Untersekretärin der Bischofssynode in Rom, Natalie Becquart, formuliert. Was also haben Frauen in der Kirche, in den Gemeinden zu sagen, welche Aufgaben und Ämter und auch Weiheämter können sie – endlich, endlich – übernehmen!

In einem schon in 2. Lesung verabschiedeten Grundtext des Synodalforums heißt es: „Die Synodalität der Kirche ist mehr als die Kollegialität der Bischöfe. Zum synodalen Moment in der Kirche gehört ein neues Miteinander aller Getauften und Gefirmten, in dem die Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufungen, auch zwischen den Diensten und Ämtern, nicht eingeebnet werden, aber das Augenmerk darauf gerichtet wird, dass alle Betroffenen gehört werden“. Das synodale Moment gehört also ebenso auf die Ebene der Pfarrgemeinde, wie es auf die Ebene der Diözese, der Bischofskonferenz und der Weltkirche gehört.

Die notwendigen Reformbemühungen müssen sich an dem Ideal orientieren, dass für die Gemeinde in unserem Text formuliert ist: Beieinandersein – Beieinanderbleiben. Also geht es auch in der Gemeinde um den Abbau klerikaler Machtstrukturen, um Partizipation, um Einanderzuhören, um eine gelebte Praxis kollegialen und synodalen Stils der Entscheidungsfindung. Warum muss die Gemeinde um den Kleriker herum zentriert sein? Warum muss sich die Zahl und die Größe von Gemeinden an der erwarteten Zahl künftiger Priester als Sakramentsverwaltern orientieren? Je größer die Pfarreien – umso menschenferner sind sie, umso größer der administrative Aufwand, umso weniger Beieinandersein ist möglich, das ist Gefahr und nicht Rettung.

Man sollte die Strukturreformen von der Basis der Kirche her denken, sie also vom Kopf auf die Füße stellen! Deshalb halte ich die „Frankfurter Erklärung: Für eine synodale Kirche“ für so unterstützenswert. Deshalb darf der synodale Prozess nicht bloß eine Sache von „Kirchenfunktionären“ bleiben. Er geht uns alle an.

In Abwandlung eines berühmten Mottos aus der Geschichte meiner Partei sage ich: Das Ziel ist unsicher und vielleicht nicht so bald erreichbar, der Weg dahin ist wesentlich. Also gehen wir los, wagen wir Neues, experimentieren wir – in den Gemeinden! Wir können schneller sein als die Amtskirche.

Die Glaubwürdigkeit der Kirche – die so erschüttert ist und doch so wichtig – sie ist aktuell vor allem die Glaubwürdigkeit der Gemeinde und der Vielen, die Gemeinde ausmachen, sie bilden, sie tragen. Sie ist das überzeugende Beieinandersein von Christen an der Basis von Kirche – oder sie ist nicht. Deshalb ist es gut, sich daran zu erinnern, dass die so

staunenswerte Tatsache, dass die Kirche als Institution nun zweitausend Jahre existiert, aber
– nach Auferstehung und Pfingstwunder – als Gemeinde-Aufbruch begonnen hat!  

Sollte das vielleicht, ich mag es kaum aussprechen, heute wieder ihre Rettung sein müssen, sein dürfen?

Ich will nicht dramatisieren, oder eine Apokalypse ausmalen. Aber mich, vielleicht Sie auch, beschleicht doch das Gefühl, dass die Zukunft der Kirche nicht gewiss ist.

Die Katholische Kirche ist ein Koloss, ein großer Tanker, ein komplizierter Organismus, den zu bewegen, zu navigieren, zu verändern so unendlich schwer ist. Ich möchte in diesen Zeiten nicht katholischer Bischof in Deutschland sein! (Und auch nur noch manchmal aktiver Politiker.)

Unsere Situation ist (noch) nicht vergleichbar mit der Situation der Kirche in Lateinamerika oder Afrika. Aber wir können es sehen: Dort lebt die Kirche aus den Gemeinden, aus dem menschlichen Gewebe, aus der Solidargemeinschaft, die sie darstellen. Die haben wohl unseren Text aus der Apostel-Geschichte gelesen!

Liebe Schwestern und Brüder, Sie haben es bemerkt, ich lese unseren Text als Plädoyer für die Gemeinde, für die Basis der Kirche. Das ist keine Absage an die anderen Formen kirchlicher Präsenz. Ich bin auch katholisch genug, um Sinn für Institution zu haben. Aber: Was in der Theologie neu gedacht wird, was im synodalen Prozess an notwendigen Reformen vorgeschlagen wird, was im Vatikan unterstützt oder ausgebremst wird – entschieden wird die Zukunft der Kirche im Beieinandersein, im Beieinanderbleiben der Glaubenden, eben in den Gemeinden. Die Erinnerung an den „Geist der Urkirche“ sollte nicht Nostalgie sein, sondern Ermunterung zu mehr Mut, viel mehr Mut. Es ist nämlich die Erinnerung an eine Entscheidungssituation, an einen Aufbruch. Lassen wir uns anstecken!