Unterschrift Wolfgang Thierse

25. Februar 2023

 
25. Februar 2023

Was jemand will - Gastbeitrag Süddeutsche Zeitung zum Thema Suizidassistenz

Der Bundestag steht vor der Aufgabe, Menschen zu helfen, die nicht mehr leben wollen – und sie vor schädlichen
Einflüssen zu schützen. Nun gibt es einen Vorschlag dazu.

 

Vor drei Jahren, am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht ein weitreichendes Urteil gefällt, das die „Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen berührt“, wie der damalige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle betont hat. In diesem Urteil stellt das Gericht ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben fest und begründet das Recht, Hilfe Dritter beim selbstbestimmten Sterben in Anspruch zu nehmen. Zugleich hat das Gericht den Gesetzgeber aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, „dass der Entschluss begleiteten Suizid zu begehen, tatsächlich auf einem freien Willen beruht“.

Das Gericht hat dem Bundestag ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen eines legislativen Schutzkonzepts die Selbstbestimmung des Suizidwilligen insgesamt vor schädlichen Beeinflussungen zu schützen. Denn es bestehe immer die Gefahr, dass ein Suizidwunsch und damit auch der Wunsch nach Assistenz entweder Ausdruck einer Krankheit oder aber unbedacht, nur vorrübergehend, nicht frei verantwortlich oder sogar unbewusst fremdgesteuert sein könne. Das Gericht spricht in diesem Zusammenhang von „prekärer Selbstbestimmung“, dem ein legislatives Schutzkonzept entgegenwirken könne und solle – um sich der wirklichen Freiverantwortlichkeit und Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches auf verlässliche Weise zu vergewissern.

Das ist eine nicht ganz leicht zu lösende Aufgabe, zu der es gehört, die Unterscheidung von Sterbewünschen zu ermöglichen und vor allem die Freiheit der Entscheidung zu schützen. Zu schützen vor suizidbefördernden Einflüssen aus dem persönlichen Umfeld oder gar aus einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung, in beschwerlichen Lebensphasen, die Exit-Option des Suizids wählen zu sollen – wobei dies gerade für vulnerable Personen wichtig ist: Menschen, die kognitive Beeinträchtigungen haben oder ständiger Unterstützung bedürfen. Zu schützen ebenso vor Alternativlosigkeit in dramatischer Entscheidungssituation, denn wirkliche Freiverantwortlichkeit verlangt, zwischen unterschiedlichen Optionen wählen zu können.

Es ist eine schmerzliche Tatsache, dass es im Jahr bis zu dreimal so viele Suizide wie Verkehrstote gibt und wahrscheinlich zehnmal so viele Suizidversuche. Bis zu 90 Prozent geschehen vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung oder akuten Belastung. Suizidgedanken schwanken und kommen durchaus häufig vor. Meist wollen Menschen schlicht nicht so weiterleben. Dabei können gesundheitliche oder sonstige persönliche Krisen eine Rolle spielen. Menschen leiden unter der existenziellen Ambivalenz ihrer Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse. Manchmal erscheinen ihnen innerseelische oder interpersonelle Konflikte als unlösbar. Die suizidale Zuspitzung dauert hier oft nur sehr kurze Zeit. Menschen sollte man in solcher Lage stützen und begleiten. Denn nach allem was wir wissen, gibt es später kaum Rückfälle, wenn eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung zur rechten Zeit einsetzt. Die Zahl derer jedenfalls, die wohlüberlegt und in ganz reflektierter Weise Suizidhilfe suchen ist niedrig, rationale Bilanzziehung mit Ziel der Selbsttötung eher selten. Einen sehr anderen Sachverhalt stellen chronische und schwerste Erkrankungen dar, die mit unerträglichen Schmerzen verbunden sind und die persönliche Identität zu zerstören drohen. Für diese Fälle insbesondere muss es eine menschenfreundliche Regelung geben.

Nun liegt mit dem Entwurf „Zum Schutz der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung“, eingebracht von Lars Castellucci, Kirsten Kappert-Gonther, Ansgar Heveling und Abgeordneten aller demokratischen Fraktionen, ein Regelungsvorschlag vor, durch den Menschen der legale Zugang zur Suizidassistenz ermöglicht wird, ohne ihn zu begünstigen. Sterbewillige können sich beraten lassen und erhalten Zugang zu totbringenden Medikamenten. Ärzten des Vertrauens ist Suizidassistenz möglich, wenn sie Suizidhilfe nicht zu ihrem gewerbs- und geschäftsmäßigen Programm machen. Den Kern des Gesetzentwurfes bildet ein mehrstufiges Konzept, das dem Schutz der Freiheit, Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit einer Entscheidung ohne inneren und äußeren Druck dient. Unter dem Vorbehalt dieses Schutzkonzepts ist auch und gerade die auf Wiederholung organisierte Suizidhilfe gestellt. Das Schutzkonzept sieht in der Regel zwei Untersuchungen vor, durch einen Facharzt für Psychiatrie oder Psychotherapie, im Abstand von drei Monaten und eine umfassende ergebnisoffene Beratung. Die Zeit dazwischen soll eine Chance sein, Hilfe und Unterstützung und mögliche Alternativen zu prüfen und zu organisieren, um mögliche Sichtachsen auf das Leben zu eröffnen, wenn der Betroffene das will. Wer an der Beratung beteiligt ist, darf nicht gleichzeitig bei der Durchführung des assistierten Suizids dabei sein. Das Mehraugenprinzip schützt vor Missbrauch. Für terminal erkrankte gelten Ausnahmen. Mit einer Änderung des Betäubungsmittelgesetzes wird Ärzten erstmals erlaubt, ein Medikament für einen assistierten Suizid zu verschreiben. Bislang war das nur für die Heilung von Krankheiten möglich.

Suizidwillige werden durch dieses Schutzkonzept nicht kriminalisiert sondern im Gegenteil deren Selbstbestimmung wird geschützt. Das Verfassungsgericht hatte dem Parlament ja aufgetragen, dafür zu sorgen, dass die Autonomie aller Menschen gesichert ist. Selbstbestimmtes Leben ist aber vor allem dort gefährdet, wo die Hilfe Anderer unerreichbar oder mangelhaft ist. Als Sozialdemokraten ist es uns wichtig, dass niemand aus Angst vor Schmerzen oder mangelnder Versorgung, aus Armut oder Einsamkeit keinen Ausweg mehr sieht und in den Suizid getrieben wird. Jeder einzelne Mensch ist wichtig und wertvoll und hat jede mögliche Hilfe zum Leben verdient. Dafür gibt es weiterhin, sehr, sehr viel zu tun!

Niemand sollte Gründe dafür aufbringen müssen, warum er am Leben sein will. Solidarität mit den Alten und Pflegebedürftigen heißt deshalb: Die abhängige, hilfsbedürftige Phase im Menschenleben ist lebensgeschichtlich nicht zu vernachlässigen, sie gehört zum Menschsein und sie gehört mitten in die Gesellschaft. Deshalb brauchen wir vor allem eine bessere Versorgung. Und daher ist auch das Thema der Suizidprävention so wichtig. Jeder Vorstoß in diese Richtung verdient breite politische und gesellschaftliche Unterstützung. Mehr Zeit füreinander, ob als Angehöriger oder professionelle Kraft, flächendeckende gute Versorgung, damit niemand Angst vor dem Älterwerden haben muss, Therapieplätze für alle, die sie benötigen und eben auch die ehrliche Ursachenerforschung hinter vielen Fehlentwicklungen, die aus selbstbestimmter Individualisierung fremdbestimmte Vereinzelung und Vereinsamung zum Tode hin werden lassen – all diese Themen brauchen mehr Raum in der gesellschaftlichen Debatte und in der Politik.

Wir unterstützen den vorgelegten Gesetzentwurf und Antrag, weil wir es für gut und sinnvoll halten, dass ein Sterbehilfegesetz nicht ein Suizideinladungstext ist, sondern zugleich mit umfassender Suizidprävention verbunden wird. Denn so gewiss es ein Recht auf ein menschenwürdiges Sterben gibt, so gewiss gibt es ein unverwirkbares Menschenrecht auf Leben.