Wolfgang Thierse
Denkskizzen Nr. 5
Zu den Predigttexten der sechs Perikopenreichen
Radius-Verlag, Stuttgart 2022
Adam und Eva, der Mann und die Frau, haben zwei Söhne, Kain und Abel, der eine Bauer und Hirte der andere: Die Menschengeschichte ist von Anfang an eine Geschichte der Geschlechter, der Brüder (und Schwestern) und des Bruder-(Geschwister-) Zwistes, der streitigen Arbeitsteilung und der erlittenen Ungerechtigkeit. Denn so geht die Erzählung: Kain und Abel bringen beide dem gemeinsamen Gott ihr Opfer dar, dieser Gott aber würdigt nur das Opfer Abels. Welch skandalöse, eigentlich nicht zu erklärende (und im Text auch nicht erklärte) Parteilichkeit Gottes. Die Kain – wie verständlich – beleidigt und erzürnt, für die er – wie erstaunlich – Gott nicht anklagt und die er sich auch nicht von Gott erklären lassen will. Sondern: „Er ergrimmte und senkte finster seinen Blick“ und fasste einen heimtückischen Plan, richtete seine Wut nicht gegen den ungerechten Gott, sondern gegen seinen Bruder, lud ihn hinaus aufs Feld, um ihn zu erschlagen. Und leugnete dann dreist die Tat gegenüber dem fragenden Gott: „Bin ich etwa der Hüter meines Bruders“. Und Gott verflucht ihn. Und Kain muss fliehen und klagt und jammert über sein Schicksal. „Da machte der Herr ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.“
Ungerechtigkeitserfahrung – Unfähigkeit, Anderssein zu ertragen – Neid und Missgunst – Mord und Lüge – Flucht vor Verantwortung und Selbstmitleid: All dies ist, so scheint es, in Kain geradezu personifiziert. Ist er deshalb die Inkarnation schlechthin des Bösen? Wird Kain gar dämonisiert? Aber das Kains-Mal – das Zeichen, dass der Herr ihm macht – soll ihn, den Täter, doch gerade schützen vor der Rache der Anderen, die gegen ihn, der Unrecht getan hat, nicht einfach Recht bekommen! Das muss irritieren und provoziert die entscheidende Frage: Was macht Menschen böse, was macht aus Menschen Mörder? Eine unbequeme, unangenehme Frage, die die Menschheitsgeschichte grundiert. Denn weder ist der Mensch von Natur aus böse und zum Guten nicht fähig, noch ist das Böse etwas Abstraktes oder Schicksalhaftes, das einfach über uns Menschen kommt. Nein, das Böse ist menschliches Tun. Es ist Teil der menschlichen Freiheit. Es ist Folge menschlicher Entscheidung, in die Gott den Menschen ruft, zu der er uns aufruft. Das ist das eigentliche Zentrum unseres Textes, der Vers 7: „Wenn du fromm bist, wenn du recht tust, kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, tust nicht recht, dann lauert die Sünde an der Tür und verlangt nach dir. Du aber herrsche über sie.“ Welch ein Appell! Gegen die Sünde, gegen das Böse als Schicksal! Gegen die Mythisierung, die Unentrinnbarkeit von Gewalt! Und welch biblisches Wissen von Menschen-Gewalt, ausgebreitet schon auf den ersten Seiten der Bibel.
Die Bibel macht uns nichts vor. Mit dieser Geschichte weiß sie: Von ihren Anfängen ist die Menschheitsgeschichte (auch) eine Geschichte der endlos fortwirkenden Folgen von Gewalt. Der lange Schatten von Kains Tat geht mit uns Menschen auch in die Zukunft. Denn wir sind immer Nachfahren, eben auch Nachfahren Kains. Das genau sagt die Bibel in den folgenden Versen 17-24 und zählt sie auf: die Zeltbewohner und Viehzüchter, die Zitter- und Flötenspieler, die Erz- und Eisenschmiede – also all die gewöhnlichen Leute sind Nachkommen des Täters und Flüchtlings Kain. Sein Verbrechen, seine Flucht sind unsere Geschichte, die Geschichte der menschlichen Zivilisation.
So also erzählt die Bibel Menschheitsgeschichte. Und wir lesen diesen Text mit dem Blick auf 3.000 Jahre: Wie viele Brudermorde hat es in dieser historischen Spanne schon gegeben – bis zum Brudermord Putin-Russlands an der Ukraine! Wir Christen aber lesen den Text vor allem mit der immer neu bestürzenden Erinnerung an den Holocaust, die Verfolgung und Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden, an den entsetzlichsten Brudermord der Weltgeschichte, an dem das Christentum eine große Mitschuld trägt, den Christen ihren älteren Geschwistern angetan haben.
„Wo ist dein Bruder Abel?“ Dieser Ruf bleibt unüberhörbar. Er meint uns und gilt nicht den Toten, sondern den Lebenden: den Verfolgten und Geflüchteten, den Schwachen und Gedemütigten, den Opfern von Hass, Ausgrenzung und Gewalt. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Ja und Ja, heute und hier. Das ist die Aufforderung über Jahrtausende hinweg. Sei fromm, also tue recht und du kannst aufblicken. Sei Herr über die Sünde, also beherrsche Niedertracht und Gemeinheit, Hass und Gewalt in dir selbst und in der Welt. Und der Gott der Bibel wird bei dir sein! Das ist die biblische Verheißung.