Unterschrift Wolfgang Thierse

19. April 2022

 
19. April 2022

Berliner Zeitung - Wolfgang Thierse im Interview

„Ein Energie-Embargo würde den Osten doppelt so hart treffen“
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über Fehler von SPD und CDU in der Russland-Politik und die Frage, ob Bundeskanzler Scholz nach Kiew reisen muss

 

Berliner Zeitung: Können Sie verstehen, dass die Ukrainer Frank-Walter Steinmeier nicht empfangen wollten?

Wolfgang Thierse: Nein. Das ist gleich ein doppelter Affront. Erstens, weil Bundespräsident Steinmeier den Staat repräsentiert, der in der Vergangenheit wie gegenwärtig, finanziell und auch militärisch große Hilfsleistungen für die Ukraine erbringt und wohl auch in Zukunft erbringen soll.

Und zweitens?

Frank-Walter Steinmeier ist Repräsentant einer Politik, die in den vergangenen Jahrzehnten quer durch die demokratischen Parteien betrieben wurde - übrigens auch von der CDU, die tut, als sei sie nicht dabei gewesen. Und die auch von der Bevölkerung unterstützt wurde: Der Entspannungspolitik. Ich halte sie gegen alle aktuellen Verteufelungen für eine Erfolgsgeschichte. Es waren ja nicht Panzer und Bomben, die zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums geführt haben, sondern die Soft Power des Westens. Steinmeier war Repräsentant einer Politik, die in dieser Tradition der immer neue Versuch war, durch Dialog, durch Diplomatie, durch wirtschaftliche Verbindungen mit Russland den Frieden zu bewahren. Das war doch wohl des mühseligen Versuchs wert. Ich halte nichts von der fast euphorischen Negation all dessen. Nur weil Putin in einem verbrecherischen Krieg das alles zerstört hat.

Wieso sind die Ukrainer aber ausgerechnet auf Steinmeier so schlecht zu sprechen?

Das müssen Sie die Ukrainer fragen. Frau Merkel, die doch die Kanzlerin in all dieser Zeit war, die jetzt kritisiert wird, schweigt, die CDU schweigt. Ich halte es für eine bösartige Parteilichkeit, Steinmeier jetzt als einen Agenten von Putin zu bezeichnen.

Steinmeier und andere verfolgten die Politik des „Wandels durch Verflechtung“ mit Russland. Ging diese Verflechtung nicht viel zu weit? Darf man sich von einem Land überhaupt in dem Maße abhängig machen, wie es Deutschland bei den Energieimporten aus Russland getan hat?

Eine zu starke, einseitige Verflechtung kann man kritisieren. Sie ist das Ergebnis der Politik der letzten 20 Jahre. Aber die westeuropäische Einigung nach 1945 begann mit wirtschaftlichen Verflechtungen. Mit der Montanunion. Wechselseitige Abhängigkeiten schaffen, um einen politischen Einigungsprozess in Ganz zu setzen zwischen ehemaligen Kriegsgegnern, das ist doch eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfahrung zu übertragen auf das Verhältnis zu Russland ist doch keine ganz dumme Idee gewesen. Das sollte man im Nachhinein auch nicht verteufeln.

Das zweite Problem in den zwanzig Jahren dieser Politik des „Wandels durch Verflechtung“ war: Es gab ja Wandel in Russland, nur hin zu einem Staat, der immer autoritärer nach innen und aggressiver nach außen agierte.

Richtig.

Das hat doch gezeigt, die Idee geht nicht auf.

Aber trotzdem war es doch vernünftig, gerade, wenn der Kontrahent aggressiver wird, jeden Versuch zu unternehmen, ihn an weiterer Aggression zu hindern. Mit ihm in Verhandlungsprozessen zu bleiben. Ein Abkommen wie das Minsker Abkommen zu schließen, Kompromisse zu suchen, damit der Konflikt nicht noch heißer wird. Diese Bemühung bis an die Grenze der Selbstdemütigung waren doch auf den Frieden gerichtet. Auch die Franzosen und Amerikaner haben solche Versuche unternommen. Es war nicht ein deutscher Sonderweg, wie jetzt suggeriert wird.

Warum hat niemand erkannt, dass der Weg nicht zu Ziel führte?

Bis zum 24. Februar wusste niemand, dass man das Ziel nicht erreicht. Der 24. Februar ist der Einschnitt. Ein Überfall auf ein Nachbarland.

Der russische Überfall auf die Ukraine begann 2014.

Dass der Weg endgültig falsch ist, weiß man seit dem 24. Februar. Dass man vorher an ihm festgehalten hat, auch in der CDU, die in all den Jahren die stärkste Partei in Deutschland war, hat mit einem Wahrnehmungsproblem zu tun, dass ich ganz konkret an mir selbst beschreiben kann.

Was haben Sie selbst falsch wahrgenommen?

2001 hat Wladimir Putin eine Rede im Bundestag gehalten, von der alle, ich betone alle, Parteien im Bundestag begeistert waren. Eine Rede der Öffnung nach Europa hin. Alle standen auf und klatschten. Ich habe damals nicht wahrgenommen, dass derselbe Putin, der so gut zu uns gesprochen hat, zum selben Zeitpunkt bereits die Hauptstadt von Tschetschenien hatte niederbomben lassen. In unserer Euphorie, dass ein dauerhafter Frieden in Europa möglich ist nach 1990, dass es Verträge gegeben hat mit Russland, dass die Ideen von Gorbatschow bei Putin einen Erben finden, haben wir nicht gesehen, was sich bei Putin verändert hat: Die Wendung zum großrussischen Chauvinismus. Die Wendung gegen den Westen als ideologisch-politischen Feind.

Hat sich Ihr persönlicher Blick auf Russland 2014 verändert?

Meine Befassung mit Russland hat mir schon eher gezeigt, was sich dort verändert. Der Aufbau eines neuen ideologischen Fundaments für Putins Herrschaft, der Weg in die Diktatur hinein. Aber 1968 hat Breschnew den Prager Frühling mit Panzern beendet, und danach haben Brandt und Bahr beschlossen, trotzdem mit dieser Macht Verträge zu schließen.

Die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr bestand aus zwei Säulen. Sie setzten nicht nur auf Verhandlung, sondern auch auf militärische Abschreckung.

Ausdrücklich. Die Erinnerung an die Entspannungspolitik lehrt, dass sie zwei Voraussetzungen hatte, erstens Stärke, das Abschreckungspotential der USA, und zweitens die Bereitschaft der Sowjetunion sich auf Verträge einzulassen. Es war die Uneinigkeit und Schwäche des Westens insgesamt, die jetzt von Putin als Ermutigung verstanden wurde. Das Afghanistan-Fiasko hat Putin gezeigt, dass die USA keine globale Ordnungsmacht mehr sind. Der Überall auf die Ukraine erfolgte ein halbes Jahr später. Diese Schwäche der USA wäre durch keine deutsche Politik auszugleichen gewesen.

Trotzdem ist Deutschland kein ganz unwichtiges Land in der Welt. Hier erklären Politiker nun reihenweise, sie hätten sich in der Russlandpolitik geirrt. Womit begann der Irrtum?

Ich sage nicht, dass wir uns geirrt haben. Die Zeitenwende von 1989/90 hat uns in Deutschland und Europa in eine Euphorie versetzt, ein goldenes Zeitalter des Friedens könne ausbrechen. Ich habe das als historisches Glück empfunden. Dauerhafter Frieden, das hieß für die Bundeswehr, sie musste nicht mehr eine Armee der Landesverteidigung sein. Sie ist umgestaltet worden, bis sie nun wohl gar nicht mehr in der Lage wäre, Deutschland zu verteidigen. Diese Euphorie war aber 30 Jahre lang nicht nur eine dumme Illusion war, es gab Abkommen, ganz konkrete Schritte, die sie in handfeste Verträge übersetzt haben.

Der Moment, in dem man zusätzlich zu den Verhandlungen wieder auf Stärke gegenüber Russland hätte setzen müssen, wurde verpasst.

Die bittere Lektion vom 24. Februar ist, dass die vernünftige Idee, dass man Sicherheit miteinander erreicht, abgelöst werden muss. Man muss Sicherheit gegen dieses aggressive Putin-Russland schaffen. Das ist die Schockerfahrung.

Warum war die Annektion der Krim kein Schock?

Das Erschrecken war ja da. Die Reaktion war, ein Abkommen zustande zu bringen, das halte ich für richtig. Es gibt Vorwürfe, die ich im Nachhinein als heuchlerisch empfinde.

Politiker und Intellektuelle aus Mittel- und Osteuropa weisen darauf hin, dass sie den Westen seit Jahren vor der Aggressivität Russlands gewarnt haben.

Ich habe immer mehr Verständnis gehabt als mancher Westdeutscher für die existenziellen Ängste unserer polnischen Nachbarn gegenüber Russland. Für die existenziellen Ängste der baltischen Republiken. Deswegen war es vernünftig und verständlich, dass Deutschland vehement für die Aufnahme dieser Länder in die Nato eingetreten ist, unter Beteiligung der Sozialdemokratie.

Wie soll es weitergehen? Nordstream 2 ist auf Eis gelegt, reicht das?

Alle Anstrengungen sind sinnvoll, die Energieversorgung Deutschlands zu diversifizieren, umzustellen auf alternative Energien, all das zu tun, was wir aus ökologischen Gründen ohnehin tun müssen, jetzt viel schneller zu tun. Auch im Interesse unserer Sicherheit.

Sollte man die Rohre abbauen?

Das muss man sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit Putin, dem Lügner und Verbrecher, Verträge abschließen will. Trotzdem weiß ich, dass nach dem Krieg die Diplomatie wieder das Wort haben muss. Es wird auch danach keine europäische Sicherheitsarchitektur ohne Russland geben. Ernsthaft wahrscheinlich erst nach Putin.

Muss in Deutschland aufgearbeitet werden, wer welche Fehler gemacht hat, bei den Verhandlungen über Nordstream 2 zum Beispiel?

Ich bin sehr dafür, dass man das macht, aber ohne diesen billigen moralischen und parteipolitischen Vorwurfston. Gerade habe ich den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer gehört. Ostdeutsche Ministerpräsidenten, egal welcher Partei sie angehören, vertreten ostdeutsche Interessen, ganz nüchtern. Das kann ich ihnen nicht zum Vorwurf machen. Mit welcher Einseitigkeit sind Verträge gemacht worden, darüber ist zu reden. Aber die Wirtschaft im Osten Deutschlands ist von russischem Gas und Erdöl nochmal viel mehr abhängig als die im Westen Deutschlands. Ein Energie-Embargo würden den Osten doppelt so hart treffen. Das ist so. Schwedt und Halle-Leuna sind abhängig, das hat eine historische Tradition. So wie auch die Ukraine selbst ja abhängig von russischem Gas ist.

Muss es in der SPD eine Diskussion um die eigene Russland-Politik geben?

Es klingt immer, als habe die SPD ein Sonderproblem mit Russland. Da wird doch etwas verschoben! Die SPD hat Politik im deutschen und europäischen Interesse gemacht.

Man kann Äußerungen von Politikern der Grünen nachlesen, die schon vor Jahren vor Russland gewarnt haben und weitaus kritischer waren.

Richtig, aber in dem Moment, in dem die Grünen den Außenminister gestellt haben, haben sie dieselbe Politik wie die SPD gemacht, auch die FDP. Kohl hat die Außenpolitik von Brandt und Schmidt fortgesetzt. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde die Wehrpflicht von der CDU abgeschafft. Und es war der common sense des Westens: Wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben.

Ist der Krieg nur Putins Krieg?

Ich sage das ausdrücklich nicht, sondern spreche von Putin-Russland.

Was verstehen Sie darunter?

Das ist die Analogie zu Hitler-Deutschland. Es war nicht nur Hitler, es hat bis in den Krieg hinein eine riesige Mehrheit in Deutschland seiner Politik zugestimmt. Jetzt stimmt eine riesige Mehrheit der putinschen Politik zu, mit den mildernden Umständen, dass die Menschen es nicht besser wissen, weil sie von allen unabhängigen Informationen abgeschnitten werden. Putin zerstört systematisch seit 20 Jahren die russische Zivilgesellschaft, jetzt sieht man: Offenbar mit dem Ziel, ein Imperium wiederherzustellen. Jetzt lesen wir Putins Reden zur Ukraine, jetzt dringen sie zu uns durch, das hat faschistische Züge.

Reicht es, dass Putin verschwindet, um sich Russland wieder anzunähern?

Es wäre schön, wenn wir schon darüber reden könnten, noch sind wir in einer Situation der Schützengräben. Wichtig ist, dass Putin keinen strahlenden militärischen Sieg erringt. Deswegen muss der Westen, muss Europa die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung unterstützen.

Tut Deutschland dafür genug?

Ich kann das nicht beurteilen, ich bin kein Militärexperte. Deutschland sollte im Verbund mit anderen europäischen Ländern und den USA der Ukraine alles liefern, was sie nutzen kann.

Wie sehr beschäftigt Sie der Krieg in der Ukraine persönlich?

Ständig. Das ist ganz unerträglich. Den ganzen Tag gucke ich auf mein Handy, nach den neusten Meldungen, abends sitze ich vor dem Fernseher. Man kommt zu keinem anderen Gedanken. Es ist emotional kaum zu ertragen. Es ist nicht nur ein blutiger Krieg, sondern auch ein reaktionärer Vorgang, er hält uns ab von den Aufgaben, die wir eigentlich lösen müssten, der Bekämpfung des Klimawandels, es ist ein enormer Rückschlag.

Sollte Olaf Scholz jetzt nach Kiew reisen?

Nein. Wer den obersten Repräsentanten eines Staates so desavouiert, der sollte nicht verlangen, dass der Regierungschef des Landes dann dorthin reist.