Unterschrift Wolfgang Thierse

16. Juni 2023

 
16. Juni 2023

Aus der Erfahrung der Diktatur den Umgang mit der Diktatur lernen?

Evangelische Akademie Tutzing

„Demokratie und Diktaturen. Wie viel Kooperation, wie viel Konfrontation?“
(Tagung des Politischen Clubs 16. - 18. Juni 2023)

 


Aus der Erfahrung der Diktatur den Umgang mit der Diktatur lernen?

 

Auf die Anfrage von Roger de Weck, ob ich an dieser Tagung teilnehmen könne, war meine Reaktion die Selbstauferlegung der obigen Frage, auf die ich nicht sicher war, eine Antwort zu finden. 60 Jahre nach Egon Bahrs berühmt gewordenem Tutzinger Vortrag beabsichtige ich als Sozialdemokrat weder eine hemmungslose Apologetik der Ost- und Entspannungspolitik, noch die Übernahme ihrer inzwischen üblich gewordenen Verteufelung. Mein Referat ist an den Anfang der Tagung gesetzt, es soll und darf also durchaus um einen Rückblick gehen. Meine Beobachtungen sind biografisch eingefärbt. Ich spreche zu Ihnen also nicht als Historiker, auch nicht als Politikwissenschaftler, sondern aus selbstgemachter Diktaturerfahrung: Volle 40 Jahre kommunistische Diktatur, namens DDR, die der faschistischen Diktatur der Nazis gefolgt war.

Ich bin im 2. Weltkrieg geboren, in einer Stadt, die englische Historiker in einem schönen Buch „Die Blume Europas“ genannt haben, in Breslau, der Hauptstadt der ehemals blühenden preußischen Provinz Schlesien. Heute heißt sie Wroclaw, gehört zu Polen, und ist wieder eine lebendige, spannende Stadt (in der ich inzwischen oft war).

Im Krieg also geboren, die ursprüngliche Heimat verloren, bin ich im Schatten der Nazidiktatur und ihrer Verbrechen und vor allem des Krieges aufgewachsen. Die Nazidiktatur gehört deshalb zu meiner biografischen Erfahrung, denn ihre Nachwirkungen waren in der DDR länger sichtbar, wir Ostdeutschen hatten uns an ihnen länger abzuarbeiten, im Grunde bis 1989/90, bis zum Ende der DDR.

Die „zweite deutsche Diktatur“, die eine durchaus andere Diktatur war, ist doch wesentlich auch eine Folge der ersten deutschen Diktatur gewesen. Die DDR versuchte ihre moralische Rechtfertigung aus der Nazidiktatur und ihrer Überwindung zu gewinnen. Deshalb darf ich sagen, die Nazidiktatur gehörte zu meiner Diktaturerfahrung und deshalb erlaube ich mir ein paar unoriginelle Lehrsätze aus dieser Erfahrung zu formulieren (Lehrsätze, die hoffentlich besonders von uns Deutschen gelernt sind, die aber immer mal wiederholt werden müssen):

  1. Wir Deutschen – das ist die bittere Wahrheit – konnten nicht selbst die Diktatur überwinden, konnten uns nicht selbst aus ihr befreien. Es bedurfte der totalen militärischen Niederlage. Das hieß aber auch: Die Siegermächte (bald zerstritten) bestimmten den weiteren Weg Deutschlands – in die freiheitliche Demokratie bzw. in die neue, die kommunistische Diktatur.
     
  2. Diktaturen muss man vor ihrer Installation bekämpfen und verhindern. Es ist schnell zu spät.
     
  3. Diktaturgefahr ist Teil der Demokratie, ist immer in ihr gegenwärtig, sie muss ernstgenommen werden. Heute kommen Diktaturen oft durch Wahlen an die Macht (weniger durch Putsche oder Revolten, das haben vor einigen Jahren zwei amerikanische Politikwissenschaftler an vielen Beispielen belegt).
     
  4. Die englisch-französische Appeasement-Politik der 30er Jahre gegen die aggressive deutsche Diktatur – um des Friedens willen – hat sich als furchtbarer Irrtum erwiesen. Das ist eine Schlüsselerfahrung: Je aggressiver eine Diktatur, umso falscher ist Appeasement-Politik!
     
  5. Wenn von außen kein Einfluss auf das Innere der Diktatur gelingt, dann – wenigstens – sollte es kritische Aufmerksamkeit und Solidarität mit den Unterdrückten, den Opfern geben. (Man sollte sich nicht durch Inszenierungen blenden lassen, wie die Olympischen Spiele 1936). Vor allem ist Hilfs- und Aufnahmebereitschaft für die aus der Diktatur Fliehenden notwendig. Die Schicksale des deutschen Exils sind ein wichtiger Teil der Nazidiktatur-Erfahrung. (Deshalb begrüße ich das geplante Exil-Museum in Berlin sehr.)
     
  6. Es gibt einen fundamentalen, geradezu existenziellen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Massenhafte Ungerechtigkeitserfahrungen, Not und Elend gefährden Freiheit und Demokratie. Das war das Ende der Weimarer Republik. Gerechtigkeit unter Preisgabe der Freiheit herzustellen, das muss scheitern. Das ist die doppelte Lehre aus den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts.

Eine gerechte Gesellschaft errichten zu wollen unter Opferung der Freiheit – das aber war der Versuch auf deutschen Boden, der DDR hieß. Die Verwirklichung einer Utopie, die ganz wesentlich in Deutschland erdacht worden war. Und trotzdem war die DDR vom Anfang bis zu ihrem Ende kein eigener, schon gar kein selbstbestimmter Versuch!

  • Sie war eine vom ideologischen, politischen und ökonomischen System der Sowjetunion abgeleitete Diktatur.
  • Von sowjetischen Truppen besetzt (immerhin mehrere Hunderttausend Soldaten waren in der DDR stationiert), war die DDR Vorposten des Imperiums, an dessen Westrand, an dessen gefährlich-gefährdeter Grenze.
  • Die DDR-Diktatoren, also die SED-Führer standen – mit relativen Unterschieden in Sachen innenpolitischer, ökonomischer, kulturpolitscher Selbstständigkeit über die vier Jahrzehnte hinweg – immer unter Moskauer Kuratel. (Man reiste zum Weisungsempfang nach Moskau oder der sowjetische Botschafter in Berlin übergab die Befehle.)
  • Dass die DDR immerhin 40 Jahre Bestand hatte, mag im Rückblick von einer erstaunlichen „Stabilität“ zeugen. Und hat bei manchem Wessi die Frage provoziert, gar die Unterstellung: Waren die Ostdeutschen nicht selbst dafür verantwortlich?

Nun ja, wir waren eingesperrt, spätestens seit 1961. Es gab relative ökonomische Erfolge, bescheidenen Wohlstand (nichts im Vergleich zum Westen, aber mehr im Vergleich zum Osten Europas). Es gab soziale Sicherheit: Die DDR war ja auch ein Fürsorgestaat, ökonomisch teuer bezahlt. Es gab die Suggestion von Gleichheit. Und das Gefühl, wenigstens moralisch auf der richtigen, der antifaschistischen Seite zu stehen. Und es gab trotziges Dableiben und natürlich und ziemlich selbstverständlich auch Anpassung und Opportunismus (die ja vielleicht ein Menschenrecht sind für alle jene, also die meisten, die nicht zum Helden taugen). Gewiss auch gab es die „Überzeugungstäter“, die an die Utopie glauben wollten (am Anfang der DDR wenige und am Ende wieder).

Ich erinnere daran ohne moralischen Zeigefinger, ohne Vorwürfe, sondern um zu vergegenwärtigen, dass Vielen die DDR fast bis zu ihrem Ende (und gerade auch uns innerhalb der DDR) auf entsetzliche, fast aussichtslose Weise stabil erschien, wie ja das ganze Sowjetsystem auch. Das war doch unsere doppelte Wahrnehmung: In der Nähe, im eigenen unmittelbaren Erfahrungsbereich, hatte man den Eindruck, das Ganze kann nicht mehr lange funktionieren, der Laden bricht zusammen. Aber die offizielle Darstellung und der Eindruck über die Westmedien war ganz anders: Die DDR erschien da als ein vergleichsweise erfolgreiches Land, als politisch stabiles System.

Umso jäher die Wendung der geschichtlichen Dinge 1989/90, umso überraschender der Sturz der Diktatur, die friedliche Revolution und ihr Erfolg. Das war ja – für die Beteiligten und erst recht für die Unbeteiligten – nicht zwingend vorhersehbar, war nicht „gesetzmäßig“, nicht logisch und unvermeidlich. Es bedurfte einer Reihe historischer Vorläufer, an die ich dankbar erinnern will und des Zusammenwirkens verschiedener Ereignisse, Konstellationen, Kräfte:
Es bedurfte der Entspannungspolitik, der im KSZE-Prozess mündete, also der Überwindung des kalten Krieges durch die westliche Entspannungspolitik (die innere Differenzierungen im Ostblock, in den kommunistischen Ländern, möglich gemacht hat). Ich erinnere an die russischen Dissidenten von Sacharow bis Solschenizyn. Ich erinnere an das Vorbild der tschechischen Charta 77 (mit meinem „politischen Heiligen“ Vaclav Havel, dessen Buch „Versuch in der Wahrheit zu leben“ die wichtigste politischen Lektüre meiner DDR-Existenz war). Es bedurfte des polnischen Papste Karol Wojtyla und seines Besuches 1979 in Warschau und seiner Ansprache vor einer Million Menschen: „Habt keine Angst!“ – das ging unsereins durch Mark und Bein). Es bedurfte der Kraft und der Ausdauer des disziplinierten Mutes der polnischen Oppositionsbewegung Solidarnosc – bis zu ihrer grandiosen Erfindung des Runden Tisches (und Solidarnosc hätte es eben auch nicht ohne die polnische Katholische Kirche gegeben). Es bedurfte der Intelligenz der ungarischen Reformkommunisten, die die Grenze öffneten. Es bedurfte der Perestroika-Politik Gorbatschows, der Gott sei Dank, die in der DDR stationierte Rote Armee nicht gegen die Demonstranten zum Einsatz brachte. (Man stelle sich vor, Gorbatschow hätte mit seiner Reformpolitik Erfolg gehabt und das sowjetische System erfolgreich reformieren können, welchen Grund hätte er gehabt, die DDR und die anderen osteuropäischen Länder freizugeben?) Es bedurfte des ökonomischen wie des moralischen Desasters der SED-Politik, die auf der ganzen Linie gescheitert war. Und es bedurfte vor allem auch der Zivilcourage der Oppositionsgruppen, aber auch der Desillusionierung der DDR-Bürger und der Überwindung unserer Angst, die ja die halbe Macht einer Diktatur ist. Und nicht vergessen werden darf schließlich auch die Handlungsfähigkeit westlicher Politiker von Helmut Kohl von George Bush sen.!

Erst im Zusammentreffen dieser Voraussetzungen und Entwicklungen wurde sichtbar und wirksam, dass die Raison d´être der DDR verbraucht und zerstört war. Die DDR hatte ja nie eine eigene nationale Identität, sondern nur einen einerseits sicherheits- und machtpolitischen Existenzgrund als Westposten des sowjetischen Imperiums und andererseits einer immer prekäre und immer labile ideologische Identität, zunächst aus Antifaschismus gespeist, dann aus marxistisch-leninistischer Ideologie.

Auch aus Sicht der kommunistischen Staatspartei SED hatte die DDR ihre Rechtfertigung nur als „Alternative“ zur bürgerlichen, kapitalistischen Bundesrepublik. Doch wo die Ideologie nicht mehr geglaubt wird, wo die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit unüberbrückbar geworden ist, wo der Vorposten unnötig wird, da zerbricht die Basis für den mit so viel Mühe und Druck erbauten Staat: Der revolutionäre Zusammenbruch ist die Konsequenz.

Es war also eine Mischung von inneren Faktoren und Entwicklungen einerseits und von Politik, von Einwirkungen von außen, die zum Ende der DDR der ost-mitteleuropäischen Diktaturen und der Sowjet-Diktatur geführt hat. Über deren Gewichtungen mögen Historiker streiten.

Es ist üblich geworden, nicht nur den Beitrag der westlichen, der bundesdeutschen Entspannungspolitik dazu in seiner Bedeutung zu relativieren, sondern sie insgesamt infrage zu stellen. Vor allem sozialdemokratischer Politik wird der Vorwurf gemacht, sie sei zu etatistisch, zu sehr auf Moskau fixiert, zu sehr auf Stabilität und Sicherheit orientiert gewesen. Ich zitiere aus einem Interview von Joachim Gauck. Er spricht von einer problematischen Form der Entspannungspolitik „Statt die demokratische Opposition zu unterstützen hielten Egon Bahr, Willy-Brandt und andere Entspannungspolitiker fest an ihrer Taktik, Veränderungen nur von oben und mit den Herrschenden zu erwarten. Die Oppositionellen im ganzen Osten fühlten sich im Stich gelassen. Das war tragisch, und politisch war es eine Fehlkalkulation“. (In seine Kritik bezieht Gauck übrigens die Politik Angela Merkels ein.)

Das ist ja der Grundton post festum gegen die vor allem sozialdemokratische Entspannungspolitik: Sie sei zu sehr sicherheits- und stabilitätsorientiert gewesen, zu moskaufixiert, zu rücksichtslos gegenüber den Mittel-Osteuropäern, gegenüber den Oppositionellen und Dissidenten. Ich will dagegen meine Erinnerungen stellen, die mir solche Urteile erschweren, auch im Nachhinein. Ich erinnere an Schicksalsdaten der ostdeutschen und osteuropäischen Geschichte.

  • Die erste Erhebung gegen die sowjet-kommunistische Herrschaft fand in der DDR statt – am 17. Juni 1953. Sie wurde von sowjetischen Truppen niedergeschlagen (ich war damals 9 Jahre alt und erinnere mich an die Enttäuschung meines Vaters über Konrad Adenauer: Wir gehen unter – und der redetet nur. Seitdem konnte er dessen Redensart von den „Brüdern und Schwestern in der Soffjetzone“ nicht mehr hören. Und empfand es als Hohn: Wir haben verloren und die im Westen machen einen Feiertag daraus.)
  • Es folgten 1956 die Aufstände in Polen und Ungarn (ich war 12 Jahre alt). Sie wurden von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Ich habe den Hilferuf von Imre Nagy über den Rundfunk nicht vergessen. Er wurde vom Westen überhört, weil man einen Krieg nicht riskieren wollte und weil man mit der Suezkrise befasst war.
  • Dann der 13. August 1961 (ich war 17 Jahre alt). Der Bau der Mauer erfolgte im Schutz der sowjetischen Truppen. Alle westliche Rhetorik hatte ihn nicht verhindern können. Kennedy hatte ihn akzeptiert, hatte die Abgrenzung der Machtsphären akzeptiert, hatte die heiße Konfrontation vermieden. (Und ich war auf der falschen Seite, war eingesperrt, mit diesem Grundgefühl begann mein letztes Schuljahr.)
  • 1968 (ich war damals 24 Jahre alt): Der Versuch eines menschlichen, demokratischen Sozialismus im Prager Frühling wurde unter Führung der sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Über emphatische Solidaritätsbekundungen hinaus konnte und wollte der Westen nichts tun, denn Prag lag in der sowjetischen Machtsphäre.
  • 1980/81 (ich war 37 Jahre alt): Die polnische Bewegung Solidarnosc wurde mit einem Kriegsrecht im Schutz der sowjetischen Truppen unterdrückt. Die Zweiteilung der Welt galt noch, die Aufteilung in Machtsphären, die Breshnew-Doktrin der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ in einer lebensgefährlich-hochgerüsteten, gegeneinander gerüsteten Welt.

Ich erinnere an das alles ohne flotten moralischen Vorwurf. Sondern ich will Ihnen vergegenwärtigen: Die Geschichte der DDR und unserer östlichen Nachbarn (auch meine Geschichte) war eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen und der Niederlagen – bis am Schluss nur der Mut der Verzweiflung geblieben war.

All die genannten Ereignisse hatten immer wieder dieselbe bitterharte Einsicht vermittelt: Erst wenn sich in Moskau etwas ändert, dann sind vielleicht auch bei uns Änderungen möglich. (Ja, das war Moskau-Fixierung, das war unsere unausweichliche Moskau-Fixierung!)

Und dann tatsächlich, 1987/88/89 änderte sich etwas in Moskau. Gorbatschows Politik von „perestroika“ und „glasnost“, also Reformen und Transparenz! Aber dieser Gorbatschow wäre ohne die „moskaufixierte“ Entspannungspolitik, ohne Helsinki nicht möglich geworden! Und dieser Gorbatschow gab nicht den Schussbefehl am 9. Oktober 1989 in Leipzig, also gab es auch keinen Schussbefehl aus Ost-Berlin! Die friedliche Revolution wurde möglich.

Lassen Sie mich aber noch einmal weiter zurückblicken. Die Veränderung der Politik gegenüber dem Osten, die neue Entspannungspolitik, war eine Reaktion auf die Ohnmachtserfahrung des 13. August 1961 – vor allem die der Berliner. Brandt und Bahr haben das in ihren Erinnerungen beschrieben.

Der Mauerbau war ja eine Niederlage, verriet ein doppeltes Scheitern. Für den Osten, für die SED-Führung: Dass die neue kommunistische Ordnung nur gegen den Willen des Volkes möglich sein würde, das also zu diesem Zweck eingesperrt werden musste. Und für den Westen: Dass die rhetorisch-konfrontative und auch die militärisch-konfrontative Politik die Verhältnisse nicht änderte, sondern vielmehr zementierte.

Es war unübersehbar geworden: Die Ost-West-System-Konfrontation, ausgetragen als Kalter Krieg, sollte wenigstens nicht zu einem heißen Krieg in Europa führen (der dafür ersatzweise in dritten Welten stattfand). Diese Konfrontation hatte zu Hochrüstung geführt, zu einem Gleichgewicht des Schreckens, einem immer gefährdeten Frieden mit wahnwitzigen ökonomischen und auch menschlichen Unkosten – deren Last den Osten härter traf, viel härter.

Die Antwort auf diese Situation und Erfahrung war das Konzept der Entspannungspolitik:

  • Realitäten, die durch Konfrontationspolitik nicht zu ändern sind, muss man zunächst anerkennen um sie mittel- und langfristig friedlich ändern zu können.
  • Statt Verschärfung von Gegensätzen ist Annäherung nötig, die Spannung und Erstarrung lockert und damit Wandel erst möglich macht.
  • Verlässliche Sicherheit, Minderung von gefährlichen Risiken verlangt nach einem Konzept, das auf gemeinsame Sicherheit, auf das (am Schluss doch) gemeinsame Überlebensinteresse setzt und nicht mehr auf Sicherheit gegeneinander.
  • Das alles sollte erreicht werden mit einer Politik der kleinen Schritte, der Vereinbarungen und Verträge für Abrüstung, für wirtschaftlichen Austausch, Handel und Verflechtung, vor allem aber für menschlichen Austausch, menschliche Begegnungen und Erleichterungen.

Wir Ostdeutschen waren (neben den West-Berlinern) das Ziel dieser Politik, waren deren Nutznießer! Eine persönliche Erinnerung: Im Dezember 1964, ich war zum Studium nach Ost-Berlin gekommen, ging ich zum S-Bahnhof Friedrichstraße, um mir anzusehen, wie das Passierscheinabkommen zwischen Westberliner Senat und DDR-Regierung funktionierte. Ich erlebte wie die Westberliner Verwandten durch die Kontrolle kamen und ihre Ostberliner Verwandten umarmten… Ich war tief gerührt. Vermutlich bin ich damals innerlich Sozialdemokrat geworden. Weil ich erlebt habe, was demokratische Politik sein kann, was sozialdemokratische Politik sein muss für Menschen, die nicht selbst für sich Politik machen konnten, nämlich für die auf unterschiedliche Weise eingesperrten Ost-Berliner und West-Berliner. Nicht bloß große Worte, nicht bloß moralisch gesättigte Rhetorik, sondern konkrete Taten für konkrete Menschen! So sollte demokratische, stellvertretende Politik sein!

Später dann in den 70er Jahren folgten die deutsch-deutschen Verträge, der Besuch Willy Brandts in Erfurt, die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung und Hilfe für die DDR, sogar der Häftlingsfreikauf, bis zum Kredit von Franz-Josef Strauß… All das hat die große Mehrheit der Ost-Deutschen mit Hoffnungen, mit Erleichterung und Zustimmung erlebt und begleitet. Ohne, dass die Wut auf die kommunistischen Herrschaften abgenommen hätte! Ohne, dass das kommunistische System dadurch stabilisiert worden wäre (im Gegenteil)!

Die westdeutsche Ost- und Entspannungspolitik konnte gelingen und erfolgreich sein aus mindestens 5 Gründen:

  1. Sie war eingebettet in die westliche Politik, die Strategie der USA von Kennedy bis Kissinger.
     
  2. Sie hatte die westliche, wirtschaftliche und vor allem auch militärische Stärke zur Grundlage, vor allem das Abschreckungspotential der USA. (Das sollte heute nicht vergessen werden.)
     
  3. Aber auch das, was man heute wohl „soft power“ nennt, war auf westlicher Seite ein Pfund: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand, die kulturelle und gesellschaftliche Attraktivität des Westens. Unser Ostdeutscher Blick war meist nach Westen gerichtet, jeden Abend sind wir via Fernsehen in den Westen ausgewandert.
  4. Die Sowjetunion war nicht mehr die aggressive Diktatur Stalins, sondern spätestens unter Breshnew eine konservative Macht geworden, die ihr Imperium vor allem bewahren wollte und sich deshalb auf Verträge einließ.
     
  5. Die inneren Widersprüche in der Sowjetunion und erst recht in deren gesamten Herrschaftsbereich, hatten zugenommen – zwischen den Modernisierungskräften und -notwendigkeiten und den politischen, ideologischen, ökologischen Fesseln. (In der DDR hätte man von der Widerspruchs-Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gesprochen.)

Aus diesen Gründen, mindestens, konnte die Entspannungspolitik gelingen und auf immer höchst mühevolle Weise gelingen und erfolgreich sein:

  • Sie ermöglichte Verträge der militärischen Mäßigung, des Abbaus von Risiken, des wirtschaftlichen Austausches zu gegenseitigem Nutzen.
  • Sie ermöglichte Verträge der Einflussnahme zur Verbesserung der Lebensbedingungen, der Aufrechterhaltung, der menschlichen Beziehungen (Westbesuche für Rentner, Ostbesuche für Westdeutsche und West-Berliner).
  • Sie ermöglichte die Überwindung, wenigstens Entschärfung nicht nur der militärischen, sondern auch der politisch-ideologischen Schützengraben-Situation und damit eine Entkrampfung im Inneren des Sowjet-Systems – und damit auch (allerdings immer nur relative) innere Liberalisierungen und Differenzierungen: Die Helsinki-Schlussakte war motivierend, war Berufungsinstanz für die östliche Opposition und Dissidenz (z.B. Charta 77).
  • Sie ermöglichte schließlich auch Gorbatschow und das Wunder von Leipzig und das Freilassen der kommunistischen Satellitenstaaten und den Zerfall des kommunistischen Systems und den Abzug der Roten Armee, die Überwindung der deutschen Teilung und der europäischen Teilung.
  • Sie ermöglichte das Ende einer Diktatur, die immerhin 70 Jahre Bestand hatte und Deutschland 45 Jahre geteilt.

Natürlich war das nicht allein Verdienst der Entspannungspolitik! Aber diese war eine der wesentlichen Faktoren für diese glückliche Wendung unserer Geschichte.

Bei der Bewertung dieser Politik – insgesamt positiv – ist für mich entscheidend: Die Ost- und Entspannungspolitik der 60er bis 80er Jahre (also von Brandt bis Kohl) hatte dominant politische Ziele, nämlich Milderung und Überwindung der Teilung Deutschlands, Abbau der militärischen Gefährdungen in einer militärisch und ideologisch gegeneinander hochgerüsteten Welt. Für diese Politik waren Wirtschaft und Handel ein (gewiss nicht unwichtiges) Instrument.

Für die Ost- und die Russlandpolitik der 2000er bis 2020er Jahre (von Schröder bis Merkel) war es umgekehrt, sie hatte wirtschaftliche Ziele und Politik war deren Instrument. Dieser Politik ging es – erklärlicher Weise – um die Sicherung unseres Wohlstands durch sichere und verlässliche Rohstoff- und Energielieferungen aus dem unendlich reichen Russland – in der Hoffnung, dass Russland ein verlässlicher Partner sein und bleiben würde.

In der Hoffnung, die wir doch alle teilten, an die wir glauben wollten: Dass mit dem Erfolg der friedlichen Revolution und der Überwindung der europäischen Teilung ein goldenes Zeitalter des Friedens beginnen könnte. Dass wir Deutschen in einem Zustand historischen Glücks lebten, nämlich umzingelt von Freunden, im Frieden mit allen Nachbarn, in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt hatten. (Wann hat es das in unserer deutschen Geschichte jemals zuvor gegeben!) Dass ein Siegeszug der Demokratie begonnen habe, wie Francis Fukuyama prophezeit hatte. Dass eine Welt des Friedens, der Regeln und Verträge, des weltweiten und wirtschaftlichen und kulturellen Austausches möglich würde, ja schon da sei – die Globalisierung. Erinnern sie sich an diese Euphorie!?

Damals schien das alles keine Illusion. Gewiss, China störte ein wenig, die Vielzahl von autoritären und diktatorischen Herrschern, der Terrorismus, der Islamismus. Vieles, was uns abgelenkt hat, das wahrzunehmen was unsere Hoffnungen auf wohl längere Zeit zur Illusion gemacht hat: Putin-Russlands Weg zu einer neuerlich aggressiven imperialen Macht. Spätestens 2014, seit der Annexion der Krim, hätten wir das nicht übersehen dürfen! Das ist wohl ein schuldhafter Fehler. Allerspätestens seit dem 24. Februar 2022 sind wir nun endgültig aus dem heiteren Himmel der Euphorie und des Leichtsinns gefallen, in den wir, in den der Westen durch den Erfolg der friedlichen Revolutionen, des Zusammenbruchs des Sowjet-Kommunismus, des Ost-West-Systemkonflikts, geraten war.

Seit dem 24. Februar 2022 jedenfalls leben wir in einer anderen Welt, mindestens in Europa, in einer Welt, die sich von der früheren Welt der Entspannungspolitik deutlich unterscheidet und sehr fraglich macht, ob von damals etwas für heute noch zu übertragen, noch zu lernen ist.

  • Aus der bipolaren Welt des System-Konflikts ist eine multipolare (polyzentrische) Welt geworden, in der China einer der großen Spieler ist. Der globale Süden hat größeres Gewicht, dessen Staaten wollen eine wichtigere Rolle spielen.
  • Russland ist eben nicht eine konservative Macht, sondern unter Putin (so wie unter Stalin) eine aggressive revisionistische Macht geworden, die wieder Imperium sein will.
  • Wir haben es mit vielen autoritären Regimen und durchaus unterschiedlichen Diktaturen zu tun. Nach 1990 hat leider kein Siegeszug der Demokratie stattgefunden. Im Gegenteil: Unsere Art von liberaler und rechtsstaatlicher Demokratie ist die Ausnahme, nicht die Regel auf unserem Globus.
  • Der Westen erscheint geschwächt, trotz der immer noch vorhandenen militärischen Stärke der USA. Die amerikanische Hegemonie bröckelt: Der Irak-Krieg und der Abzug aus Afghanistan zeigen es und die Trumpsche Politik ist ein Menetekel. Dazu kommt die innere Zerrissenheit vieler demokratischer Länder.
  • Die antiwestlichen Ressentiments und der Antiamerikanismus sind unübersehbar global verbreitet. Zu beobachten ist insgesamt ein moralisch-politischer Glaubwürdigkeitsverlust des Westens.

Eine ziemlich andere Welt: Sind also die alten Erfahrungen überhaupt noch irgendwie brauchbar – entweder als positiver Anknüpfungspunkt oder wenigstens als negativer Abstoßungspunkt??

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und der letzten Jahrzehnte liefern jedenfalls keine einfachen Lehrsätze oder gar ein Drehbuch für den Umgang mit Diktaturen. Weil die Welt heute vielfältiger, die Diktaturen und autoritären Regime unterschiedlicher, die Konstellationen verworrener und verwirrender sind. Deshalb formuliere und erörtere ich zehn eher vorsichtige Folgerungen aus den bisher angesprochenen Beobachtungen und Erfahrungen:

  1. Was gegenüber der Nazidiktatur, die den Kontinent mit einem verbrecherischen Krieg überzogen hatte, die einzige Möglichkeit war, ihm nämlich eine totale Niederlage zuzufügen, das war schon gegen die Atommacht Sowjetunion nicht mehr möglich (sondern nur noch eine Politik des Containment und der Abschreckung). Das gilt auch für China und wohl auch für die Atomstaaten Nordkorea, Iran, Pakistan. (Und auch für Diktaturen ohne Atomwaffen gilt: Militärische Überwindungsstrategien wären abenteuerlich.)
  2. Versuche des „regime change“ von außen, also gewaltsame Demokratisierungen sind – mit Ausnahme von Deutschland und Japan 1945 (auch Österreich und Italien) eigentlich immer gescheitert. Ich erinnere an Vietnam und Kuba. Der Abzug aus Afghanistan, dieses Fiasko, gehört zur Vorgeschichte von Putins Überfall auf die Ukraine. Und der Irak-Krieg der USA gründete auf einer Lüge und endete ja ebenfalls in einem Fiasko. (Ich lasse das unangenehme Beispiel Chile beiseite, wo die politisch-militärische Intervention der USA zu einer Diktatur geführt hat.)
     
  3. Was gegenüber einer am Schluss materiell wie ideologisch ziemlich maroden Sowjet-Diktatur vernünftig und erfolgreich war - nämlich die Mischung aus militärisch-ökonomischer Stärke des Westens, seiner materiellen und ideellen Anziehungskraft und der Kooperations- und Vertragsbereitschaft auf beiden Seiten – dieser politische Mix muss gegenüber einem kraftstrotzenden China nicht erfolgreich sein. Einem China, das unter Führung Xi Jingpin im letzten Jahrzehnt wieder eine deutlich repressivere Diktatur nach innen geworden ist und nach außen auf eine systemische Veränderung der internationalen Ordnung zielt. Einem China, von dem Deutschland und Europa ökonomisch-technologisch weit abhängiger sind, als wir es von Russland jemals waren.
     
  4. Wenn die Realitäten zu der nüchternen Einsicht zwingen, dass gegenüber dieser oder jener bestimmten Diktatur (oder gar überhaupt gegenüber Diktaturen) weder militärisch-konfrontative noch moralisch-rhetorisch konfrontative Politik nennenswerte Wirkungen erzielt oder erfolgreich ist, dann geht es darum,  einen modus vivendi zu finden, der die Perspektive der Diktaturüberwindung offen hält, auch wenn diese nicht das realistische politische Nahziel sein kann. Das relativiert die nicht selten verabsolutierte Entgegensetzung von wertefundierter, menschrechtsorientierter Politik einerseits und pragmatischer interessengeleiteter Realpolitik andererseits.

    Ich erinnere daran: Die von Brandt begründete Ost-Politik war wertegeleitete Politik. In ihr galt der Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft. Unter Schröder /Merkel fand (nach und nach) eine Umkehrung statt: die legitimen, verständlichen Wirtschaftsinteressen wurden dominant. Zielte die ursprüngliche Ost-Politik auf Stabilität, um den Abbau von gefährlichen Spannungen, um Änderungen zugunsten der Menschen zu erreichen – so wurde Stabilität später tendenziell zum Zweck, um des wirtschaftlichen Austausches und des lieben Friedens willen. Was (auch im Rückblick) nicht geringgeschätzt werden sollte.
     
  5. Die Erfahrung zeigt, dass Einwirkung auf Diktaturen von außen, zumal konfrontative Versuche, wenig oder nichts erreicht. Umso wichtiger sind die inneren Entwicklungen in einer Diktatur, also die inneren Widersprüche, die Stärke und Erschöpfung der Macht, die Erosion ideologischer Rechtfertigungs- und Disziplinierungsgerüste, die enttäuschten und verbrauchten Hoffnungen, die Unzufriedenheiten mit dem Status quo und vor allem die Widerstands- und Aufbegehrenskräfte der Zivilgesellschaft!

    All dies ist von außen nicht zu steuern, aber aufmerksam zu beobachten, zu begleiten und moralisch und kommunikativ zu unterstützen: So viel Aufmerksamkeit, so viel Solidarität wie möglich mit den Unterdrückten und Aufbegehrenden in Diktaturen!! Dialog, so mühselig und oft erfolglos, mit den Herrschenden ist angebracht, aber ebenso selbstverständlich und verpflichtend mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren. (Das ist ja eigentlich auch eine gute Tradition westlicher Besuche geworden.) Die Vermeidung wirkungsloser rhetorischer Kraftmeierei darf und muss ja nicht Leisetreterei bedeuten. Im Gespräch bleiben zu wollen und zu können, heißt auf der Freiheit zu bestehen, die Themen und Partner wählen zu können, auch und gerade in und gegenüber Diktaturen.
     
  6. Moralische, wertegeleitete Politik gegenüber Diktaturen erfolgreich zu betreiben, ja durchzusetzen, das setzt, wenn sie mehr als Rhetorik sein will, einiges voraus. Denn der moralische Anspruch, die berechtigte Empörung sie reichen nicht! Zu den Voraussetzungen gehören:
  • eine (einigermaßen unangefochtene) moralische und politische Autorität,
  • (sofern notwendig und angemessen) militärisches Drohpotential,
  • wirtschaftliche Sanktionsmacht (wir erleben es gerade),
  • soft power, also die eigene Anziehungs- und Überzeugungskraft,
  • selbstverständlich die Fundierung solcher Politik auf Regeln und Verträgen, auf Völkerrecht,
  • die tendenziell globale Unterstützung (der UNO?), wenigstens über den eigenen politischen Kreis hinaus Bündnispartner zu finden für die eigene Politik (deshalb sind gegenwärtig Brasilien, Südafrika, Indien usw. so wichtig geworden).

Der nüchterne Blick auf all dies zeigt einen bitteren Zwiespalt zwischen (hohem) moralischem Anspruch und der Begrenztheit der eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten. Das gilt für unsere deutsche Politik, aber auch für Europa insgesamt und selbst für die USA.

  1. Menschenrechte, Demokratiestandards, Rechtsstaatlichkeitsstandards – das sind selbstverständlich notwendige Werte, Maßstäbe, Ziele für die Außenpolitik demokratischer Staaten. Aber auch soziale Gerechtigkeit und Sicherheit, Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Friedens sind fundamentale Werte, Maßstäbe, Ziele. Deren Verwirklichung ist im gemeinsamen, im globalen Überlebensinteresse. Daraus ergeben sich Felder vernünftiger und notwendiger gemeinsamer politischer Aktivitäten über Systemgegensätze hinweg, für die Zusammenarbeit politischer Antipoden, also für politischen, wissenschaftlich-technologischen, wirtschaftlichen Austausch – ohne die Illusion, dass Handel immer Wandel bewirken müsse. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit über politische Unterschiede und Gegensätze hinweg zu internationalen Vereinbarungen zu kommen, wie es etwa das Pariser Klimaschutzabkommen darstellt, für dessen Umsetzung es weiterer Vereinbarungen und Verträge bedarf. Notwendig sind auch dringend neue Abrüstungsvereinbarungen, notwendig sind international vereinbarte Regeln zur friedfertigen demokratie- und menschenfreundlichen Nutzung der Künstlichen Intelligenz usw. usf.
    Es wird nicht anders gehen, als auch mit Nichtdemokratien solche Felder gemeinsamer (Über-)Lebens-Interessen zu definieren und für sie gemeinsame Abkommen zu schließen. Das ist keine amoralische Realpolitik.
     
  2. Ein paar Bemerkungen zur Politik gegenüber Putin-Russland sind wohl nicht zu vermeiden. Nach 1989/90, also dem Ende des Sowjet-Systems, war es durchaus sinnvoll Russland durch eine kooperative Politik in der Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie unterstützen zu wollen. Wirtschaftsbeziehungen und energiepolitische Verflechtung sollten dazu dienen, Russland zu transformieren, zu stabilisieren und nach und nach in europäische Strukturen zu integrieren. Diese Erwartung ist bitter enttäuscht worden, spätestens durch den Ukraine-Überfall, aber sie ist schon im Jahrzehnt davor durch Putins Politik konterkariert worden.

    Die unvermeidliche Enttäuschung darüber sollte allerdings nicht dazu führen, in einer Art negativer Euphorie alle bisherige sozialdemokratische Politik moralisch zu verdammen, alle Ideen, Konzepte, Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. (Vielleicht werden wir einige nach dem Krieg wieder brauchen?)

    Gegen mögliche Entspannungsromantik, wie auch gegen Kalte-Kriegs-Nostalgien sollten wir uns jedoch daran erinnern, dass die Entspannungspolitik, wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr gestaltet worden ist, zwei Voraussetzungen hatte: einerseits die (auch militärische) Stärke des Westens, das Abschreckungspotential der USA und andererseits die Bereitschaft der Sowjetunion, sich auf Verhandlungen und Kooperationen einzulassen, im Unterschied zu Putin-Russland heute. Damals konnte das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ und der „Sicherheit nicht gegeneinander, sondern miteinander“ erfolgreich werden, konnten Verhandlungen geführt und Kooperationen vereinbart werden – bis hin zur KSZE, also zur „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ mit ihrem folgenreichen Vertragswerk, der Helsinki-Schlussakte.

    Heute stehen wir vor einer gänzlich anderen Herausforderung als in den 1960er bis in die 2000er Jahre. Putins Aggression hat die Welt, mindestens die europäische, verändert. Und deshalb ist auch militärische Solidarität mit der Ukraine so notwendig: für ihre Selbstverteidigung, für ihr Überleben! Da haben wir Sozialdemokraten ganz entschieden die Pflicht zu jeder verantwortbaren Form von Solidarität! Daran darf keinerlei Zweifel entstehen. Wir sind Partei auf Seiten der Ukraine!

    Aber zugleich sollte es erlaubt sein, ja eigentlich eine Pflicht, schon im Krieg über den Krieg hinauszudenken. (Deshalb habe ich vor einigen Wochen einen entsprechenden Appell für Waffenstillstandsbemühungen unterschrieben.)

    Denn: Was folgt nach dem Ende des Krieges, dem ukrainischen Opfergang, dem unsäglichen Leiden und Elend, die lange fortwirken werden? Putin ist ein Kriegsverbrecher. Er ist ein Verbrecher, der über Atomwaffen verfügt, deshalb kann er nicht ignoriert und militärisch nicht besiegt werden. Das ist die bitterböse Tatsache, die weder hinwegdemonstriert, noch hinweg-gehofft und -gewünscht werden kann. Wie aber soll man mit einem Lügner und Verbrecher, der mit seiner blutigen Invasion so viele Verträge gebrochen hat, wie soll man mit Putin wieder verlässliche Vereinbarungen treffen? Ich weiß es nicht. Ich teile die kollektive Ratlosigkeit. Aber trotzig meine ich: Diplomatie muss wieder zu ihrem Recht kommen, damit die Waffen irgendwann, möglichst bald, schweigen können!  Und wenn die Waffen schweigen, muss es wieder um Politik gehen!

    Putin ist nicht gleich Russland. Das dürfen wir trotz all unserer wütenden Enttäuschung nicht vergessen. Mit der Erfahrung des Ukraine-Krieges erscheint es unabweisbar, dass Europa zunächst und mehr als zuvor seine Sicherheit gegen Putin-Russland organisieren und stärken muss. Aber nicht Jalta, sondern Helsinki muss trotzdem das Motto sein! Denn Russland ist und bleibt ein gewichtiger Teil Europas und sollte – spätestens nach Putin – zur Perspektive einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, die Putin gerade zerstört hat, gehören.

    Mir ist eine These von Carl-Friedrich von Weizsäcker aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts dauerhaft im Gedächtnis geblieben: Er vertrat damals die Auffassung, dass das Gefährliche der seinerzeitigen Weltsituation darin bestand, dass eine der beiden Weltmächte, also die Sowjetunion, nur militärisch stark sei und in allen anderen Hinsichten, also wirtschaftlich-technologisch und zivilgesellschaftlich schwach sei. Diese Beschreibung scheint mir aktuell auf Putin-Russland zuzutreffen. Denn Putin hat aus dem unendlichen Reichtum seines Landes nichts anderes gemacht, als diesen Reichtum für Hochrüstung zu nutzen, um der Wiedererrichtung russischer imperialer Macht willen und um sein autoritäres Herrschaftssystem aufzubauen. Das macht dieses riesige Land labil und gefährlich. (Die Innovationsquote Russlands, so war neulich zu lesen, entspricht etwa der von Belgien!!) Deshalb wird Europa, wird der Westen nach dem Krieg und nach Putin verpflichtet sein, der Ukraine beim Wiederaufbau zu helfen. Aber er wird auch der Verpflichtung nicht entgehen können, Russland bei seinen notwendigen Modernisierungsprozessen partnerschaftlich helfen zu müssen. Denn: Russland ist auch dann noch gewichtiger Teil Europas und bleibt notwendig für eine neue und dann hoffentlich verlässlichere Friedensordnung.
     
  3. Gegenwärtig geht es wohl vor allem um die Selbstverteidigung des Westens – nicht um seine Expansion! Es geht also um die Verteidigung der liberalen und rechts- und sozialstaatlichen Demokratien des Westens!
  • Wir sollten aus Erfahrung klug werden und Fehler nicht weiter machen, also unsere gefährliche Abhängigkeit, nicht nur von Russland, sondern vor allem auch von China verringern. „De-Risking“ hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen dies genannt.
  • Wir haben an der neuen (gewissermaßen durch Putin erzeugten) Geschlossenheit der Nato und ebenso an der labilen Einheit Europas zu arbeiten. Es gibt ja nicht wenige Dissense in Europa, die gar nicht alle aufzuzählen sind. Nur auf eine Differenz will ich hinweisen: Europa könnte sich spalten, so las ich bei einem polnischen Politikwissenschaftler, in die Länder, die einen baldigen, gemäßigten Friedensschluss wollen und diejenigen, die einen deutlichen Sieg über Russland wollen. Das ist mehr als ein relativer Unterschied. Die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa ist der Überzeugung, dass erst eine absolute Niederlage Putin-Russlands die Voraussetzung für ein anderes demokratischeres Russland schafft.
  • Wir müssen die Demokratie verteidigen in unseren Ländern gegen populistische und extremistische Kräfte und Erosionstendenzen. Denken Sie an Ungarns und Polens „illiberale Demokratien“, an das Erstarken rechtspopulistisch-extremistischer Parteien in Skandinavien, Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland, denken Sie an die Trump-Erfahrung.
  • Schließlich geht es um die Art, wie wir den Universalismus der Aufklärung und der Menschenrechte, der Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen – gegen deren „kulturelle“ Relativierung, gegen deren Verdächtigung als „weiße“, als „rassistisch-kolonialistische“ Konzepte. Diese Verteidigung wird nur gelingen ohne westliche Arroganz, mit Selbstkritik (die Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist ja eine der großen Vorzüge der Demokratie), Selbstkritik an der Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus, an den „Doppelten Standards“, die dem Westen ja zu Recht vorgeworfen werden können.
     
  1. Die Selbstbehauptung der Demokratie gegen die autoritären Versuchungen und die Angriffe der Diktaturen (auch gegen die Verheißungen des Modells China) wird nur gelingen, wenn unser europäisches Modell sich in dieser Zeitenwende bewährt. Unser europäisches Modell, das meint, die Fähigkeit, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technologischen Fortschritt zu organisieren und damit Wohlstand zu mehren – dies zu verbinden mit Sozialstaatlichkeit und gerechtem Ausgleich – und unter Wahrung und Sicherung der individuellen Freiheiten und von Rechtsstaatlichkeit. Dieses Modell muss sich bewähren in der gegenwärtigen Polykrise, der Gleichzeitigkeit verschiedener dramatischer und umwälzender Prozesse: von der veränderten Globalisierung über die Migrationsschübe, die digitale Transformation, bis zur fundamentalen ökologischen Bedrohung, deren Bewältigung radikale Änderungen unser Produktions- und Konsumtionsweise verlangt.

    Diese Bewährungsproben zu bestehen, das verlangt viel, sehr viel – nicht nur von der Politik, sondern auch von der Bürgergesellschaft insgesamt. Verlangt eine neue Ernsthaftigkeit, eine Konzentration auf das wirklich Wichtige, verlangt viel mehr Solidaritätsbereitschaft und die Überwindung eines grassierenden Freiheitsnarzissmus und individualistischen Egoismus.

    Die gemütlichen, glorreichen, durch Wohlstandswachstum beruhigten Zeiten sind wohl erstmal vorbei. Härtere globale und innergesellschaftliche Konflikte kommen auf uns zu, weil nicht einfach und immer ein Mehr zu verteilen ist. Davor können wir uns nicht drücken.

    Aber erinnern wir uns: Die DDR- und Osteuropaforschung hat vor 1989 nicht mit einer friedlichen Revolution gerechnet, die Oppositionskräfte kamen bei ihr nicht vor, sie waren wirklich ungeahnt. Das heißt: Wider alle Prognosen, Erwartungen, Befürchtungen, darf man mit Überraschungen rechnen, darf man auch positive Überraschungen nicht ausschließen.