Unterschrift Wolfgang Thierse

15. Dezember 2022

 
15. Dezember 2022

DIE ZEIT - "Schluss mit der Angst vor Austritten"

                                                                                                        DIE ZEIT Nr. 52 - 15. Dezember 2022

 

„Schluss mit der Angst vor Austritten“

Ein Generationengespräch  über wütende Gläubige und Tempo 100 für Bischöfe. In Berlin trafen sich die Pfarrerin Corinna Zisselsberger, der Jesuit Klaus Mertes und der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse

 

DIE ZEIT: Frau Zisselsberger, Herr Mertes, Herr Thierse, fast neunzig Prozent der Kirchenmitglieder bejahen die Frage, ob man auch ohne Kirche Christ sein kann. Was glauben Sie?

Corinna Zisselsberger: Als Pfarrerin sage ich natürlich nein. Christsein heißt für mich, dass ich zu einer Gemeinschaft der Glaubenden und Hoffenden gehöre. Aber ich verstehe, dass immer mehr Menschen die Institution ablehnen. Sie ist eine Blase, die von vielen als skurril und fremd empfunden wird. Ich werde in meiner eigenen Kirche in Berlin immer wieder gefragt, ob ich katholische oder evangelische Pfarrerin bin. (lacht)

Thierse: Mich halten die Leute nach dreißig Jahren als Politiker immer noch für einen Pastor. Ich sage dann: Das ist ein ehrenwerter Beruf, aber nein. Ich bin ja noch nicht mal evangelisch, sondern katholisch. Dann rufen die Leute: Das gibt es doch gar nicht!

ZEIT: Was stellen die sich unter katholisch vor?

Thierse: Fremd, gestrig, vorgestrig. Inquisition. Da kommen viele Klischees zusammen. Als ich den Papst besucht habe, hieß es im Fernsehbericht, das sei eine schöne ökumenische Begegnung gewesen. (alle lachen)

ZEIT: Sie sehen wohl aus, wie man sich einen evangelischen Pfarrer aus dem Osten vorstellt.

Klaus Mertes: Ich trage wie Herr Thierse Pullover, weil Jesus auch keinen Priesterkragen getragen hat. Aber Ihre Frage, ob ich als Christ ohne Kirche auskomme, beantworte ich mit einem klaren Nein.

Thierse: Ich halte dagegen: Ja! Es geht ohne Kirche, aber es geht nicht lange. Man kann nicht allein Christ sein, wie man auch nicht allein Mensch oder Bürger sein kann. Unser wichtigstes Gebet heißt schließlich Vaterunser, nicht Vatermein.  

ZEIT: Warum denken so viele Deutsche, dass sie ohne Kirche klarkommen? Sind die arrogant?

Thierse: Im Gegenteil. Die Christen sind bescheiden geworden. Den alten Lehrsatz, dass es außerhalb der katholischen Kirche kein Heil gibt, glaubt kaum noch einer. Das hat natürlich mit den Missbrauchsskandalen zu tun und mit der Unfähigkeit der Kirchen, angemessen darauf zu reagieren. Außerdem haben wir Toleranz gelernt.

Zisselsberger: Als Protestantin brauche ich kirchliche Hierarchie eigentlich nicht. Trotzdem bedaure ich, dass die Aversion gegen die Kirche wächst. Ich bekomme wütende Briefe von Austrittswilligen. Zurzeit gibt es viele, die nicht ertragen, dass die evangelische Kirche sich mit den Klima-Aktivisten solidarisiert. Schade, wenn ein einzelner Grund zum Austritt führt. Die Toleranz, andere Meinungen auszuhalten, nimmt rapide ab.

Mertes: Eine tiefere Ursache, warum Leute gehen, liegt darin, dass die klassischen Dogmen nicht mehr verstanden werden. Es fällt uns schwer, sie in die Sprache der säkularen Welt zu übersetzen. Ich kenne viele Christen, die enttäuscht aus der Kirche geflohen sind und nun in die östliche Mystik eintauchen. Die Spiritualität, die sie suchen, finden sie bei uns offenbar nicht.

Thierse: Mich ärgert die modische Geringschätzung der Institutionen, bei der Kirche ebenso wie beim Rechtsstaat. Wir leben in einem Staat, der christlich geprägt ist. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren größtenteils Christen, aber haben ihre Überzeugungen in eine Sprache gefasst, die niemanden ausschließt. Das kann man nicht wegwischen, als lebten wir in einem säkularen Land. Ich denke, die Leute heute haben eine falsche, subjektivierte Vorstellung von Freiheit. Sie wollen Regisseur ihres Lebens sein, aber degradieren ihre Mitmenschen zu Statisten.

Mertes: Bei dem Wort Gemeinschaft schwingt immer etwas Unangenehmes mit: Piep piep piep, wir haben uns alle lieb. Wir müssen Meinungsverschiedenheiten aushalten lernen. Manche verlassen die Kirche, weil es Konflikte gibt, nur um woanders in neuen Konflikten zu landen.

Zisselsberger: In meinem Alltag sind Kirchenmitglieder eine Minderheit. Ich erlebe täglich den Traditionsabbruch, aber auch die Erwartung, dass wir helfen. Als Hauptstadtkirche nahe dem Alexanderplatz kümmern wir uns um Obdachlose und Drogenabhängige. Menschen ohne Berührung zum Christentum finden uns Pfarrerinnen exotisch. Wenn wir auftauchen, bringen wir ein Stück Himmel mit. Das weckt Neugier. Wenn Schulklassen aus Marzahn oder Lichtenberg in unsere Marienkirche kommen, frage ich immer, wer zum ersten Mal in einer Kirche ist. Dann gehen fast alle Kinderhände hoch. 

ZEIT: Herr Mertes, Sie waren lange Schulleiter, jetzt sind Sie pensioniert. Ist Ihnen vertraut, was der Religionsmonitor beschreibt, dass immer mehr Jugendliche von Kirche nichts wissen wollen?

Mertes: Ja, natürlich, aber ich unterscheide zwischen Atheisten und Religionslosen. Atheisten haben sich entschieden, nicht zu glauben, weil sie den Glauben, den sie ablehnen, sehr gut kennen. Die bedeutendsten deutschen Atheisten waren Pfarrerssöhne: Feuerbach und Nietzsche. Religionslose dagegen haben oft in der vierten oder fünften Generation nichts mehr mit Kirche zu tun, und betreten eine kirchliche Schule wie wir den Mars betreten würden. Für sie muss ich eine Sprache finden, die verständlich ist.

ZEIT: Sie sind jetzt pensioniert, was tun Sie?

Mertes: Ich pflege alte Mitbrüder, unterstütze eine Wohngemeinschaft für Schutzsuchende und bettele um Geld für unseren Flüchtlingsdienst. Jetzt kommen Flüchtlinge aus der Ukraine, die keine Ukrainer sind. Ich werde angefragt für Trauerbegleitung und Beerdigungen, für Taufen und Hochzeiten. Und vieles mehr.

ZEIT: Als Sie Missbrauchsfälle an Ihrer Schule publik machten, wurden Sie vom Kirchenapparat als Nestbeschmutzer abgestraft. Sie verteidigen dennoch die Kirche. Wie fühlen Sie sich damit?

Mertes: Bestens. Zwischen den Stühlen zu sitzen, das ist der Platz Jesu.

ZEIT: Was ist nun das Kriterium fürs Christsein: Taufe, Kirchenmitgliedschaft oder Glaube?

Zisselsberger: Christin oder Christ ist, wer sich selbst so definiert. Jesus schließt keinen aus, soetwas passt nicht zu einer einladenden Kirche. Für mich steht der Glaube im Vordergrund. Die Taufe ist ein Ritual die Zugehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft der formale Nachweis. Auch Ausgetretene bleiben getauft, also in der Gemeinschaft.

ZEIT: Dem Religionsmonitor zufolge sind Sie drei als vehemente Kirchenverteidiger eine aussterbende Art. Frustriert Sie das?

Thierse: Die Kirche ist nicht nur die Hierarchie, sie ist vor allem das wandernde Volk Gottes. Ihr Überleben heute hängt von den Gemeinden ab, die nämlich müssen die Kirche retten, da allzu viele Kleriker eher zerstörerisch wirken. Ich warne davor, sich schwache Kirchen zu wünschen.

ZEIT: Sie kommen aus der DDR. Dort hat eine schwache Kirche sich 1989 als stark erwiesen und eine friedliche Revolution bewirkt.

Thierse: Das war aber nicht nur individuelle Tapferkeit! Die Kirchen der DDR hatten immer Unterstützung von ihren Schwesterkirchen im Westen. Ich habe eine mildere Einstellung zur Kirche, weil ich sie gar nicht anders kenne als eine kritisierte, beschimpfte, verteufelte Institution, die man gefälligst zu verlassen hat, wenn man ein intelligenter Mensch ist. So war das von Kindesbeinen an. Ich konnte kaum lesen, da wusste ich schon von Kreuzzügen. Immer hatte ich meine Kirchenzugehörigkeit gegen dumpfe oder feinere Angriffe zu verteidigen.

Zisselsberger: Ich stimme Ihnen zu, dass es ohne Gemeinde nicht geht. Trotzdem verstehe ich, wenn Kirchenmitglieder mit uns hadern. Unser patriarchales Erbe schreckt ab.

ZEIT: Die Evangelische Kirche in Deutschland hat jetzt drei Frauen an ihrer Spitze, eine ist Mitte 20.

Zisselsberger: Endlich!

Mertes: Ich habe ständig mit einer jungen Generation zu tun, die großen Anstoß nimmt an der Rolle des Priesters.

Zisselsberger: Wenn ich katholisch wäre, dürfte ich meinen Beruf nicht ausüben.

Mertes: Ja, ich habe ehemalige Schüler, die nach dem Abitur am Canisius Kolleg oder am Kolleg Sankt Blasien ausgetreten sind, genau wegen solcher Themen. Die haben die Schnauze voll und gehen lieber zu Fridays for Future.

ZEIT: Ich sprach kürzlich mit einem Pfarrerssohn gesprochen, der mir sagte, dass er die Botschaft des Evangeliums großartig fände, aber die Kirche spiele in seinem Alltag keine Rolle.

Mertes: Es gibt beides, die heftige Abwehr und die Gleichgültigkeit. Ich kenne viele junge Katholiken, die sind verletzt von der Institution und ihrer Haltung zu Frauen, Homosexuellen, Missbrauchsopfern. Also treten sie aus. Später, wenn das erste Kind kommt, möchten sie es taufen lassen.

ZEIT: Und, machen Sie den Wiedereintritt der Eltern zur Bedingung für die Taufe?

Mertes: Nein, auf keinen Fall! Zisselsberger: In Berlin sind über 90 Prozent der Menschen keine Kirchenmitglieder. Ich will für alle da sein, auch für die Ausgetretenen. Wir hatten die erste Verteilstelle von Laib und Seele, um Bedürftige zu speisen. Wir versorgen 300 Geflüchtete aus der Ukraine. Ich feiere christliche Abschiede für einsam Verstorbene, ich taufe erwachsene Friedhofsgärtner, und neuerdings machen wir auch Pop-up-Taufen.

Thierse: Da sehen Sie, wie wichtig eine Pastorin ist und wie dumm es ist, Kirchen für verzichtbar zu halten. Mich ärgert, dass wir oft von Leuten kritisiert werden, die wenig oder nichts von uns wissen. Genau wie in der Politik. Die Verachtung für das Erbe des Christentums und seine universalistische Idee ist geschichtsvergessen. Ich nenne das auch Jetzismus – und halte den für eine ideelle und kulturelle Verarmung.

ZEIT: Was ist bitte eine Pop-up-Taufe?

Zisselsberger: Dafür braucht man keinen Taufkurs. Ich halte es mit Schleiermacher, dem großen Theologen des 19. Jahrhunderts, der in meiner Kirche gepredigt hat. Er sagt: Es geht nicht um Glaubenssätze! Religion ist eine »Provinz im Gemüte«, sie ist »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«. Ich missioniere nicht, sondern suche den göttlichen Funken, der in jedem ist.

ZEIT: Herr Mertes, Sie haben vorab gesagt, es tue Ihnen gut, nicht mehr soviel mit Kirche zu tun zu haben. Was heißt das?

Mertes: Es tut mir gut, nicht mehr so viel mit innerkichlichen Themen zu tun zu haben, weil man sich darin verlieren kann. Inzwischen bin ich auch ein Anhänger des absichtsfreien Priestertums. Wenn ich Menschen liebe, dann nicht, um ihnen vorzuführen, dass sie von Gott geliebt sind, sondern um sie zu lieben. Ich verkünde auch nicht den Glauben, damit Leute in die Kirche eintreten. Ich kenne zuviele Priester, denen ich das nicht mehr abnehme mit dem Geliebtwerden von Gott, weil sie so traurig und depressiv sind. Es gibt viel Atheismus, der aus der Kirche selber kommt.

Zisselsberger: Ich mache gerade eine Fortbildung an der Führungsakademie, mit Kollegen aus ganz Deutschland, die sagen zum Beispiel, ihr Bild von Kirche sei ein Schutthaufen. Das ist mir völlig fremd. Meine Kirche ist ein Haus aus Licht.

Thierse: Die Institution muss Buße tun, Schuld eingestehen und sich selbst reinigen. Aber, dass es diese Kirche noch immer gibt, trotz ihrer Vergehen, ihres Versagens und ihres Elends, das ist für mich der beste Beweis dafür, dass sie nicht einfach nur Menschenwerk ist.

Zisselsberger: Ich finde es seltsam, dass die katholische Kirche sich immer noch für heilig hält. Aber ich musste mich auch schon bekehren, was meine pietistische Herkunft betrifft. Einiges finde ich heute gruselig. Und an meiner synodalen Kirche nervt mich, dass sie sich oft selbst blockiert.

Mertes: Mich stört die Ängstlichkeit unserer Kirchen. Bischöfe scheuen sich in der größten Krise, die Klappe aufzumachen und etwas Kritisches zu sagen, solange es noch nicht alle sagen.

Zisselsberger: Meine Kirche hat für die Bischöfe jetzt Tempolimit 100 auf der Autobahn beschlossen. (alle lachen) Außerdem hat sie sich mit der Letzten Generation solidarisiert. Jetzt treten reihenweise Leute aus, weil sie nichts mit »Klima-Chaoten« zu tun haben wollen.

Mertes: Sollen sie doch austreten. Es muss auch mal Schluss sein mit der Angst vor Austritten. Ich habe auch Mitbrüder, die sich auf der Straße festkleben. Ich klebe mich nicht fest, finde es aber wichtig, sich zu positionieren.

Zisselsberger: Das passt zu meinem Lieblingsthema. Ich gendere gern – auch Gott.

Thierse: Schrecklich. Das widerstrebt mir als Germanist.

Zisselberger: Das glaube ich, aber es ist meine theologische Überzeugung.

Thierse: Es ist eine ideologische Überzeugung.

Zisselsberger: Luther hat den Gottesnamen mit HERR übersetzt, der Eigenname Gottes lautet aber »Ich bin der ich bin«. Wenn ich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ernst nehme, darf ich seine weiblichen Anteile nicht unsichtbar machen. Und ich bin an der Marienkirche!

ZEIT: Wie gendern Sie?

Zisselsberger: Wenn ich den Aronitischen Segen spreche, sage ich: »Gott segne und behüte dich, Gott lasse ihr Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig, Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.« Ich schreibe Gott mit Genderstern. Manche freuen sich, andere sind entsetzt.

Thierse: Ich halte das für eine Sexualisierung Gottes. Ich habe mir nie vogestellt, Gott sei ein Mann.

Zisselsberger: Wenn Sie Vater, Sohn und heiliger Geist hören?

Thierse: (schüttelt stumm den Kopf)

Zisselsberger: Wollen Sie mal in der Marienkirche predigen?

Thierse: Warum nicht. Ich habe übrigens noch nie in einer katholischen Kirche gepredigt.

Zisselsberger: Bruder Mertes muss Sie einladen.

ZEIT: Was ist nun das Kriterium fürs Christsein: Taufe, Kirchenmitgliedschaft oder Glaube?

Zisselsberger: Christin oder Christ ist, wer sich selbst so definiert. Jesus schließt keinen aus, soetwas passt nicht zu einer einladenden Kirche. Für mich steht der Glaube im Vordergrund. Die Taufe ist ein Ritual die Zugehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft der formale Nachweis. Auch Ausgetretene bleiben getauft, also in der Gemeinschaft.

ZEIT: Wo sind Sie an Heiligabend?

Mertes: 16 Uhr im Kinder- und Familiengottesdienst in Sankt Canisius.

Thierse: 22 Uhr bei der Christmette in meiner Gemeinde im Prenzlauer Berg, um mit Leidenschaft Weihnachtslieder zu singen.

Zisselsberger: 14, 16 und 18 Uhr bei der Christvesper in Sankt Marien. 14 Uhr feiern wir in multireligiöser Gastfreundschaft. Und 23 Uhr ist Christmette, da predige ich auch, das ist mein Lieblingsgottesdienst.

Mertes: Darf ich dazukommen?

Zisselsberger: Natürlich! Wir können auch zusammen feiern.