Unterschrift Wolfgang Thierse

12. Januar 2024

 
12. Januar 2024

Beckenbauers Geschenk an die Deutschen - Beitrag FAZ

Thierse über den "Kaiser"

 

Genau weiß ich es nicht mehr, wann Franz Beckenbauer in mein Fußballgedächtnis gekommen ist. Vermutlich war es, spätestens, im Jahr 1966, bei der Fußballweltmeisterschaft in England. Ich war damals Student, wir hatten uns verabredet, die Fernsehübertragung des Londoner Endspiels gemeinsam zu sehen – in der Wohnung des katholischen Studentenpfarrers in der Thorner Straße in Ost-Berlin. Dicht gedrängt saßen wir in einem kleinen Raum vor einem kleinen Fernsehgerät und verfolgten mit viel Lärm das Spiel und waren, wie wohl alle Deutschen in West wie Ost, aufgeregt und empört über das berüchtigte „Wembley-Tor“, das keins war – schließlich hatte es ein sowjetischer(!) Linienrichter angezeigt. Aber nicht übersehen und vergessen habe ich bei all der Aufregung den Zweikampf Beckenbauer – Bobby Charlton, den damals schon legendären englischen Spielmacher. Beckenbauer war seitdem eine feste Größe in meinem fußballerischen „Weltbild“.

Auf die bundesdeutsche Mannschaft zu blicken, mit ihr zu fiebern, sich mit ihr zu identifizieren – das war mir, gewissermaßen von Kindesbeinen an, selbstverständlich geworden: seit dem WM-Sieg der Westdeutschen Mannschaft über Ungarn 1954 im Berner Wankdorf-Stadion. Ich habe das Spiel als 10-Jähriger am (West-)Radio verfolgt, niemand sonst in der Familie interessierte sich sonderlich dafür. Die Stimme von Herbert Zimmermann werde ich nie vergessen: „Rahn müsste schießen… Rahn schießt… Tooor… Toor“. Und „Aus, aus, aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ Vor Begeisterung sprang ich durch unser Wohnzimmer und wiederholte schreiend die Worte von Zimmermann. Noch heute stellt sich in der Erinnerung die alte Emotion ein, noch heute kann ich die damalige Mannschaftsaufstellung aufsagen. Das waren meine Helden. Von Fußballern der DDR wusste ich nichts.

Natürlich war ich als Junge selbst ein begeisterter Fußballer, spielte in der Schülermannschaft von Motor Eisfeld, dem Sportverein der kleinen südthüringischen Stadt, als rechter Läufer oder rechter Verteidiger („an mir kam keiner vorbei“). Bei dem anderen Verein, Lok Eisfeld, spielte ich Schach, saß in der Mannschaft am dritten Brett und war ziemlich gut und wohl auch besser als im Fußball. Dem aber gehörte aber weiterhin mein sportliches Herz.

1970 dann, vier Jahre nach London, wurde mir Franz Beckenbauer endgültig unvergesslich: Fernsehübertragung des Halbfinales Deutschland – Italien aus Mexiko, das „Jahrhundertspiel“. Beckenbauer spielte nach einem groben Faul an ihm – im italienischen Strafraum, aber es gab keinen Elfmeter – mit Arm in der Schlinge weiter, bis zum bitteren Ende. Ein Spiel von unüberbietbarer Dramatik: K. H. Schnellingers Ausgleich in der 90. Minute („ausgerechnet Schnellinger“) und zwei Gerd-Müller-Tore in der Verlängerung, das Spiel ging trotzdem 3:4 verloren. Aber Beckenbauer war für immer in meinem, in unserem kollektiven Gedächtnis: Verletzt und trotzdem elegant spielend, die Bälle verteilend und die Spielregie führend!

Nachdem in den 60er und 70er Jahren immer mehr Familien in der DDR Fernsehgeräte besaßen, galt gerade für den Fußball: Wir, die Mehrheit der Ostdeutschen sind via Fernsehen immer wieder in den Westen ausgewandert. Die samstägliche Sportschau, die Berichte über Bundesligaspiele und Spiele der BRD-Elf erzielten – gewiss sehr zum Ärger der SED-Oberen – auch in der DDR Rekord-Einschaltquoten und waren Gesprächsstoff für die montäglichen Runden an den Arbeitsplätzen. Es waren die Aufstiegsjahre des FC Bayern-München, dank Beckenbauer (weshalb die Bayern seit damals auch viele Anhänger in Ostdeutschland haben). Und es waren die Jahre des Zweikampfes mit Borussia Mönchengladbach, deren „Fohlen-Elf“ mich noch mehr als die Bayern begeisterte, in den Zeiten von Netzer, Voigts, Wimmer und Heynckes.

Eine Mischung aus beiden Vereinen bildete dann die bundesdeutsche Nationalmannschaft des Jahres 1972: Die „Wembley-Elf“, die England in der Heimstatt des Fußball zum ersten Mal besiegte und die Europameister wurde, im Brüsseler Endspiel gegen die Sowjetunion. Wer etwas von Fußball verstand, auch in der DDR, der wusste: Das war (und bleibt) die beste deutsche Nationalmannschaft mit dem schönsten Fußball aller Zeiten! Eine Begeisterung unter den Fans über die deutsche Grenze hinweg.

Aber dann die WM 1974 in der Bundesrepublik, mit dem ersten Spiel der Mannschaften der beiden deutschen Staaten gegeneinander, das am 22. Juni in Hamburg stattfand. Nur ausgewählte „Reisekader“ durften aus der DDR zum Spiel nach Hamburg reisen und auch diese standen unter ständiger Kontrolle der Stasi. Meine Erwartungen und Gefühle waren ambivalent und ich habe mir das Spiel abwechselnd im West- und im Ost-Fernsehen angeschaut. Das Sparwasser-Tor und der Sieg der DDR-Mannschaft haben mich zugleich (ein wenig) gefreut und (deutlich mehr) geärgert. Gefreut, weil es mich während des Spiels geärgert hat, dass der West-Kommentator mit selbstverständlicher Arroganz die westdeutsche Mannschaft als „die Deutschen“ bezeichnete, als wären die DDR-Spieler, also auch wir ostdeutschen Zuschauer, keine Deutschen. Geärgert, weil ich zu Recht ahnte, dass dieses Tor ideologisch-propagandistisch ausgeschlachtet würde: ein Sieg im Systemvergleich mit dem Klassenfeind.

Die Begeisterung über den (west-)deutschen WM-Erfolg im Endspiel über Holland war auch unter den DDR-Fans groß, nur verbiesterte SED-Genossen werden wütend gewesen sein. Der Jubel war auch im Osten vernehmbar. Und immerhin: Die DDR-Mannschaft schlug sich weiterhin achtbar mit zwei knappen Niederlagen gegen Brasilien und Holland und einem Unentschieden gegen Argentinien. Für die bundesdeutsche Mannschaft wurde dagegen die Niederlage gegen die DDR-Elf zur Turnierwende. Sie war dadurch in die deutlich leichtere Zwischenrunde gezwungen worden und spielte deutlich besser als zuvor. Beckenbauer hatte die Führung übernommen, wie zu hören war. Noch heute kenne ich die Namen aller Spieler dieser WM-Mannschaft (wie auch die von 1954).

Beckenbauer war zur Leitfigur einer Mannschaft geworden, die das andere Deutschland verkörperte, das für uns Ostdeutsche so attraktiv war, weil es so erfolgreich und so frei und so wohlhabend geworden war in diesen 60er und 70er Jahren! Der von Beckenbauer personifizierte Fußball war Teil der politischen Kultur des Westens, auf die wir mit sehr viel Neid blickten – gerade nach der Zementierung der deutschen Spaltung mit dem Mauerbau vom 13. August 1961. Der glänzende westdeutsche Fußball – er stellte auch die mit so viel Anstrengungen erreichten Erfolge der DDR in vielen Sportarten in den Schatten. Das muss die SED-Oberen ziemlich geärgert haben und hat unsereins deshalb gefreut.  Dabei gab es natürlich auch in der DDR großartige Fußballspieler – von Peter Ducke über Jürgen Croy und Joachim Streich, bis zu den ostdeutschen Spielern, die nach der Wiedervereinigung in die Bundesliga-Clubs kamen.

Nach friedlicher Revolution und im Vereinigungsjahr 1990 war es wieder Beckenbauer, der uns überraschte und faszinierte. Unter seiner Leitung als „Teamchef“ siegte nicht eine gemeinsame, vereinigte deutsche Mannschaft, sondern die Mannschaft des Landes, mit dem wir Ostdeutschen uns ja erst vereinigen wollten. Der WM-Titel war gewissermaßen das Geschenk Beckenbauers an uns, sein Beitrag zur Wiedervereinigung! Ich hatte wenig Zeit in diesem politisch wahrlich turbulenten Jahr, aber das Endspiel habe ich mir angeschaut, den Sieg über Argentinien mitgefeiert – und werde die Fernsehbilder von dem einsam nach dem Spiel über den Platz laufenden Beckenbauer nicht vergessen. Das nennt man heute wohl „ikonische Bilder“.

Ich habe Beckenbauer dann vor der WM 2006 in Deutschland persönlich kennenlernen können. Und er war tatsächlich so, wie sein Fernsehimage: Ein Mensch von freundlicher Souveränität. Ein offensichtlich glücklicher Mensch, eine geglückte Biografie. Ein Eindruck, der auch durch die späteren Enthüllungen nicht verwischt werden konnte.

Das ist und bleibt meine Erinnerung: Beckenbauer war der beste deutsche Fußballer, den wir je gesehen haben – im Westen wie im Osten! Die Bewunderung für ihn hat uns über die Grenzen hinweg vereint, jedenfalls alle die, die von Fußball wirklich zu begeistern waren. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an viele große Momente, nein, an viele Stunden der Begeisterung und des Entzückens über die Eleganz und Schönheit seines Spiels – und der Entlastung, der Ablenkung vom grauen politischen Alltag der DDR auch.