Unterschrift Wolfgang Thierse

05. November 2022

 
05. November 2022

Interview mit der Berliner Zeitung

Herr Thierse, was empfinden Sie, wenn Sie dieser Tage an der russischen Botschaft vorbeigehen?

Ich sehe mit viel Mitgefühl, wie Menschen dort Blumen und Bilder niederlegen, wie dieser Krieg sie bewegt, wie sie ihre Solidarität mit der Ukraine ausdrücken und damit ihren Protest gegen die russische Aggression.

Wie muss dieser Krieg enden?

Natürlich möglichst bald, aber ich weiß auch nicht, wie. Da bin ich so ratlos wie wohl fast alle Menschen. Leider ist es so, dass Wladimir Putin der Herr des Geschehens ist.

Der Bundeskanzler hat mehrmals betont, dass Russland „nicht gewinnen“ dürfe und die Ukraine „bestehen“ müsse. Für diese Wortwahl wurde er kritisiert. Viele hätten sich gewünscht, dass Olaf Scholz sich entschiedener für einen Kriegsgewinn der Ukrainer ausgesprochen hätte.

Ich halte die Formulierung des Kanzlers für sehr vernünftig. Es ist mindestens leichtsinnig, zu fordern, man müsse Putin-Russland besiegen. Wie soll man eine Atommacht besiegen? Hitler-Deutschland konnte besiegt werden, weil es keine Atombombe hatte. Ich denke ohnehin, dass wir im Vergleich mit anderen Ländern eine sehr aufgeregte Debatte über Waffenlieferungen führen. Was dabei als „Zögerlichkeit“ von Scholz bezeichnet wird, hat aber doch eine beträchtliche politische Qualität. Die Welt ist, was die Bevölkerung betrifft, mitnichten klar aufseiten des Westens und gegen Russland. Also müssen wir zeigen, dass es Putin ist, der diesen Krieg eskaliert. Deutschland und seine Verbündeten stehen fest an der Seite der Ukraine – aber wir werden uns nicht aggressiv verhalten.

Der Krieg wird eines Tages enden. Deutschland wird sich entscheiden müssen, wie es künftig mit Russland umgehen will.

Warum führt Putin diesen Krieg? Bei dieser Frage ist mir eine These von Carl Friedrich von Weizsäcker aus den späten 1960er-Jahren eingefallen. Sie lautete damals: Das Gefährliche der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass eine der beiden Weltmächte, nämlich die Sowjetunion, nur militärisch stark ist. Dass sie also in anderen Hinsichten, wirtschaftlich, technologisch und zivilgesellschaftlich, deutlich schwächer ist als die andere. Mir scheint, dass diese Diagnose heute wieder zutrifft. Einer der Gründe für Putins Aggression liegt in seiner Unfähigkeit und seinem Unwillen, das eigene Land energisch zu modernisieren.

Wie meinen Sie das?

Er hat die Chance nicht genutzt, die immensen Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten in technologische und wirtschaftliche Modernisierung zu stecken. Russland ist nicht nur in diesen Bereichen, sondern auch wissenschaftlich rückständig. Es hat eine viel geringere Innovationskraft als die meisten anderen, teilweise viel kleineren Staaten. Die gebildete Jugend verlässt das Land. Zugleich sind die Oligarchen immer reicher geworden, unendlich viel Geld floss ins Militär. Ein Ausweg aus diesem dramatischen Missverhältnis ist für Putin dieser Aggressionskrieg.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Ich beteilige mich nicht an Putin-Psychologie. Aber wenn ich ihm zuhöre, dann sind doch seine Reden Dokumente eines Beleidigtseins und einer Zurücksetzung gegenüber dem Westen: Die sind überlegen! Die sind moderner und fortschrittlicher, die haben den größeren Wohlstand! Darin hat Putin schlicht recht. Der Westen ist erfolgreicher, er entwickelt sich schneller. Das ist eine Gefahr für Putins versteinertes, diktatorisches System. Wenn jemand so stark durch seine Zeit beim Geheimdienst geprägt ist, dann wird sein Denken bestimmt von Eroberung sowie Erhalt und Absicherung der eigenen Macht. Dem unterwirft er alles.

Was bedeutet all das für die Zukunft?

Wenn dieser Krieg geendet ist, werden wir uns Russland, so erschreckend das klingt, wieder auf eine andere als eine militärische Weise zuwenden müssen. Die Geopolitik ist von eiserner Qualität und Russland bleibt ein wichtiger europäischer Nachbar. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass es den Modernitätsrückstand aufholt, also wird es um eine Modernitätspartnerschaft gehen, die Deutschland bereits in den 1990er- und 2000er-Jahren angeboten hatte. Wenn es dem Westen gelingt, die Dekarbonisierung voranzutreiben, werden russisches Öl und Gas weniger wichtig. Das wird ein großes Problem für Russland. Wer über diesen furchtbaren Krieg hinausdenkt, muss an die Modernisierungsdifferenz zwischen dem Westen und Russland denken – daran, wie man das daraus folgende Konfliktpotenzial abbauen kann.

Was stellen Sie sich unter einer solchen Partnerschaft vor? Und glauben Sie, dass sie mit einem russischen Präsidenten Putin gelingen könnte?

Meine Fantasie reicht nicht aus, um mir neue Verträge mit Putin vorzustellen. Er hat alle Abkommen der vergangenen Jahrzehnte brutal verletzt. Wie soll man mit einem notorischen Lügner Verträge abschließen? Ich bin kein Prophet. Ich weiß nicht, wer auf Putin folgt. Aber es wird wieder um wissenschaftliche, technologische und gewiss auch wirtschaftliche Zusammenarbeit gehen. Natürlich unter anderen Bedingungen als zuletzt. Wir müssen neue Abhängigkeiten energisch vermeiden. Dass aber dieses riesige Land immer noch da ist, mit seinen Menschen, Rohstoffen und einem großen Entwicklungspotenzial, das muss Europa interessieren. Das darf nicht allein Sache des chinesischen Interesses sein.

Die westlichen Sanktionen werden Russland wirtschaftlich auf absehbare Zeit massiv schwächen. Schafft das neues Konfliktpotenzial?

Nach der Ukraine schadet Putin dem eigenen Land am meisten. Das darf man nicht dem Westen vorwerfen. Die westlichen Sanktionen sind eine Folge dieses selbstmörderischen Putin-Krieges.

Was entgegnen Sie denen, die sagen, dass die Sanktionen vor allem den Menschen in Russland, aber auch den deutschen Bürgern schaden? Denen also, die wie einige Linke fordern, dass mehr verhandelt und China eingebunden wird?

Mit Putin ist jahrelang verhandelt worden! Die Minsker Abkommen waren ein Versuch, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine einzufrieren. Der russische Präsident hat damit gebrochen. Es ist kein Verhandlungsangebot, wenn Putin voraussetzt, dass die besetzten ukrainischen Gebiete künftig zu Russland gehören. Nie wieder dürfen wir mit blauäugiger Naivität auf diesen Verbrecher zugehen. Und wer bitte soll denn China mit einbeziehen? Also manchmal wird’s lächerlich. China ist eine Supermacht, es könnte sich jederzeit selbst einbringen. Deshalb plädiere ich dafür, dass der Westen die Ukraine unterstützt und zugleich nicht aggressiv auftritt – damit die Chinesen sich den Russen nicht noch weiter annähern.

Die Naivität, von der Sie sprechen, würden manche wohl auch dem SPD-Fraktionschef Mützenich unterstellen. Er forderte eine "Balance" zwischen dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und der Diplomatie. Der frühere ukrainische Botschafter Melnyk fragte, ob Mützenich „wirklich mit dem Kriegsverbrecher Putin verhandeln“ wolle. Grünen-Chef Nouripour warf Ihrem Parteifreund "Rezepte aus den 70ern und 80ern" vor.

Beiden würde ich erwidern: Was ist Ihre positive Antwort? Sie haben ausschließlich kritisiert. Niemand weiß, wie dieser Krieg ausgeht. Aber jeder weiß doch aus der Geschichte, dass Kriege entweder mit der absoluten Niederlage eines Kriegspartners oder mit Verhandlungen enden. Mit wem auch immer, das ist offen. Das jedoch auszuschließen und jeden, der daran erinnert, als Verräter der Ukraine zu beschimpfen, halte ich für einseitig, wenn nicht sogar für politisch gefährlich. Wir müssen aussprechen, dass man eine Atommacht nicht einfach so besiegen kann. Es wird Gespräche geben müssen, aber wahrscheinlich erst dann, wenn Putin einsieht, dass er militärisch nichts mehr erreichen kann.

Sie selbst waren viele Jahre in der aktiven Politik. Sie wissen, dass Politiker etwas sagen, wenn sie es sagen wollen – um eine Botschaft loszuwerden. Herr Mützenich scheint diplomatische Bemühungen zu vermissen. Er wird sich nicht aus Versehen so geäußert haben.

Nein, aber er spricht etwas aus, das viele Menschen in diesem Land fühlen. Und es ist sinnvoll, dass es ausgesprochen wird: Dass man trotz dieses blutigen Krieges die Hoffnung formuliert, es wird ein Ende geben müssen. Es kann nicht sein, dass nur Panzer und Bomben die Lösung sind. In den USA wird genau darüber ohne Hysterie diskutiert.

Herr Mützenich bezog sich auf Meinungsumfragen, wonach sich 60 Prozent der Deutschen mehr diplomatische Initiativen in diesem Konflikt wünschten. Für wie wichtig halten Sie die Stimmung in der Bevölkerung in dieser Frage?

Das Bedürfnis nach Frieden ist urmenschlich, und dass Menschen dieses Bedürfnis heftig oder traurig äußern, habe ich als Politiker ernst zu nehmen. Es geht auch darum, zu zeigen, dass sozialdemokratische Politik nicht nur aus der Lieferung von Waffen bestehen kann, sondern immer auch aus nicht-militärischen Initiativen.

Im Osten blicken die Menschen laut Umfragen anders auf den Krieg und seine Folgen als die Menschen in Westdeutschland. Sie wünschen sich eher weniger Sanktionen gegen Russland. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Ja, das tut es, aber es überrascht mich nicht. Es gibt eben Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Sie sind ökonomisch und sozial, sie betreffen Kultur, Mentalität und das Vertrauen in die Demokratie. Westdeutschland ist eine Erbengesellschaft. In Ostdeutschland ist nach Jahrzenten ökonomischer DDR-Misere nichts zu vererben. Es gibt ein ungleiches Gefühl von Sicherheit: Im Westen leben die Menschen auf dem Fundament einer 70-jährigen guten ökonomischen und sozialen Entwicklung. Im Osten hingegen lebt man auf der Basis einer dramatischen Veränderung und Verunsicherung, mit dem Verlust von Gewissheiten. All das zeigt sich jetzt angesichts der Inflation und des Krieges besonders heftig.

Wie erklären Sie sich diese Unterschiede zwischen Ost und West?

Die Sowjetunion war uns Ostdeutschen immer näher. Man hat Russisch lernen müssen in der DDR, wir haben viel intensiver russische Literatur und Filme kennengelernt. Auch waren die Folgen des Zweiten Weltkrieges im Osten länger allgegenwärtig. Die Erinnerung daran, was die Deutschen den Völkern der Sowjetunion angetan haben, hat ein moralisches Schuldgefühl entstehen lassen – auch gegenüber den Russen, was berechtigt ist. Hinzu kommt aber noch etwas weniger Sympathisches.

Ja?

Es gibt viele ehemalige SED-Genossen, am Ende der DDR waren es immerhin noch über 1 Million. Die sind doch nicht alle weg. Für sie war die Freundschaft mit der Sowjetunion sehr wichtig. Sie haben das System getragen: „Von der Sowjetunion zu lernen, heißt siegen lernen!“ Wir dürfen außerdem nicht vergessen, dass die friedliche Revolution in der DDR nicht von einer Mehrheit, sondern von einer Minderheit gemacht wurde.

Sie sagen, dass die Menschen in der DDR Russisch lernen „mussten“. Das hat sicherlich nicht bei jedem ein Gefühl von Nähe zur Sowjetunion erzeugt.

Das ist richtig, deshalb dürfen wir die Debatte über den Osten auch nicht vereinfachen. Die Mehrheit hat Russisch nur widerwillig gelernt, sie hat die Sprache nie wirklich beherrscht. Da es keinen nennenswerten Tourismus nach Russland gab, gab es dafür auch kein Motiv. Trotzdem hat die Mischung aus dem, was ich beschrieben habe, bei einem Teil der Bevölkerung gewirkt: eine kommunistische Überzeugung, ein moralisches Schuldgefühl gegenüber der Sowjetunion und eine kulturelle Nähe.

Sie selbst sind in Thüringen aufgewachsen. Wie ist das bei Ihnen? Merken Sie, dass auch Sie anders auf Russland schauen als viele Menschen im Westen?

Ja, das ist natürlich so. Auch ich habe eine größere emotionale Nähe zur russischen Kultur und zum russischen Volk. Wenn man in der DDR lebte, musste man sich für die Geschichte Russlands interessieren, denn Moskau war unser Schicksal. Ich habe immer unterschieden zwischen dem russischen Volk und dem Sowjetsystem. Auch deshalb verachte ich Wladimir Putin, weil er sein Volk knechtet und aus dem eigenen so reichen Land nichts macht. 

Nun reden wir seit Jahren immer wieder über die Unterschiede zwischen Ost und West: während der Migrationskrise, während der Coronakrise, und nun während des Ukraine-Krieges und der Energiekrise. Eine Debatte in Dauerschleife.

Das nervt. Ja, es gibt die genannten Differenzen. Aber sie werden übertrieben. Denken Sie an die Redensart „Die Mauer in den Köpfen“. Die hat mich schon immer geärgert. Wir müssen nüchterner darüber sprechen. 40 Jahre getrennter und gegensätzlicher Entwicklung können nicht von heute auf morgen vergessen sein. Das prägt die Menschen, und die Ungleichheit zwischen Ost und West wird immer dann sichtbarer, wenn es Konflikte gibt. Dann erscheint sie aggressiver und ist einfacher zu instrumentalisieren.

Woran denken Sie genau?

Es ist doch kein Zufall, dass sich westdeutsche Rechtsextreme in Ostdeutschland angesiedelt haben. Die NPD hat ihre Zentrale nicht zufällig nach Ost-Berlin gelegt. Auch Björn Höcke von der AfD ist ein Paradebeispiel: Ein westdeutscher Gymnasiallehrer geht nach Thüringen, weil er sieht, dass die Menschen dort unsicherer sind angesichts der dramatischen Veränderungen, die sie überstanden haben und in die sie nun wieder neu hineingeraten. Bei ihnen ist die Sehnsucht nach einfachen, autoritären Lösungen, nach dem starken Mann größer. Sie sind deshalb verführbarer für neue und alte Feindbilder. Eines wünsche ich mir aber auch von meinen ostdeutschen Landsleuten.

Und das wäre?

Sie sollten selbstbewusst auf die Vergangenheit schauen, auf ihre Lebensleistung, aber zugleich auch kritisch auf sich selbst, auf ihre Geschichte und ihre Prägungen. Ich empfehle den Blick auf unsere östlichen Nachbarn, die Schicksalsgenossen aus vergangenen Jahrzehnten: Ostdeutschland geht es besser als Polen und Tschechien, von Russland ganz zu schweigen. Wir Ossis aber schauen immer auf den Westen, das ist der Maßstab, also erscheinen wir immer benachteiligt. Es genügt aber nicht, auf den Westen zu zeigen und sagen, „die da oben sind schuld“. Es kann keine Wunderlösung für all unsere Probleme geben, wir brauchen Geduld und eigenes Engagement. Den Westdeutschen hingegen sage ich, dass sie es umgekehrt tun sollten: Seid erst selbstkritisch. Und dann selbstbewusst.