Unterschrift Wolfgang Thierse

erzwungenes Finale

 
5. Februar 2013

Rede von Wolfgang Thierse zur Ausstellungseröffnung "Erzwungenes Finale - Ende der Vorstellung" im Willy-Brandt-Haus

  

Anrede!

Wir feiern in diesem Jahr nicht nur 150 Jahre SPD-Geschichte. Wir erinnern auch, im Rahmen des Berliner Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“, an das erzwungene Ende von Demokratie und Menschlichkeit im deutschen Staat, an die furchtbaren Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, an 80 Jahre 1933.

 

Der Ablauf der Ereignisse, für die die Nazi-Begriffe wie „Machtergreifung“, „Ermächtigungsgesetz“ und „Gleichschaltung“ stehen, ist bekannt:

 

Am 30. Januar wird Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.

Am 27. Februar brennt das Reichstagsgebäude, einen Tag später wird die „Verordnung des Reichpräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, d.h. wesentliche Grundrechte werden mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt; dadurch wird die rücksichtlose Verfolgung von politischen Gegnern und die Zerschlagung der Arbeiterbewegung möglich.

Am 23. März hält Otto Wels seine mutige, seine  letzte Parlamentsrede.

Am 7. April beginnt mit dem Arier-„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die staatlich verordnete Judenverfolgung.

Am 10. Mai Bücherverbrennungen auf dem heutigen Bebel-Platz.

Am 22. September Errichtung der sogenannten Reichskulturkammer.

Am 1. Dezember schließlich das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat.

 

Das sind nur ein paar Daten zur Erinnerung. In kürzester Zeit, in nur wenigen Monaten konnten die Nationalsozialisten, die eigentlich Ende 1932 machtpolitisch fast am Ende waren, ihre totalitäre Herrschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft errichten. Auch im Rückblick ein kaum nachvollziehbarer, schwer zu verstehender Umbruch: der Zusammenbruch, die Zerstörung der Demokratie innerhalb dramatisch kurzer Zeit!

 

1933 erinnert uns daran, dass Geschichte immer wieder epochale Umbrüche kennt - und diese führen keineswegs wie 1989 notwendig zum Besseren.

 

Zudem sehen wir, wie sehr Geschichte menschengemacht und eben nicht alternativlos ist: Bereits 1931 hatte Alfred Kerr, führender Theaterkritiker der Weimarer Republik, wiewohl vom Theater fasziniert, dazu aufgerufen, angesichts der politischen Entwicklung die Theater zu schließen und auf die Straße zu gehen, wo der tatsächliche Kampf um die Zukunft Deutschlands entschieden werde. „Denn“, so rief er im Berliner Tageblatt, einer gut bürgerlichen Zeitung, aus, „der Faschismus steht vor der Tür“. Kerr blieb wie manch anderer ein einsamer Rufer in der Wüste.

 

Willy Brandt hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Arbeiterbewegung bereits auf den Papen-Putsch im Sommer 1932 mit einem Generalstreik hätte antworten müssen. Und er unterstrich noch 1983 (in einer Rede zu 50 Jahren Ermächtigungsgesetz) seine Meinung, „durch das Ausweichen vor der Entscheidung zum Kampf – auch wenn er erfolglos und opferreich geblieben wäre – konnte um so eher ein Prozess ausreifen, der zur europäischen Katastrophe mit Millionen von Toten führte, auch zur Teilung Deutschlands und Europas“.

 

Hitler wurde Ende Januar Reichskanzler, durch ein Ränkespiel einiger weniger konservativ-reaktionärer Akteure, die allesamt glaubten, ihn für ihre Zwecke engagieren zu können. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht“, so unterschätzte der Steigbügelhalter Franz von Papen den dämonischen Machtwillen Hitlers. Auch die SPD-Führung hielt Hitler zunächst für einen Gefangenen der sozialreaktionären Machteliten aus ostelbischem Großgrundbesitz und rheinland-westfälischer Schwerindustrie. Von Papen und Hugenberg würden die künftige Politik bestimmen und der braune Messias würde bald entzaubert sein. Es dauerte nur ein paar Tage und das Ausmaß des Irrtums wurde deutlich. - Bis heute beruht die demokratische Glaubwürdigkeit der SPD auf ihrem mutigen Nein zur Nazi-Diktatur: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“. (Otto Wels)

 

Wie wenig die SPD-Führung mit dieser anfänglichen Fehleinschätzung alleine war, kann man auch bei Alfred Döblin lesen – obwohl dieser am Abend nach dem Reichstagsbrand gleich wusste, dass er umgehend emigrieren muss. Hören wir ihn:

 

„Die innere Umstellung von einem Rechts- auf einen Diktatur- und Freibeuterstaat gelang mir nicht sogleich. Gegen Abend war ich soweit. Meine Frau war auch dafür. Es war ja nur ein Ausflug; man läßt den Sturm vorübergehen. Zuletzt rief mich noch ein mir bekannter Arbeiter an: Ich solle doch gehen, gleich, er wisse allerhand, und es sei ja nur für kurze Zeit, längstens drei bis vier Monate, dann seien die Nazis fertig“.

 

Welch ein – verbreiteter – Irrtum! Das tausendjährige III. Reich währte endlos lange 12 Jahre. Zürich, Paris, schließlich Hollywood – auch für Döblin, der nie mehr in Deutschland heimisch wurde, wurde es eine lange „Schicksalsreise“.

 

Sofort nach Regierungsübernahme begann die Ausrichtung des vielfältigen Weimarer Kultur- und Geisteslebens an der völkischen Ideologie, wurden kritische und jüdische Künstler und Intellektuelle zu Volksfeinden: Entlassung, Berufsverbot, Verfolgung, Lagerhaft, Folter, Vertreibung und Ermordung. 1933 war der Beginn des entscheidenden Zivilisationsbruches, der schließlich in Holocaust und Weltkrieg mündete.

 

Hören wir einen weiteren Zeitzeugen. Der Romanistik-Professor Viktor Klemperer schrieb am 10. März in seinem berühmten Tagebuch:

 

Seit Ende Januar „Tag um Tag Kommissare, zertretene Regierungen, gehisste Hakenkreuz-Fahnen, besetzte Häuser, erschossene Leute, Verbote (heute zum ersten Mal auch das ganz zahme „Berliner Tageblatt“) etc. etc. Gestern ‚im Auftrag der NS-Partei‘ – nicht einmal mehr dem Namen nach im Regierungsauftrag – der Dramaturg Karl Wollf entlassen [dieser wurde übrigens später Präsident der größten kulturellen Emigrantenorganisation in London, d.A.], heute das ganze sächsische Ministerium usw. usw. Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden. Dieser völlige Zusammenbruch einer eben noch vorhandenen Macht, nein ihr gänzliches Fortsein (genau wie 1918) ist mir so erschütternd. Que sais-je?“ Was weiß ich denn schon….

 

Dieses Gefühl von Hilf- und Ratlosigkeit, ja Resignation war wohl typisch.

 

Bis heute wundern wir uns, wie Tempo und Reichweite der verwirrenden Doppelstrategie aus Machteroberung und Gleichschaltung alle Gegenwehr lähmen konnten - bis hinunter in jede Gemeinde und jedes Theater, in die Schulen und Universitäten, ins Vereins- und Kulturleben. Der Journalist Sebastian Haffner, wahrlich kein Linker, versuchte dies in seinen bereits 1939 aufgeschriebenen Erinnerungen zu verstehen und formulierte zugespitzt.

Ich werde ihn etwas ausführlicher zitieren:

 

Das Geschehen des März 1933 „war aus den seltsamsten Elementen zusammengebraut, aber das einzige, was völlig darin fehlte, war irgendeine Tat des Muts, der Tapferkeit und Hochherzigkeit von irgendeiner Seite. Vier Dinge brachte dieser März, als deren Ergebnis schließlich die unangreifbare Nazi-Herrschaft dastand: Terror; Feste und Deklamationen; Verrat; und schließlich einen kollektiven Kollaps – einen millionenfachen simultanen individuellen Nervenzusammenbruch. Viele, ja die meisten europäischen Staatswesen sind blutiger geboren. Aber es gibt keins, dessen Entstehung in diesem Maße ekelhaft war.

 

Die europäische Geschichte kennt zwei Formen von Terror: Die eine ist der zügellose Blutrausch einer losgelassenen, siegestrunkenen, revolutionären Masse; die andere ist die kalte, überlegte Grausamkeit eines siegreichen, auf Abschreckung und Machtdemonstration bedachten Staatsapparats. Die beiden Formen sind, normalerweise, auf Revolution und Repression verteilt. (…)

 

Den Nazis ist es vorbehalten geblieben, beides zu kombinieren (…). Der Terror von 1933 wurde  geübt von echtem, blutberauschten Pöbel (nämlich der SA – die SS spielte damals noch nicht die Rolle wie später) – aber die SA trat dabei als ‚Hilfspolizei‘ auf, sie handelte ohne jede Erregung und Spontaneität und insbesondere ohne jede eigene Gefahr; vielmehr aus völliger Sicherheit heraus, befehlsgemäß und in strikter Disziplin. Das äußere Bild war revolutionärer Terror: Wilder unrasierter Mob, nächtlich in Wohnungen einbrechend und Wehrlose in irgendwelche Folterkeller schleppend. Der innere Vorgang war repressiver Terror: Kalte, genau berechnete, staatliche Anordnung und Lenkung und volle polizeiliche und militärische Deckung. (…) Was stattfand, war (…) einfach die abtraumhafte Umkehrung der normalen Begriffe: Räuber und Mörder als Polizei auftretend, bekleidet mit der vollen Staatsgewalt; ihre Opfer als Verbrecher behandelt, geächtet und im Voraus zum Tode verurteilt.

 

(…) Diese Art von Terror hatte den Vorteil, daß man je nachdem bedauernd die Achseln zucken und von ‚unvermeidlichen traurigen Begleitumständen jeder Revolution‘ sprechen konnte – also die Entschuldigung des revolutionären Terrors – oder auch auf die strikte Disziplin hinweisen konnte und darlegen, daß vollkommene Ruhe und Ordnung herrschte, daß ausschließlich gewisse notwendige Polizeiaktionen stattfanden und daß revolutionäre Unordnung gerade dadurch in Deutschland ferngehalten würde – die Entschuldigung des repressiven Terrors. Beides geschah denn auch abwechselnd, je nach Art des Publikums“.

 

Soweit Haffner. Er beklagt so, dass es zu wenig „Verteidigungsenergie, Mannhaftigkeit, Haltung“  gab; „Panik, Flucht und Überläuferei“ hätten überwogen. Willy Brandt sprach davon, dass „wir der menschlichen Neigung (begegnen), einer akuten Gefahr nicht klar ins Auge zu sehen, sich falschen Hoffnungen hinzugeben und darauf zu setzen, dass sich das Schlimmste vielleicht doch vermeiden lasse. Wer wollte leugnen, dass solche Neigungen in entsprechenden Situationen - bei weitem nicht nur bei uns in Deutschland - immer wieder durchgebrochen sind!“

 

Des Zusammenspiel des offenen Terrors nazistischer Mordbanden und des verdeckten Terrors in Gestalt von Gesetzen und Verordnungen – von dieser Situation ausgehen zeigt die heutige Ausstellung exemplarische Schicksale von einst populären Bühnenkünstlern auf.

 

Es sind Schicksale, die sich aus Antisemitismus und völliger Einpassung der Theater in das Propagandasystems des NS-Staates ergeben. Die Theaterleitungen wurden systematisch mit NS-Gefolgsleuten besetzt, die sofort mit Kündigungen, Absetzungen und brutalen Repressalien unterschiedlichster Art gegen politisch Unzuverlässige und „nicht-arische“ Künstler vorgingen. Wer seine „arische“ Herkunft nicht nachweisen konnte oder kein Treuegelöbnis zum Naziregime ablegte, wurde mit Spiel- und Schreibverbot belegt und damit beruflich vernichtet.

 

Natürlich stand Berlin als das kulturelle Zentrum der verhassten Weimarer Republik im Zentrum dieses massiven und gleichzeitig zentral geführten Angriffes. Es wurde gelenkt vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Leitung von Joseph Goebbels. An die Stelle geistiger Freiheit, Weltoffenheit und Experimentierlust trat Dumpfheit, Chauvinismus und eine gegen jede Art von Modernität gerichtete Grundeinstellung. Das Theater sollte völkisches Bewusstsein und ein Gefühl für die Überlegenheit der arischen Rasse vermitteln und besonders beim jungen Publikum sollten „heldische Herzen erweckt“ werden.

 

Herausgegriffen sei das Schauspiel „Schlageter“ von Hanns Johst, mit der Widmung „Für Adolf Hitler in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue“. Das Drama, an dem Johst von 1929 bis 1932 gearbeitet hatte, wurde am 20. April 1933 zu Hitlers Geburtstag im Staatstheater am Gendarmenmarkt in Anwesenheit des Führers und hochrangiger Vertreter der NSDAP, der Wehrmacht und aus Kunst und Literatur uraufgeführt. Es wurde im ganzen Land in über 1.000 Städten gespielt. Das Stück prägt den NS-Mythos vom Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter, der während der Ruhrbesetzung (1923) von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde, da er Anschläge auf militärische Verkehrsverbindungen verübt hatte. Johst proklamierte ihn zum „ersten Soldaten des Dritten Reiches“. Der „Völkische Beobachter“ nannte das Stück «das erste Drama der deutschen Revolution».

 

Wie wichtig den Nazis die ideologische Ausrichtung des Theaters war, zeigt sich daran, dass bereits am 1. August die ständisch-nationalsozialistische Reichstheaterkammer entstand, durchorganisiert nach dem Führer-Prinzip. Der sogenannte Reichsdramaturg war das entscheidende Instrument zur Kontrolle der unmittelbaren künstlerischen Produktion. Als am 1. September die neue Spielzeit begann, fanden sich auf den Programmzetteln der laufenden Inszenierungen anstelle der wohlbekannten Namen neue. Viele der Künstler, die wenige Wochen zuvor noch auf Berlins Bühnen bejubelt worden waren, waren auf der Flucht oder lebten in der Illegalität. Der neu gegründete „Kulturbund Deutscher Juden“, dem zunächst geschlossene Veranstaltungen für Juden genehmigt wurden, war ein eher hilfloser Versuch dem Elend der Erwerbslosigkeit und der zunehmenden Ausgrenzung entgegenzuwirken.

 

Wir wissen, wie die braune Barbarei in den Jahren nach 1933 immer gnadenloser wütete, wie sich die Schlinge für diejenigen, die nicht entkommen konnten, immer mehr zuzog. Der Soziologe Harald Welzer hat vor ein paar Jahren in seinem Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ anschaulich gezeigt, wie der zunehmende Prozess des  gesellschaftlichen Ausschlusses notwendige Voraussetzung des Genozids ist. Erst nachdem die Mehrheitsgesellschaft eine Minderheit als störend und bedrohlich wahrgenommen hat, kann sie sie ihr „Heil darin [erblicken], diese Gruppe unschädlich zu machen und zu vernichten“. Wertorientierung und Referenzrahmen des Handelns verschieben sich. Die Täter konnten das Töten als „gut“ interpretieren, da das Morden einer perversen Definition von Gerechtigkeit und Gemeinwohl entspricht. Ohne diese nationalsozialistische Unmoral von 1933 hätte es wohl kaum eine derartige Enthemmung bei Vernichtungskrieg, Shoa und Massenmorden gegeben.

 

Erlauben Sie mir zum Schluss eine tröstlichere Perspektive:

 

Wenn ich es richtig weiß, wurde die großartige deutsche Theatergeschichte nach 1945 durch die Erfahrungen des Exils geprägt – von Bert Brecht bis Max Reinhardt. Die Nazis konnten nicht alles auslöschen, die Zahl der emigrierten Dramatiker und Theaterpraktiker – also Schauspieler, Regisseure, Bühnenarbeiter – wurde von der Akademie der Künste auf 4000 geschätzt; in mehr als 40 Asylländern wurden 477 dramatischen Werke durch deutschsprachige Exil-Schriftsteller geschaffen und mehr als 800 deutschsprachigen Inszenierungen durch emigrierte Theaterleute, von der Beteiligung an Filmproduktionen und Rundfunksendungen ganz zu schweigen.

 

Trotz Gustaf Gründgens, trotz Heinz Hilpert vom Deutschen Theater: Nicht die im Land gebliebenen Künstler hatten die Kraft, einen neuen Aufbruch zu schaffen, sondern die Künstler, die draußen, auch wo sie nicht spielen konnten, Leidenschaft und moralische Energie des Theaters vor 1933 bewahrt haben. Für sie war die Vorstellung noch lange nicht zu Ende. Sie sind auch in dieser Ausstellung vertreten, wie etwa Wolfgang Langhoff, Erwin Piscator, Fritz Kortner, Grete Mosheim, Elisabeth Bergner oder Therese Giehse.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Die Ausstellung ist noch bis zum 3. März im Willy-Brandt-Haus zu sehen.