Unterschrift Wolfgang Thierse

Laudatio Regine-Hildebrandt-Preis 2011

 
6. Mai 2011

Laudatio anlässlich der Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises 2011

Laudatio anlässlich der Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises für Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut an Christian Führer, Pfarrer em., und Dr. Jürgen Borchert, Sozialrichter, in Bielefeld:

Vor zehn Tagen, am 26. April, wäre Regine Hildebrandt 70 Jahre alt geworden. Wie gerne hätten wir dieses Jubiläum gefeiert – gemeinsam mit ihr, ihrer Familie, ihren politischen Freunden!

Ich bin dankbar dafür, dass wir hier in Bielefeld Gelegenheit haben, an diese leidenschaftliche Kämpferin für mehr soziale Gerechtigkeit zu erinnern, ihr politisches und soziales Engagement zu würdigen.

Ich habe viele persönliche und sehr lebhafte Erinnerungen an Regine Hildebrandt. Der Herbst 1989 hatte uns aus unseren Nischen in die Politik gespült, plötzlich konnten wir für unsere Überzeugungen öffentlich streiten. Als wir beide zum ersten Mal für ein politisches Amt kandidierten, bestritten wir auch unsere erste Wahlkampfveranstaltung gemeinsam. Eine erstaunliche Erfahrung! Es ging um die Volkskammer¬wahl vom März 1990. Schon damals bewährte sich Regines unnachahmliches Mundwerk: Binnen kürzester Zeit hatte sie nicht nur viel mehr gesagt als alle anderen, sondern auch die Herzen des Publikums erreicht und erobert. Menschen überzeugen, ohne zu blenden, ohne verführen zu wollen – das ist eine große Gabe und eine große Chance. Regine Hildebrandt wusste mit dieser Gabe verantwortungsvoll umzugehen, es ist eine Frage des Charakters, des Anstands. Regine war auch hierin ein Vorbild – für Politikerinnen und Politiker aller Parteien und für ihre Wählerinnen und Wähler sowieso.

Ihre Art des Mitfühlens, des Streitens, ihre Unbeug¬samkeit, ihr Lebensmut waren prägend. Regine Hilde¬brandt ging es immer um andere, nicht um sich selbst. Und weil sie dies auch vermitteln konnte, wirkte ihr politisches Engagement so authentisch, so glaubwürdig. Sie machte Politik um der Menschen willen. Der „Einsatz für die kleinen Leute“, sagte sie, „ist für mich das Wesen der Politik“. Das war ihr Selbstverständnis im politischen Amt, ihr Selbstverständnis als Regierungsmitglied.

Als Familienministerin in der letzten und einzigen frei gewählten Regierung der DDR (1990) und dann neun Jahre als Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg war sie die unüberhörbare Fürsprecherin und Stimme des Ostens. Ihr ganzer Einsatz galt – bis zu ihrem frühen Tod im November 2001 – der Herstellung gleicher sozialer Chancen und Rechte in den neuen Ländern und in ganz Deutschland.

Regine Hildebrandt hatte nie hinnehmen wollen, dass die Arbeits-losigkeit in Ostdeutschland mehr als doppelt so hoch ist wie im Westen. Das könne und dürfe doch nicht der Preis der erkämpften Einheit und Freiheit sein! Sie errichtete in Brandenburg ein ganzes Netz von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, um die Massenarbeitslosigkeit und deren schlimmen Folgen zu mildern. Sie nannte sich selbst die „ABM-Tante“ und nahm trotzig in Kauf, von manchen Widersachern als „Nervensäge“, als „Eiserne Lady des Ostens“, als „Klagemauer“ (um nur einige der freundlicheren Varianten zu nennen) verspottet zu werden. Sie hielt kräftig dagegen und suchte unbeirrbar nach Auswegen, nach Alternativen, um mutlos gewordenen Jugendlichen und frustrierten Arbeitslosen doch noch Perspektiven für ein erfülltes Leben aufzuzeigen.

Regine Hildebrandt lag daran, in Not geratene Menschen nicht alleine zu lassen. Ihre Stärke war es, als Politikerin Solidarität und Zuwendung vorzuleben. So wurde sie nie zu einer Technikerin der Macht. Sie half, wo und wie es ging und drückte aus, was viele der Betroffenen selbst nicht ausdrücken konnten: nämlich dass Benachteiligung und Ungleichheit der Lebens¬chancen nicht hingenommen, nicht akzeptiert werden dürfen.

Ihre Energie, ihre Leidenschaft, ihre Ausdauer, aber auch ihre Fähigkeit, herzlich, freundlich, interessiert zu sein – verdankten sich einer wesentlichen Quelle: Regine Hildebrandt war überzeugte Christin. Der christliche Glaube hat ihre Politik fundiert, er gab ihr Orientierung und Kraft. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter diente ihr als Leitmotiv (Zitat): „Dass man sich um den Nächsten bemüht und kümmert, aufpasst, dass der Egoismus nicht überhand nimmt, dass man sich an dem orientiert, was Christus vorgelebt hat.“ Das ist gelingendes Leben: nicht als Einzelkämpfer gegen alle anderen, sondern innerhalb einer Gemeinschaft und solidarisch mit den Benachtei¬ligten, Zurückgesetzten, Schwächeren. „Zuständigkeit füreinander“ – das war ihre Botschaft von der mitmenschlichen Verantwortung.

Als Berliner Nachkriegskind war Regine Hildebrandt vor allem geprägt durch Ernst Reuter und Willy Brandt. (Zitat): „Das waren Sozialdemokraten, die machten Politik, die ich akzeptierte: für soziale Gerechtigkeit, für Teilhabe aller Bürger am gesellschaftlichen Leben. Sie zeichneten sich durch Bürgernähe und Kenntnis der Praxis aus (…), sie wussten, wo uns der Schuh drückt.“

Auch die Politikerin Regine Hildebrandt war nahe dran an den Menschen, an ihren Sorgen und Problemen. Sie reiste durchs Land und suchte das persönlichen Gespräch wie kaum ein anderer Minister. Sich nicht unterkriegen lassen, selbst aktiv werden, für die eigenen Rechte kämpfen – das war ihre Forderung. Sie hat ostdeutsches Selbstbewusstsein dargestellt, was gerade für jene besonders wichtig war, die unter Benachteiligungsgefühlen und Zurücksetzungsgefühlen gelitten haben. Ihnen gab sie ihre wortgewaltige Stimme: Sie war ja fast wie ein Naturereignis, wenn sie auftrat und in Fahrt geriet. (Dass sie auch ganz andere Tonlagen beherrschte, wissen alle, die sie als Chormitglied ihrer geliebten Berliner Domkantorei gehört haben oder als versierte Nachahmerin von Vogelstimmen. Auch hier gelang es ihr, andere neugierig zu machen und mit ihrer Begeisterung anzustecken.)

Meine Damen und Herren,

die heutige Preisvergabe steht wieder unter einem Jahresmotto, das Regine Hildebrandt geprägt hat. Es ist ein typischer Hildebrandt-Gedanke aus dem Jahre 1993. Man sieht sie förmlich vor sich: beide Arme erhoben und schnell sprechend. Ich zitiere:

„Die da oben? Die da unten? Und wo bin ich? Mittendrin! Nah genug, um den einen auf die Füße zu treten und den anderen auf die Füße zu helfen.“

Den einen auf die Füße treten, den anderen auf die Füße helfen, ihnen Halt und Beistand geben – ein wunderbares Bild! Ein Leitspruch, dar sich übertragen lässt auf die beiden Persönlichkeiten, die in diesem Jahr den „Regine-Hildebrandt-Preis für Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut“ erhalten werden:

Christian Führer und Dr. Jürgen Borchert.

Der Bielefelder Regine-Hildebrandt-Preis, das wurde schon angesprochen, würdigt herausragendes soziales Engagement, Engagement für andere. Dieser Preis ist Bekenntnis und Verpflichtung zugleich, denn er wird verliehen in der festen Überzeugung, dass unsere Gesellschaft ohne Solidarität nicht leben kann.

Der Abschied von der Solidarität als handlungsleitendem Grundwert wäre der Abschied von einer Gesellschaft, die Gerechtigkeit anstrebt, die Freiheit immer auch als die Freiheit des Anderen begreift. Der Abschied von der Solidarität markierte das Ende des Sozialstaats, denn was ist der Sozialstaat anderes als gesellschaftlich organisierte Solidarität?

Christian Führer und Jürgen Borchert sind Persönlichkeiten, die sich immer wieder und sehr vernehmbar an den realen Verhältnissen gerieben und für andere eingesetzt haben. Sie haben soziale Missstände benannt, sie haben sich angelegt mit starken Interessenverbänden (auch Parteien), sie haben Mitstreiter gesucht und gefunden. Und sie haben bewiesen: Einmischung lohnt sich, die sozialen und politischen Verhältnisse – sie sind gestaltbar, sie können verbessert werden. Sie lassen sich ändern, wenn der einzelne nicht nur sich selbst der Nächste ist, sondern Verantwortung übernimmt für Nachbarn, für jene, die schlechter dran sind, die Hilfe brauchen – für das Gemeinwohl eben.

Christian Führer wurde 1989/90 öffentlich bekannt als Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, die im Vorfeld und Verlauf der friedlichen Revolution in der DDR eine wichtige Rolle spielte.

1943 in Leipzig geboren, wuchs Christian Führer in einem Pfarrhaus in der sächsischen Provinz auf. Er studierte Theologie in Leipzig und legte 1966 sein theologisches Staatsexamen ab. 1968 wurde er als Pfarrer in Lastau und Colditz eingesetzt, im gleichen Jahr heiratete er, vier Kinder folgten. 1980 wurde er an die Stadt- und Pfarrkirche St. Nikolai in Leipzig berufen. Nach 28 Jahren im Amt ging Christian Führer im Frühjahr 2008 in den Ruhestand, der – bei seinem Temperament, seiner Lebensfreude und Streitlust – natürlich alles andere als ein „Ruhestand“ ist.

Christian Führers Nikolaikirche war in den 80er Jahren im besten Sinne des Wortes eine Offene Stadtkirche – „offen für alle“, auch für Protest- und Randgruppen, für Oppositionelle, für Ausreisewillige: Kirche als Lebensraum in einer Gesellschaft, die alles vorschreibt, kontrolliert, sanktioniert.

1982 regte eine Gruppe der Jungen Gemeinde an, die kircheneigene Friedensarbeit zu forcieren. Statt nur an zehn Tagen im Jahr (der sog. „Friedensdekade“) sollten künftig wöchentlich Friedensgebete durchgeführt werden. Der Vorstand der Pfarrgemeinde stimmte zu und Pfarrer Führer setzte die Anregung um. Seit September 1982 gibt es die Friedensgebete regelmäßig, jeden Montag. Sie gaben (und geben) den Menschen Trost und Hoffnung, sie stärkten ihren Widerspruchsgeist, sie organisierten Solidarität.

1989 wurde die Nikolaikirche Ausgangspunkt für die berühmten Montagsdemonstrationen, die im Anschluss an die Friedensgebete stattfanden. Die Teilnehmerzahl wuchs von Woche zu Woche. Am 9. Oktober 1989 kamen in Leipzig rund 70.000 Menschen zusammen, eine unglaubliche Anzahl! Sie hatten ihre Angst und ihre Sprachlosigkeit überwunden und ließen sich – trotz heftiger Einschüchterungsversuche im Vorfeld – von den Polizei- und Sicherheitskräften nicht provozieren. „Keine Gewalt“, so lautete die Botschaft der Friedensgebete – und diese Botschaft setze sich durch. Dieser 9. Oktober 1989 in Leipzig wurde weltweit zum Symbol der Friedlichen Revolution in der DDR.

Christian Führer ging 1990 nicht in die Politik, wie andere Pfarrer und Pastoren. Er blieb seiner Gemeinde erhalten und hielt die Kirche „offen für alle“ – offen für Menschen, die in den Folgejahren ihren Arbeitsplatz verlieren sollten, die in wirtschaftliche Notlagen gerieten, die sich plötzlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sahen. Pfarrer Führer erklärte anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit (Zitat): „Der zweite Teil der friedlichen Revolution muss noch vollbracht werden: eine andere, zur Demokratie besser passende Wirtschaftsordnung. In der Wirtschafts- und Bankenkrise hat sich das System als nicht zukunfts-fähig entlarvt. Die Wurzelsünde des Globalkapitalis¬mus“, so Führer, sei „die Anstachelung der Gier. Die Forderung heißt: eine ethische Neuorientierung, eine Jesus-Mentalität des Teilens – Arbeit, Wohlstand, Einkommen. Der Rechtsstaat muss eine Wirtschafts¬form entwickeln, die am Menschen orientiert ist.“ (Ende des Zitats; Quelle: Interview im Tagesspiegel, 9. Oktober 2010)

Christian Führer zählte zu den vehementen und durchaus streitbaren Kritikern der Hartz-IV-Reformen und unterstützte neue „Montagsdemonstrationen“. Er protestierte aber auch gegen die Ungleichbehandlung von Frauen und mobilisierte hunderte Menschen zu Mahnwachen für zwei im Irak entführte sächsische Ingenieure. Er ist ein homo politicus aus Überzeugung.

„Einen aufrechten Christenmenschen“, nannte der Schriftsteller Erich Loest den Pfarrer. Und das heißt doch: Christian Führer nimmt Verantwortung wahr für „die Mühseligen und Beladenen“, er steht zu den Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft und Konfession.

Verlässliches demokratisches Engagement bewies er auch mit couragierten Aktionen gegen Rechtsradikalis¬mus und Fremdenfeindlichkeit. Bei den in Leipzig stattfindenden rechtsradikalen Aufmärschen zählte Christian Führer zu den Initiatoren der friedlichen Gegendemonstrationen – mit beachtlichem Erfolg.

Meine Damen und Herren,

ein engagierter und öffentlich wahrnehmbarer Streiter für eine gerechtere Gesellschaft ist auch Jürgen Borchert. 1949 in Gießen geboren, studierte er Jura, Soziologie, Politologie in Freiburg, Genf, Berlin. Er legte 1974 und 1978 sein 1. und 2. Staatsexamen ab und promovierte 1981. Anschließend arbeitete er einige Jahre als Wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin und der Universität Bremen. 1986 wurde der zweifache Vater Richter am Hessischen Landessozialgericht. Dort wirkt er heute als Vorsitzender Richter des 6. Senats (zuständig für die Fachgebiete Arbeitslosenversiche-rung / Grundsicherung für Arbeitssuchende / Asylbe-werberleistungsrecht / Sozialhilfe / Bundeserziehungs¬geld / Bundeselterngeld / Kindergeld / Unfallversiche¬rung).

Der Sozialrichter Jürgen Borchert hat sich nicht nur als Fachjurist, sondern auch als Politikberater einen Namen gemacht – auf Landes- wie auf Bundesebene und quer durch das ganze Parteienspektrum, auch für Gewerkschaften und Verbände. Im Wissenschaftlichen Beirat von Attac ist er ebenfalls aktiv.

Für die hessische Landesregierung (Roland Koch) verfasste Jürgen Borchert vor neun Jahren den „Wiesbadener Entwurf“ – ein Diskussionspapier über neue Wege in der Familienpolitik.

Als Sachverständiger war Jürgen Borchert an mehreren, jeweils folgenreichen familienpolitischen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts beteiligt und hat wichtige Anstöße zur Korrektur und Verbesserung unserer Sozialgesetze gegeben.

Das von ihm initiierte sogenannte „Trümmerfrauen-Urteil“ von 1992 verpflichtete den Gesetzgeber, die Benachteiligung von Eltern gegenüber Kinderlosen in der Rentenversicherung zu beenden, sprich: Erziehungszeiten bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen.

2001 hatte Jürgen Borchert Erfolg mit einer Klage gegen die Pflege-Versicherung. Diese würde Familien mit Kindern finanziell und rechtlich erheblich schlechter stellen als Kinderlose, klagte er. Das Bundesverfassungsgericht folgte seiner Argumentation und stellte klar, dass keines der Sozialsysteme ohne die Erziehung von Kindern Bestand habe, schließlich seien die Kinder die Rentenzahler von morgen! Wer Kinder großziehe, habe Ansprüche an die Versichertengemeinschaft; auch hier gelte das Prinzip von Leistung und Gegenleistung.

Jürgen Borchert gehörte auch zu den Initiatoren der Hartz-IV-Klage, über die das Bundesverfassungs¬gericht im Februar 2010 zu entscheiden hatte. Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber, das Existenzminimum, die Armutsgrenze in einem transparenten Verfahren festzulegen und die Frage der realitätsgerechten Bedarfe (also die Höhe der Regelsätze) fortlaufend zu prüfen.

Nach schwierigen Verhandlungen haben wir im Februar 2011 im Deutschen Bundestag einen Kompromiss über das Hartz-IV-Paket erzielt. Wie gesagt: Es ist ein Kompromiss – nur so funktioniert die Demokratie! Ein Erfolg ist, dass wir Mindestlohn für die Leiharbeit durchsetzen konnten. Hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Berechnungsmethoden bzw. der statistischen Verfahren sind aus Sicht der SPD aber nicht alle Fragen geklärt. Hier beharrt die Bundesregierung auf ihrer Rechtsauffassung und trägt somit die Verantwortung bei einer erneuten Prüfung der Regelsätze. //Siehe dazu Papier der SPD-Fraktion v. 21. Februar 2011, S. 6-7.//

Meine Damen und Herren,

Christian Führer und Jürgen Borchert standen und stehen „mittendrin“ in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Sie beziehen sehr kenntlich Position und sind parteiisch im besten Sinne des Wortes: Sie machen sich stark für jene, die solidarischer Unterstützung bedürfen: die Familien, die sozial Schwachen, die Arbeitssuchenden – eben jene, die nicht selbst oder nur bedingt für sich sorgen können.

Sie machen Politik und Öffentlichkeit auf soziale Schieflagen, auf handfeste Benachteiligungen, auf Fehler in den Regelwerken, auf Optimierungsmöglichkeiten in der Gesetzgebung aufmerksam und beteiligen sich an der Suche nach besseren Lösungen. Damit helfen sie nicht nur einzelnen oder bestimmten Gruppen der Gesellschaft, sondern stärken und verteidigen den Sozialstaat insgesamt. Sie helfen, unsere Gesellschaft gerechter und solidarischer und lebenswerter zu machen. Damit befördern sie den sozialen Zusammenhalt.

Es gab und gibt Anlässe für Kritik am konkreten Sozialstaat. Es wurden Fehler bei Hartz IV gemacht, die werden korrigiert. Politiker wären dumm, wenn sie aus Erfahrungen nicht lernen würden. Demokratie ist eine Praxis, die Fehler und Irrtümer der Verantwortlichen einkalkuliert. Deshalb verleiht sie Macht nur auf Zeit und bindet sie an Kontrolle, an Rechenschaft und öffentliche Diskussion. (Das gilt für die politische Macht, aber längst nicht so für die Repräsentanten wirtschaftlicher Macht!)

Doch ich sage auch und sehr deutlich: Bei aller berechtigten Kritik sollten wir den Sozialstaat nicht in Frage stellen, nicht denunzieren, sondern ihn verteidigen – ihn korrigieren, anspornen, entlasten, ergänzen. Ohne eine vitale, wache Zivilgesellschaft ist der demokratische Staat in seiner Substanz gefährdet. Beide bleiben wechselseitig aufeinander angewiesen, brauchen einander. Dessen sollten sich alle Akteure, alle Kritiker bewusst sein.

Der Sozialstaat, die größte europäische Kulturleistung, unter-scheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von den anderen Kontinenten. Er ist die organisierte Solidarität zwischen Starken und Schwachen, Jungen und Alten, Kranken und Gesunden, Arbeitnehmern und Erwerbslosen. Er ist und bleibt die entscheidende Grundlage für die wirtschaftlichen Dynamik, die unseren Wohlstand schafft.

Das Wesen, die eigentliche Leistung des Sozialstaats besteht darin, dass er den Schwachen, den Hilfsbedürftigen von einem Objekt gewiss löblicher Hilfsbereitschaft und Caritas zu einem Subjekt von Rechtsansprüchen macht und damit seine Würde wahrt – soweit Politik und Staat das überhaupt können.

Werden hier Fehler gemacht, falsche Entscheidungen getroffen oder bessere Lösungen verweigert, dann muss den Entscheidungsträgern – ob in der Politik, in der Sozialstaatsbürokratie, aber auch in der Wirtschaft und in anderen gesellschaftlichen Bereichen – auf die Füße getreten werden. Dann ist Kritik nötig, dann sind bessere Vorschläge gefragt.

Die repräsentative Demokratie ist auf Beteiligung möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger angewiesen, das war so und das bleibt so. Christian Führer und Jürgen Borchert sind – ganz in diesem Sinne – vorbildliche Bürger. Sie mischen sich lautstark ein, sie mahnen, sie helfen, sie engagieren sich. Sie leben Demokratie.

Heute erhalten sie den Regine-Hildebrandt-Preis 2011 für Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut.

Ich danke Ihnen im Namen aller hier Versammelten für Ihr beispielhaftes Engagement und gratuliere Ihnen, Herr Führer und Herr Borchert, sehr herzlich zu dieser wohlverdienten Würdigung! Ich wünsche Ihnen auch weiterhin alles erdenklich Gute!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.