Unterschrift Wolfgang Thierse

5. Februar 2018

 
Essay von Wolfgang Thierse in der FAZ vom 5. Februar 2018 unter dem Titel "Respekt"

Wann endet die Wiedervereinigung?

Frankfurter Allgemeine Zeitung 

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

 
Beitrag von Wolfgang Thierse in der FAZ, 5. Februar 2018

 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30/18, Montag, 5. Februar 2018, Seite 7, Die Gegenwart

Respekt!

Vermutlich ist die deutsche Vereinigung ein asymptotischer Prozess:
Sie kommt nie an ihr Ende. So wenig wie unsere Nazi-Vergangenheit wird auch
die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.
Das ist kein Grund für Wut und Empörung, jedenfalls dann nicht,
wenn es immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gibt.

Von Dr. h.c. Wolfgang Thierse*

Am diesem Montag begehen wir ein besonderes Datum: Wir Deutschen leben an diesem 5. Februar nunmehr genauso lange gemeinsam und ohne Mauer, wie wir durch die Mauer getrennt haben leben müssen – 28 Jahre und drei Monate. Ist das womöglich ein Anlass, zu feiern?

Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzuviel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist.

Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden, und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Je jünger die Befragten sind, umso weniger stimmen sie dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental.

Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach der Bundestagswahl im September und dem Erfolg der AfD – wird die vorwurfsvoll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Vor zwei Monaten erregte der Vorwurf Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 27 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten. Von „kulturellem Kolonialismus“ war gar die Rede. Vor zwei Wochen hat der thüringische Kultusminister Helmut Holter von der Linkspartei eine gewisse Erregung verursacht mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches zwischen Ost und West in Deutschland. Ob Zustimmung oder Ablehnung, das Erstaunen war groß darüber, dass ein solcher Vorschlag so lange nach der Überwindung der Mauer gemacht wurde.

Das waren nur drei Schlaglichter, 28 Jahre nach friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung. Gewichtiger sind die Unterschiede, die die Bundesregierung in ihren alljährlichen Berichten zum Stand der Deutschen Einheit in gebotener Nüchternheit auflistet. Dem letzten Bericht vom Sommer 2017 kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 28 Jahre gekommen sind. Von Hochstimmung, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (Artikel 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten – trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen: niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, höhere Arbeitslosigkeit, größeres Armutsrisiko und deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungs­prozess hat sich zuletzt extrem verlangsamt, ja er ist auf einigen Feldern beinahe zum Erliegen gekommen.

Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 28 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Zugleich sind sie das – durchaus ernüchternde – Ergebnis von 27 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist. Schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West.

Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja allgegenwärtig. Die Rede aber vom Milliardengrab Ost ist durchaus beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, zuletzt durch die Entscheidung von Siemens, das dortige Werk zu schließen.

Görlitz ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend erfüllt worden ist. In Artikel 35 des Einigungsvertrags war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen, also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sie sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden: eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird!

Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wann denn die Wiedervereinigung zu Ende ist? Ich will die Antwort darauf in fünf Punkten geben:

Erstens: Vieles schlägt auf der Haben-Seite zu Buche, vieles steht noch auf der Soll-Seite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gilt. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität.

Dresden, Jena, Leipzig oder Berlin-Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen allerdings auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die Zeit nach 2019 – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Daseinsvorsorge“ zu schaffen. Das wäre die Formulierung einer Aufgabe in gesamtstaatlicher Verantwortung, die nicht mehr auf die West-Ost-Differenz orientiert ist, sondern auf Regionen zielt, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, egal in welchem Teil Deutschlands sie liegen. Im Rahmen einer solchen Gemeinschaftsaufgabe sollten von Bund und Ländern in den definierten Regionen zum Beispiel öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen, leitungsgebundene Infrastrukturen, Mobilität und Verkehr, Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und die interkommunale Kooperation gefördert werden.

Zweitens: In den vergangenen 27 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben als Ost- oder Westdeutsche, im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: Junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. Für deutlich mehr als 90 Prozent von ihnen überwiegen die Vorteile der Einheit, für die Ostdeutschen insgesamt gilt das für über 70 Prozent. Den ärgerlicheren Teil solcher Umfragen will ich nicht verschweigen: Nur zwischen 50 und 60 Prozent der Westdeutschen sehen für sich mehr Vor- als Nachteile durch die deutsche Einheit, bei den jungen Leuten sind es immerhin etwa 70 Prozent.

Drittens: Die deutsche Tagesordnung wird heute nicht mehr von den deutschen Ost-West-Dif­ferenzen bestimmt. Es ist eine gewisse Beruhigung, vielleicht gar Ermüdung eingetreten, vom gelegentlichen Aufflackern der Thematik abgesehen. Es geht vielmehr um ökonomisch-sozi­ale Differenzen. Neben dem West-Ost-Gefälle ist das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland (wieder) sichtbarer geworden. Regionale Disparitäten (über das ganze Land verteilt) und verschuldete Kommunen werden zum Gegenstand politischer Aufmerksamkeit. Vor allem die deutlich größer gewordene Vermögens- und Einkommensungleichheit wird als anstößig, ja als Gefährdung des sozialen Friedens empfunden. Sie ist eine der großen politischen Herausforderungen im gemeinsamen Land, in dem, wie zuletzt zu lesen war, 83 Prozent des Volks­einkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte und in dem 45 Reichen so viel gehört wie der Hälfte der Deutschen.

Kommen die spezifischen Generationsdifferenzen hinzu und die Geschlechterungerechtigkeiten, die Bildungsungleichheiten (unter anderem der „digital gap“) und auch die Ungleichzeitigkeiten sozialer und kultureller Art der Einwanderungsgesellschaft, die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre, die europäischen Ungleichheiten und Ungereimtheiten – dann ergibt sich ein politisch-ökonomisch-soziales Gesamtpanorama, innerhalb dessen Ost-West und deutsche Vereinigung nur ein Thema unter anderen geworden ist. Durch Überlagerung sind die Ost-West-Differenzen natürlich nicht verschwunden oder gar erledigt, sondern bestenfalls relativiert. Mir will das durchaus als eine Art Normalisierung erscheinen. 28 Jahre nach der Überwindung der Mauer ist das innerdeutsche Thema eben eines von vielen geworden. Wir Ostdeutschen sollten darüber nicht klagen, denn schließlich sind die genannten Probleme und Konflikte auch unsere ostdeutschen Probleme und Konflikte geworden.

Viertens: Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren bedeutsam. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Veränderung von Mentalitäten, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit.

Ralf Dahrendorf, der beeindruckende Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre.

Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Allerdings waren wir als Ostdeutsche in einer privilegierten Situation. Wir wurden sechs Monate nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechts­ordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell, die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil war, das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass dieser Prozess im ganzen Jahr 1990 immer auch unter den Auspizien von Wahlen (im März in der DDR und vor allem im Dezember in ganz Deutschland) stattfand, also beeinflusst von Wahlkämpfen. „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR beigetragen. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben, sie waren, durchaus verständlich, geradezu süchtig nach hoffnungmachenden Versprechungen.

Zu den besonders intensiv nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das eine ist die Norm, die die anderen zu übernehmen haben; die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge; bei den einen kann alles so bleiben, bei den anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den einen als Bestätigung des Status quo, bei den anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Frankfurt am Main jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde?

Aber aus dieser unvermeidlichen Grundkonstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Eine Folge war die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Eine andere Folge die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und wieder eine andere Folge die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung zuletzt in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und zur Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen auf die CDU gesetzt und danach (1998 und 2002) auf die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen.

Des Wahlverhalten wie auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach knapp drei Jahrzehnten auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten heftiger Umbrüche und dramatischer Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratie-Resilienz ist in Ostdeutschland sichtbar geringer ausgebildet. Dies belegt auch eine gerade veröffentlichte Bertelsmann-Studie, deren Ergebnisse allerdings insgesamt beunruhigend sind. Nach dieser Studie liegt die Neigung zu antipluralistischen Einstellungen (also zu Vorbehalten gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen) im Westen Deutschlands zwischen 30 und 40 Prozent, im Osten Deutschlands aber zwischen 50 und 60 Prozent. Auch die Skepsis gegenüber den Institutionen der Demokratie, ihren Regeln und ihren Akteuren ist unter Ostdeutschen deutlich höher. Die Statistiken ausländerfeindlicher Straftaten der vergangenen Jahre sprechen zudem eine sehr beredte Sprache.

All das ist gewiss nicht nur ostdeutsche Problematik. Aber Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet. Die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen sind zäh, die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen schwieriger. Pegida ist nicht zufällig im Osten, in Dresden entstanden.

Die Verteidigung unserer – wie der Blick auf die Welt ringsum zeigt – nicht mehr ganz so selbstverständlichen liberalen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft ist gewiss und eigentlich selbstverständlich eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber sie verlangt eben doch einen deutlichen ostdeutschen Akzent. Wer das nicht sieht, der schließt die Augen davor, dass leider ein nicht kleiner Teil der Ostdeutschen noch nicht jene „demokratische Hornhaut“, jene demokratische Enttäuschungsfestigkeit erworben hat, derer allerdings sich auch die Westdeutschen nicht wirklich sicher sein sollten. Wir erleben ja gegenwärtig die (Wahl-)Erfolge der Rechtspopulisten und der autoritären Nationalisten auch in den westlichen Demokratien.

Fünftens: Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte (die die Aufmerksamkeit für die Ost-Misshelligkeiten und Nachteile verringern) mögen immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen. Sie mögen auch westdeutsche Vorwürfe gegen die „undankbaren“ beziehungsweise „zurückgebliebenen“ Ossis provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig. Trotzdem muss das ausgehalten werden und rechtfertigt auf keinen Fall die gelegentlich anzutreffende wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden.

Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das Jahr der Wunder 1989/90 wird sich nicht wiederholen. Aber das ist alles kein Anlass zur Resignation oder gar zur Verzweiflung – auch nicht zu „Fahnenfluchtversuchen“, zum Beispiel nach der Art der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, in der es Bestrebungen gibt, sich dem reichen Bayern anzuschließen.

In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene „innere Einheit“ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen.

Könnte oder sollte das nicht vielleicht im Jahr 2019 erreicht sein, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution? Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende. Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!

Im Januar 1989 hatte SED-Chef Erich Honecker noch getönt: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die Gründe für ihre Existenz noch bestehen.“ Acht Monate später stürmten die Ostdeutschen die Mauer, das SED-Regime brach zusammen. So ungerecht Geschichte oft genug ist, so versteinert sie immer wieder erscheint, so jähe und glückliche Wendungen gebiert sie auch. Sich darauf zu besinnen und sich den Weg der vergangenen 28 Jahre zu vergegenwärtigen macht den 5. Februar 2018 – trotz des noch Unfertigen und Unerledigten – zu einem glücklichen Tag.

Kleiner Nachtrag: Solange es immer noch Menschen im westlichen Teil Deutschlands gibt, die absichtsvoll noch nicht im anderen Teil Deutschlands gewesen sind (und das dürften mehr sein als im Osten), so lange ist die „Nachwendezeit“ noch nicht zu Ende. Schließlich leben wir Deutsche jetzt so lange ohne Mauer zusammen, wie wir von der Mauer getrennt voneinander haben leben müssen.

*     Der Verfasser war von Juni bis September 1990 Vorsitzender der in der DDR neu gegründeten SPD und gehörte von 2013 an der Bundestagsfraktion der SPD an. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Schlesier des Jahrgangs 1943 Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.