Wolfgang Thierse
Gedanken zum neuen Jahr
abgedruckt im Tagesspiegel vom 3. Februar 2018 unter dem Titel:
„Mühsam, grau, nervig – kurz: notwendig - Warum politische Erlösungsfantasien gefährlich sind und welche elf Punkte die neue Regierung angehen muss“
„Weiter so geht nicht“ – das ist in diesen Monaten und Wochen eine ständig wiederholte Formel, geäußert und nachgeplappert von Politikern, Journalisten, Bürgern. Sie drückt eine Stimmungslage aus, die – medial verstärkt – zwischen allfällig-geschwätziger Forderung nach Erneuerung und einer tiefergehenden Sehnsucht, einem verbreiteten Bedürfnis nach dem ganz Neuen, dem großen Wurf, der überwölbenden Idee, nach der faszinierenden Vision, nach einer großen Erzählung schwankt. Ich muss gestehen, dass mich diese Stimmungslage irritiert und auch zunehmend ärgert. Dabei bestreite ich nicht den akuten Veränderungsbedarf, also Politikbedarf, schon gar nicht als Sozialdemokrat. Ich will die benannte Stimmung ja durchaus ernstzunehmen versuchen und frage mich: Woher kommt sie, was bedeutet sie?
Zunächst ist diese Stimmung doch ein wenig erstaunlich angesichts der Umfragen und der Realitäten in unserem Land. Wir befinden uns ja eigentlich nicht in einem sozialen und ökonomischen Katastrophengebiet (wenn das so wäre, wäre der Wunsch erklärlich, dass es so nicht weitergehen dürfe). Das Gegenteil belegen die volkswirtschaftlichen Daten: Wachstum, hohe Exportquote, steigende Gewinne und Einkommen (allerdings höchst ungleich verteilt). Und das belegen eben auch seit Jahren die Umfragen: Eine große Mehrheit sagt, ihnen gehe es gut bis sehr gut. Aber – und das ist der Zwiespalt – eine fast genauso große Mehrheit teilt die Befürchtung mit, dass dies nicht so bleiben werden, so bleiben könne. Positive Gegenwartsbeurteilung und Zukunftsunsicherheit korrespondieren auf eigentümliche Weise.
Erklärt dieser Zwiespalt die Unzufriedenheit, die Gereiztheit, den Wunsch nach einem ganz Anderen und die Dauerkritik an der Politik und ihrem Personal? Man kann ja die ganz aktuelle Ungeduld verstehen, wenn man auf die Zähigkeit des Ringens um eine neue Regierung blickt. Aber eine Krise, gar eine Krise der Demokratie ist auch dies nicht, noch nicht. Es ist „nur“ die Folge eines schwierigen Wahlergebnisses: 6 Parteien im Bundestag, bittere Niederlagen der bisherigen, die Regierung tragenden Volksparteien.
Allerdings gebe ich zu: Das grassierende, alles verschlingenwollende Unterhaltungsbedürfnis befriedigt dieser Vorgang (wie übrigens jeder demokratische Alltag) nur auf höchst unzureichende Weise: 4 Monate geht das schon, das wird uns allmählich langweilig, eine neue Show muss gefälligst her, mindestens neue Gesichter wird man wohl verlangen dürfen! Erneuerung eben. Weiter so geht nicht.
Und ich gebe auch zu: Von den Parteien – im AfD-Ton den Altparteien, den etablierten Parteien – geht durchaus der Geruch des Ältlichen aus. Sie sind halt schon demokratisch gebrauchte Menschengruppen, demokratisch gebrauchte Formationen. Was soll aber frage ich, bei den Parteien oder an ihrer Stelle das Neue, das ganz Andere sein? Die Antworten auf diese Frage, wenn es sie überhaupt gibt, sind eigentümlich diffus. Robert Birnbaum hat neulich im Tagesspiegel geschrieben: „Fragt man bei Anhängern großer Würfe nach, was das konkret wäre, kommt meist nur Geschwurbel! Das ausgerechnet Volksparteien in ihrer ganzen Breite und Widersprüchlichkeit schlicht damit überfordert sind, ‚große Dinge‘ zu vereinbaren, will keiner hören.“ Er hat wohl recht mit seiner Beobachtung und auch, wenn er im weiteren von „Erlöser-Populisten“ spricht.
Nun will ich die Parteien nicht generell freisprechen (auch meine eigene nicht). Aber ich erlaube mir, eine Vermutung zu haben: Könnte es sein, dass sich in dem Bedürfnis nach dem ganz großen, dem überwältigend Neuen etwas Doppeltes verrät. Einerseits ein bisschen Nostalgie, die sehnsüchtige Erinnerung an große Zeiten (und große Gestalten), die so erhebend anders waren als die gegenwärtigen Niederungen und Qualen. Bei Sozialdemokraten ist das z. B. die Erinnerung an das goldene sozialdemokratische Jahrzehnt der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Bei mir und anderen Ossis ist es wohl die Erinnerung an das Jahr der Wunder 1989/90, an die Zeiten des Neuanfangs, des Aufbruchs. Andererseits zeigt sich hier die populistische Gefährdung, die wir gegenwärtig durchleben, sie zeigt sich gewissermaßen von ihrer freundlicheren Seite. Das muss ich vermutlich erklären und nehme dazu einen kleinen Anlauf und blicke ein wenig zurück:
Ein gutes Vierteljahrhundert ist das alles schon her, ist das erst her: die friedliche Revolution, die Überwindung des Ost-West-Systemkonflikts, das Scheitern einer ehemals verheißungsvollen Utopie (des Kommunismus), die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Welche Euphorie damals, welche Hoffnungen auf ein Zeitalter des Friedens! Der endgültige Siegeszug der Demokratie wurde gefeiert, das Ende der Geschichte wurde verkündet. Welch Kontrast zur Gegenwart! Ernüchterung ist eingetreten in Sachen deutsche Einheit: es dauert alles länger, ist zäher und mühseliger Alltag und macht keine gute Laune mehr. Und die deutsche Einheit ist auch nicht mehr das wichtigste Thema.
Wir haben in Deutschland und auch in Europa in den vergangenen Jahren jedenfalls erlebt, wie sich durch die Flüchtlingsbewegung die politische Tagesordnung und die gesellschaftliche Stimmung heftig verändert haben. Aber nicht nur durch die Flüchtlingsbewegung, denn diese ist ja selbst Symptom und Teil eines umfassenderen Prozesses, den wir mit dem Schlagwort „Globalisierung“ bezeichnen.
Globalisierung, das meint vereinfacht gesagt die Entgrenzung und Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung, der internationalen Arbeitsteilung, des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, meint dramatische Veränderung insgesamt. Mit und seit der Finanzmarkt-Krise erleben wir die Rückseite der Globalisierung, vor allem eine Verschärfung sozialer Gegensätze der Reichtums-Armuts-Unterschiede – auch in Deutschland! Selbst das Weltwirtschaftsforum Davos beklagt die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit als eine der großen Gefahren für die Welt. Viele erleben die Globalisierung als Gefährdung, ja als Verlust des Primats demokratischer Politik gegenüber den Märkten, gegenüber finanzökonomischer Macht, erleben das Schauspiel atemlosen Hinterherhetzens der Politik. Ein Gefühl des Kontrollverlusts über das eigene Schicksal, die eigene Zukunft breitet sich aus, Abstiegsängste und Zukunftsunsicherheit nehmen gerade auch in den sogenannten sozialen Mittelschichten zu.
Ein Gefühl, das verstärkt wird durch den rasanten Prozess der Digitalisierung, vor allem (aber nicht nur) der Arbeitswelt. Die weitere Entwicklung der Digitalisierung und ihre Konsequenzen sind noch nicht voll überschaubar, deren politische, rechtliche und soziale Gestaltung hinkt – erklärlicher Weise – hinterher. Die Zukunft der Arbeit, also der Arbeitsbiografien ist fragil, ist unsicher. Auch die schnellen wissenschaftlichen, insbesondere biomedizinischen und gentechnischen Fortschritte tragen zur Verunsicherung bei. (Gerade haben wir die Nachricht vernommen, dass man nun auch Primaten klonen könne.)
Der Blick in die Welt, in die internationale Politik zeigt: Wir erleben die Wiederkehr alter Geister – des Nationalismus, des Chauvinismus, des Rassismus, der autoritären Politik. Was für eine Welt, die von Putin, Erdogan, Xi Jinping beherrscht wird und nun von Donald Trump, der demokratische Wahlen gewonnen hat mit Chauvinismus, Rassismus und Sexismus!
Schauen wir ringsum: Die liberale, offene, rechtsstaatliche und sozialstaatliche Demokratie wird immer mehr zur Ausnahme! Sie erweist sich als gefährdet, sie ist ein zerbrechliches politisches System. Aber: Diese Demokratie ist die politische Lebensform unserer Freiheit! Sie gilt es zu verteidigen, gerade auch im Alltag von Demokratie. Gerade auch in dem, was man Krise der Parteiendemokratie, Vertrauenskrise der Volksparteien, der demokratischen Institutionen nennt. Gerade auch gegen das, was viele zu Recht als Vergröberung der kommunikativen Sitten erleben. Die Lügen halten Hof als „alternative Fakten“. Die sozialen Medien werden immer mehr zu Echoräumen der eigenen Vorurteile, der Entladung von Hass und der Steigerung von Aggressivität.
Wird sich angesichts all dessen – das ist meine durchaus beunruhigte Frage, meine Besorgnis – unsere Demokratie bewähren und behaupten oder sich etwa als Schönwetterdemokratie erweisen? Darum geht es angesichts der Anhäufung und Zuspitzung schwer zu lösender Probleme und Konflikte in der Welt, von denen Deutschland ja nun wahrlich nur einen kleineren Teil selbst zu bewältigen hat.
Wir kennen aus unserer deutschen Geschichte diesen angstgetriebenen Mechanismus: Je komplexer, bedrohlicher die Problemfülle erscheint, umso stärker das Bedürfnis nach den einfachen, radikalen Antworten, umso stärker die Sehnsucht nach den schnellen Lösungen, ja nach der Erlösung, nach der starken Hand. Das ist die Stunde der Populisten, nämlich der großen und kleinen Vereinfacher und Verfeinder und Schuldzuweiser, die Stunde der autoritären Nationalisten. Mitten in unseren Demokratien breiten sie sich aus, werden lauter, werden gehört, haben bei Wahlen Erfolg. Wir haben sie erlebt und erleben sie in unserer Nachbarschaft: in Frankreich und Holland, in Polen und Ungarn, in Österreich und Italien und eben auch in Deutschland mit der AfD.
Ja, es gibt in der gegenwärtigen Welt und gewiss auch in Deutschland vielfältige Anlässe und Gründe für Zukunfts-Besorgnisse und Zukunfts-Ängste! Ja, es gibt Anlässe und Gründe für den heftigen Wunsch nach der großen Veränderung – und zugleich für den genauso heftigen Wunsch nach Linderung des Veränderungsdrucks, der Veränderungsschmerzen! Aber weder der Ruf nach einer „bürgerlich-konservativen Wende in Deutschland“ á la Dobrindt ist die angemessene Antwort. (Ach, wenn Herr Dobrindt wüsste, wie gutbürgerlich und fast ordentlich konservativ mein Prenzlauer Berg – sein Schreckgespenst – längst geworden ist!) Auch die Rückbesinnung auf die Nation, die Rückgewinnung von Grenzen, „Germany first“ á la AfD ist nicht die angemessene Antwort.
Die angemessene Antwort ist aber eben auch nicht der zwar verständliche und doch auch ein wenig nostalgische Ruf nach dem ganz Neuen, nach der großen Erzählung, der verheißungsvollen Utopie, der alles überwölbenden Idee – wie sie von Bürgern, Journalisten, Professoren, Politikern gewünscht, erfleht, bequatscht werden. Vor einigen Tagen war dies im Tagesspiegel beschrieben worden als „vages Gefühl der Dringlichkeit“, das wohl auch – und das sei gefährlich – „aus einer Ermüdung am prozessualen Charakter der Demokratie“ gespeist werde. Ich halte dies für eine durchaus zutreffende Beschreibung, handelt es sich doch um eine der Spielarten der Geringschätzung, ja der Verachtung der alltäglichen, prosaischen Demokratie. Ich betone dagegen absichtsvoll pathetisch: Die wirkliche demokratische Politik ist weder Unterhaltung noch Erlösung. Die wirkliche Politik ist grau, hässlich, schweißtreibend, enttäuschungsbehaftet und eilt, nein: müht sich von Kompromiss zu Kompromiss, sie verlangt geradezu revolutionäre Geduld! Ich lobe die Langsamkeit von Demokratie, auch wenn sie mich und uns Nerven kostet. Denn nur diese Langsamkeit schafft die Möglichkeit, dass sich an ihren Meinungs-Bildungs- und Entscheidungsprozessen möglichst viel Bürger beteiligen können, wenn sie es denn wollen!
Worum es also jetzt geht, was ich mir für dieses Jahr wünsche – und am Beginn eines neuen Jahres darf man ja noch Wünsche haben und äußern – ist nicht die große Vision, der große Wurf, die nächste Utopie, sondern zunächst ganz schlicht: ein besseres Jahr als 2017 mit einer guten, fleißigen Regierung und einem munteren Bundestag, die beide ihre Tagesaufgaben erledigen und zugleich über den Tag hinaus, über die 4-Jahres-Periode hinaus denken und handeln!
Und das sind die Schlüsselthemen, die wichtigsten Aufgaben (oder wie man heutzutage zu sagen pflegt: Herausforderungen), um die das öffentliche Nachdenken und Streiten, das politische Entscheiden und Handeln kreisen sollte, kreisen muss (ich nenne nur 10 Punkte):
Die zukünftige Gestalt der europäischen Einheit, denn diese ist hochgradig gefährdet durch den Brexit und seine Folgen, den osteuropäischen nationalen Eigensinn, die falsche deutsche Dominanz und vielfältige Uneinigkeiten.
Regeln der Fairness und des gerechten Ausgleichs für den globalen Handel, für das Verhältnis Nord-Süd in der Welt und vor allem Regeln für den entfesselten Finanzkapitalismus, denn die wirklichen Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise sind noch längst nicht gezogen.
Eine wirklich konsequente Nachhaltigkeitspolitik, also kollektive Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels und zur Verhinderung ökologischer Katastrophen.
Die Gestaltung der Zukunft der Arbeit, von Vollbeschäftigung in der digitalen Ökonomie, der Zukunft des Sozialstaats und der sozialen Sicherheit angesichts der Digitalisierung.
Investition in Bildung, Forschung, Infrastruktur zur Modernisierung Deutschlands und zur Verteidigung seiner globalen Wettbewerbsfähigkeit.
Rente, Miete, Gesundheit, Pflege angesichts von demografischem Wandel und angesichts von Demografie als Hauptfelder konkreter Politik zur Verbesserung der Lage von Mehrheiten.
Die soziale, kulturelle und ethische Bewältigung des rasanten technologischen Wandels und des wissenschaftlichen Fortschritts.
Ausreichende Finanzierung der öffentlichen Güter (also besonders Bildung, Gesundheit, Kultur, Sicherheit), um deren faire und gerechte Zugänglichkeit für Alle zu ermöglichen.
Arbeit für mehr Gerechtigkeit in einem Land, in dem – wie zuletzt zu lesen war – 83 Prozent des Volkseinkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte, in dem 45 Reiche so viel Eigentum haben, wie die Hälfte der Deutschen insgesamt. Es geht um die Zukunft des sozialen Friedens in Deutschland.
Förderung der Kräfte und Strukturen von Solidarität in einer individualisierten und pluralistisch-widersprüchlichen Gesellschaft, die Solidarität nicht mehr auf selbstverständliche Weise erzeugt, Unterstützung also auch gerade des ehrenamtlichen Engagements.
Und nicht zu vergessen: Deutsche Beiträge zur Befriedung einer unfriedlichen, in blutige Konflikte verstrickten Welt.
Genug Aufgaben? Genug Aufgaben! Sind sie zu kleinkariert, zu wenig visionär, zu wenig utopisch? Sie ernst zu nehmen, sie anzunehmen wäre der Wechsel der großen Scheine des Utopischen in das Kleingeld realistischer Politik über den Tag hinaus! „Auch viele kleine Schritte können am Ende zu Großem führen“, diesen schönen Satz habe ich neulich auch im Tagesspiegel gelesen.
Kann die angestrebte große Koalition ein grandioser politischer Aufbruch sein und eine visionäre Politik aus einem Guss liefern, so fragte vor einigen Tagen ein politischer Kommentator um gleich die Antwort mitzuliefern: Nein, dazu seien die Partner zu unterschiedlich. Aber dafür hätten Union und SPD zu etwas gefunden, woran es in den Jamaika-Sondierungen gefehlt hätte: zur Bereitschaft, zum Kompromiss. Der komme aber nicht immer sexy daher, aber sei nach komplizierten Wahlergebnissen bitter nötig.
Ja, das ist wohl so. Ich wünsche mir also – sagen wir bis spätestens Ostern – eine tatkräftige Regierung. Im Moment ist die Kompromissbereitschaft besonders der Union gefragt, dann wieder der SPD. Ich hoffe, dass die Bürger uns am Schluss nicht den Vogel zeigen müssen (um mit Andrea Nahles zu reden).