Unterschrift Wolfgang Thierse

Kanzelrede in der Zionskirche

 
6. Juni 2010

Kanzelrede in der Zionskirche: "Zusammenwachsen - Zusammen wachsen"

Wolfgang Thierse hielt am 6. Juni 2010 anlässlich des 20. Jahres der Deutschen Einheit in der Zionskirche in Berlin eine Kanzelrede mit dem Titel "Zusammenwachsen - Zusammen wachsen".

 

Zusammenwachsen - Zusammen wachsen

(M)ein Volk
Predigttext 1 Joh. 4, 16-21


Ein Volk – mein Volk – das ist mir als Thema, als Stichwort, vielleicht gar als Reizwort für die heutige Kanzelrede aufgegeben.

Also frage ich tapfer: Sind wir ein Volk? Ist das mein Volk, in dem ich gerne lebe? Sind wir endlich ein Volk geworden, 20 Jahre nach der staatlichen Vereinigung? Nein, meine viele und fühlen sich bestätigt durch Umfrageergebnisse und eigene Beobachtungen und Vorurteile. Der Kammerton des Vorwurfs wird immer wieder laut: Die innere Vereinigung sei noch längst nicht gelungen, es gäbe noch viel zu viele Ost- West-Misshelligkeiten usw. usf.

Was haben wir eigentlich erwartet? Woran bemisst sich diese „innere Einheit“, die so oft
beschworen wird?

Treten wir einen Schritt zurück und betrachten uns mit ein wenig historischer Distanz: Wir Deutschen leben nun – dank des Wunders unserer ostdeutschen Demokratierevolution – friedlich vereinigt in einem gemeinsamen Staat, in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt haben, im Frieden mit allen Nachbarn, gewissermaßen umzingelt von Freunden. Wann hat es das in der deutschen Geschichte schon einmal gegeben? Das nenne ich wirkliches geschichtliches Glück!

Dieses Glück verpflichtet uns – zur Arbeit für den Frieden nach außen und nach innen. Und dieses Glück ermöglicht uns die Frage: Können wir (endlich) ja sagen zu uns als Deutsche? Gewöhnen wir uns in diese europäische Normalität?

Aber ist Zusammenleben, ist Ein-Volk-Sein eine Harmonie-Veranstaltung, gar eine Idylle? Nein, das war es nie und das ist es nirgendwo auf derWelt! Denn wir sind – zwar in einem gemeinsamen Staat lebend, zu einem Staatsvolk gehörend – ganz unterschiedliche Menschen; haben verschiedene, gar gegensätzliche Meinungen, Interessen, Fähigkeiten; sind unterschiedlicher Herkunft, kultureller Prägung, sexueller Orientierung, weltanschaulicher Überzeugung; leben in verschiedenen sozialen Lagen, sind arm oder reich oder etwas dazwischen …

Die daraus resultierenden Differenzen müssen und dürfen wir im Streit austragen – im friedlichen Streit nach Regeln der Fairness. Genau das ist Demokratie. Und Demokratie ist die politische Lebensform der Freiheit. Wenn sie gelingt – die Demokratie als politische Lebensform der Freiheit – dann erreichen wir das, was ich für wünschenswert halte: eine Gesellschaft, ein Land, in dem wir ohne Angst als Menschen verschiedene sein können!

Wir leben also in einer pluralistischen Gesellschaft – das ist kein trauriges Schicksal, sondern ein erheblicher Vorzug. Aber was hält eine, unsere pluralistische Gesellschaft zusammen?Was verbindet uns über alle Unterschiede und Gegensätze hinweg? Diese Frage wird gerade in Umbruchzeiten, in Krisenzeiten wichtiger; sie wird umso dringender, je widersprüchlicher, bunter, „multikultureller“, heterogener eine Gesellschaft, ein Volk sind.

Ich glaube nicht, dass der gemeinsame Respekt vor Recht und Gesetz, die Anerkennung unserer Verfassung (also das, was man „Verfassungspatriotismus“ genannt hat) für den sozialen Zusammenhalt ausreichend sind, so notwendig, grundlegend sie sind. Ebenso wenig die Beziehungen, die wir über den Markt, als Arbeitskräfte und Konsumenten eingehen. Notwendig ist darüber hinaus ein – nicht zu geringes – Minimum an gemeinsamer Kultur: also die gemeinsame Sprache und das kollektive geschichtliche Gedächtnis. Ein Volk ist immer auch eine Erinnerungsgemeinschaft – an Glück und Unglück der eigenen Geschichte, ans Gelungene und Freundliche wie an Schande und Scham. Das ist gerade für uns Deutsche wichtig.

Aber das alles reicht nicht, so wichtig, ja unersetzlich es ist.

Wir brauchen – für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, um wirklich ein Volk zu sein – gemeinsameWerte, gemeinsame moralische Überzeugungen, die tradiert, weitergegeben, vor allem aber gelebt werden!

Und damit sind wir bei unserem heutigen Text: Johannes spricht eindringlich, ja geradezu pathetisch von der Einheit von Gottesliebe und Bruderliebe: „Wer seinen Bruder nicht liebt, der kann Gott nicht lieben.Wer Gott liebt, der wird auch seinen Bruder lieben.“ So schreibt Johannes.

Das ist im Grunde genommen das Zentrum der Aussagen des ganzen Neuen Testaments: Liebe zu Gott – gelebt als Brüderlichkeit, als Geschwisterlichkeit, als Nächstenliebe.

Sie, die Nächstenliebe, eint ein Volk, hält eine Gesellschaft zusammen: Also einander zuwenden und füreinander einstehen;

  • also Solidarität und Leidenschaft für Gerechtigkeit;
  • also Überwindung von Teilungen durch Teilen;
  • also der immer neue Versuch, soziale Gegensätze zu verringern;
  • also die Bemühung um Integration zwischen „Inländern“ und „Ausländern“;
  • also Toleranz und eine Kultur der Anerkennung;
  • also Diakonie für die Schwachen, Kranken, Behinderten, Ausgegrenzten;
  • also zivilgesellschaftliches Engagement fürs Gemeinwohl.

All das sind Übersetzungen, sind Gestalten der Liebe.

Da wo sie gelebt werden, wo sie Grundlage des Handelns vieler Menschen sind, da wird ein Volk, dann können viele sagen: Das ist mein Volk. Da entsteht Beheimatung, zu Hause sein, menschliche Sicherheit (die mehr und anders ist als soziale Sicherheit).

Das ist aber der Auftrag an uns Christenmenschen: Beizutragen, dass Beheimatung möglich ist – durch Liebe.

„Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ Dazu fordert Gott uns nicht nur auf, nein, dazu befreit er uns: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“

Welch‘ wunderbare Einladung, liebe Schwestern und Brüder, welch‘ Einladung!