Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede an der Pontifica Universidad Catolica de Chile

 
12. Oktober 2010

Vortrag an der Pontificia Universidad Católica de Chile

Vortrag aus Anlass des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit am 12. Oktober 2010 an der Pontificia Universidad Católica de Chile:
 
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
in diesen Wochen und Monaten feiern wir in Deutschland den
20. Jahrestag der deutschen Einheit. Am 3. Oktober 1990 erfüllten sich die Deutschen ihren jahrzehntelang gehegten Wunsch, die staatliche Spaltung des Landes friedlich zu überwinden und nach über 40 Jahren endlich geeint in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu leben.
Zwanzig Jahre – das ist der Zeitraum einer Generation! Die Gefühle der Freude und großen Dankbarkeit, die ich damals – wie Millionen andere auch – empfunden habe, sind bis heute nicht gänzlich verblasst. Schließlich war der 3. Oktober 1990, der Tag der Vereinigung, kein bloßes Geschenk, sondern ein hart errungenes Ergebnis einer friedlichen Revolution – der ersten ihrer Art in der Geschichte unseres Volkes. Es gab zuvor schon einige Revolutionen in Deutschland, aber eben keine, die unblutig verlief und zugleich erfolgreich war – eine Revolution mit Kerzen und Gebeten. Eine Revolution, die in ganz Europa mit Sympathie begleitet wurde! Ein historisches Wunder war sie also auch.
Im Spätsommer und Herbst 1989 hatten die Ostdeutschen auf wöchentlich wachsenden Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten ihre Angst verloren – die Angst, die die halbe Macht der Diktatur ist – und sie hatten zugleich ihre Sprache, ihren Mut wiedergefunden: „Wir sind das Volk!“ riefen die Demonstranten und dieser Ruf war Ausdruck eines neu erwachenden Selbstbewusstseins. Die Zuversicht wuchs, dass man gemeinsam etwas ändern könne. Ein Transparent, das im Herbst 1989 in Leipzig zu sehen war, formulierte es: „Jetzt oder nie, Freiheit und Demokratie!“ So habe ich es empfunden und noch heute bewegt mich die Erinnerung daran tief. Ich bin sicher, dass Sie diese Gefühle hier in Chile besonders gut verstehen können, denn auch Sie haben diese doppelte Erfahrung – den Alltag in der Diktatur auf der einen Seite und das Streben nach Freiheit und Demokratie, nach mehr Luft zum Atmen auf der anderen.
Der zivilgesellschaftliche Aufbruch von 1989 hatte tapfere Wegbe¬reiter in der DDR selbst: die Bürgerrechtler und Oppositions¬gruppen, deren Mut und Intelligenz umso größer und respektabler waren, als ihre Zahl zunächst sehr klein war. Frieden, Bewahrung der Umwelt, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten – das waren ihre Themen, ihre Ziele, ihre Werte.
Die Bürgerrechtler traten zunächst für eine Reformierung der DDR ein und mussten Überwachung und Zersetzungsmaßnahmen durch die Stasi sowie Haft und Ausbürgerung in Kauf nehmen. Sie organisierten sich schon früh unter dem schützenden Dach der Kirchen. Aus den Kreisen der Bürgerrechtler kamen 1989 die Gründer neuer politischer Initiativen und Parteien, manche von ihnen nahmen 1990 ein politisches Mandat an. Einige blieben nach dem 3. Oktober 1990 in der Politik oder arbeiteten künftig in politiknahen Institutionen (BStU, BpB usw.). Andere kehrten dem Politikbetrieb den Rücken und engagierten sich wieder in Bürgerinitiativen und NGO. Der Demokratiebewegung in der DDR gebührt auch 20 Jahre später noch Respekt. Sie haben die Verdorbenheit der Diktatur anschaulich gemacht und mit ihrem Vorbild viele Menschen zum Nachdenken und Umdenken angeregt.

Meine Damen und Herren,
dass die friedliche Revolution in der DDR erfolgreich war, Freiheit und Einheit möglich wurden, das war nicht zwingend, nicht „gesetzmäßig“, nicht logisch, nicht unvermeidlich. Es bedurfte einer Reihe historischer Vorläufer und des Zusammenwirkens verschiedener Ereignisse, Konstellationen, Kräfte:
Es bedurfte
– des KSZE-Prozesses, also der Überwindung des Kalten Krieges durch die westliche Entspannungspolitik;
– der russischen Dissidenten von Andrej Sacharow bis Alexander Solschenizyn;
– des Vorbilds der tschechischen Charta 77 (mit meinem
„politischen Heiligen“ Vaclav Havel, dessen Buch „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ die wichtigste politische Lektüre meiner DDR-Existenz war);
– des polnischen Papstes Karol Wojtyla (und seines Besuchs 1979 in Warschau);
– der Kraft und der Ausdauer und des disziplinierten Mutes der polnischen Oppositionsbewegung „Solidarnosc“ – bis zu ihrer grandiosen Erfindung des Runden Tisches (und „Solidarnosc“ hätte es eben auch nicht ohne die Katholische Kirche gegeben);
– der Intelligenz der ungarischen Reformkommunisten (die die Grenze öffneten);
– der Perestroika-Politik Gorbatschows (der – Gott sei Dank – die in der DDR stationierte Rote Armee nicht gegen die ostdeutschen Demonstranten in Einsatz brachte);
– des ökonomischen wie moralischen Desasters der SED- Politik (die auf der ganzen Linie gescheitert war);
– der (ich habe gerade darüber gesprochen) Zivilcourage der Oppositionsgruppen, der Desillusionierung der DDR-Bürger, der Überwindung unserer Angst;
– schließlich auch der Handlungsfähigkeit westlicher Politiker (von Helmut Kohl bis George Bush sen.).
Erst im Zusammentreffen dieser Voraussetzungen wurde sichtbar und wirksam, dass die Raison d’être der DDR verbraucht und zerstört war. Die DDR hatte ja nie eine eigene nationale Identität, sondern nur einen einerseits sicherheits- und machtpolitischen Existenzgrund als Westposten des sowjetischen Imperiums und andererseits eine immer prekäre, immer labile ideologische Identi¬tät, zunächst aus Antifaschismus gespeist, dann aus marxistisch-leninistischer Ideologie.
Auch aus Sicht der kommunistischen Staatspartei SED hatte die DDR ihre Rechtfertigung nur als „Alternative“ zur bürgerlichen, kapitalistischen Bundesrepublik. Doch wo die Ideologie nicht mehr geglaubt wird, wo die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und erlebter Wirklichkeit unüberbrückbar geworden ist, wo der Vorposten unnötig wird, da zerbricht die Basis für den mit so viel Mühe und Druck erbauten und verteidigten Staat: Der revolutionäre Zusammenbruch war die Konsequenz.

Was uns, die DDR-Bürger, vor zwei Jahrzehnten beflügelt hat, das war der millionenfach erlebte Ausbruch an Mut und Zivilcourage, an Phantasie, Kreativität und Witz. Dieser Zugewinn an Selbstver¬trauen setzte ungekannte Energien frei und befähigte uns, die zu regelnden gesellschaftlichen und politischen Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Die bis dahin weitgehend atomisierte Zivilge¬sellschaft organisierte sich: Neu gegründete Initiativgruppen und Bündnisse übernahmen die politische Verantwortung in den Gemeinden, in den Städten, im Staat. Und viele der alten Machthaber verloren nach und nach ihre Ämter. Überall entstanden in dieser „revolutionären Phase“ Runde Tische zur Regelung der dringendsten Fragen – unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Auch die Parteienlandschaft geriet in Bewegung.
Ich selbst engagierte mich 1989 beim Neuen Forum und trat dann im Januar 1990 der von Bürgerrechtlern neu gegründeten Partei SPD-Ost bei. Schon wenige Monate später wurde ich zum Vor¬sitzenden dieser Partei gewählt: Auf so atemberaubende Weise werden Biographien in revolutionären Zeiten beschleunigt!
Ihre auch formell demokratische Legitimation erhielten die Forderungen der Demonstranten vom Herbst 1989 am 18. März 1990 – dem Tag der ersten freien Parlamentswahl in Ostdeutsch¬land. An diesem Tag machten die mündig gewordenen Bürgerinnen und Bürger der DDR eine ganz neue Erfahrung – ihr Kreuz auf einem Wahlschein war endlich einmal etwas wert: Sie wählten die zehnte Volkskammer (das letzte DDR-Parlament) – und das war eine, die diesen verpflichtenden Namen auch verdiente. Nach knapp sechs Jahrzehnten und zwei Diktaturen konnten die Ostdeutschen erstmals in einem demokratischen Verfahren auf die politische Gestaltung ihres Landes Einfluss nehmen. Wofür sie sich entschieden, ist bekannt: für die parlamentarische Demokratie und für die deutsche Einheit. (Mein Vater hat in seinem ganzen Leben kein einziges Mal an einer freien Wahl teilnehmen können!)


Meine Damen und Herren,
die Wahl vom 18. März 1990 markiert einen wichtigen Wende¬punkt: Sie beendete die revolutionäre Phase und eröffnete die parlamentarische. Aus Basisgruppen und Bewegungen waren Parteien geworden. Aus einfachen Bürgerinnen und Bürgern, die eben noch „Erstwähler“ waren, wurden Abgeordnete, Staatssekre¬täre, Minister. Ich hätte mir in früheren Jahren nicht vorstellen können, jemals selbst in ein demokratisches Parlament einziehen zu können.
Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wortes eine Schule der Demokratie und zugleich ein Arbeitsparlament. Es ging bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit, bis an die Grenze des mensch¬lich Möglichen. Die Abgeordneten praktizierten gewissermaßen aus dem Stand heraus, doch außerordentlich motiviert, die Spielregeln und Verfahrensweisen der Demokratie und sahen sich zugleich einer Fülle von Problemen gegenüber. Ein parlamentarisches Regierungssystem musste in Gang gesetzt werden, um den neuen Staat handlungsfähig zu machen. Die Politik musste Legitimität und Kalkulierbarkeit in einem Land gewinnen, dessen Wirtschaft zusammenbrach, dessen Versorgung kaum noch zu gewährleisten war, dessen Bevölkerung mit Abwanderung drohte.
Nur sechs Monate hatte die Volkskammer Zeit, die von der Mehrheit der Ostdeutschen gewollte Vereinigung beider Teilstaaten vorzubereiten. Der Regelungsbedarf war gewaltig. Zu den politisch schwierigsten Gestaltungsfeldern zählten die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Rechtsangleichung, das Stasi-Unterlagengesetz, also die Frage: Wie gehen wir mit der Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes um? Machen wir die Akten den Opfern zugänglich oder nicht? Ein heiß diskutiertes Thema! Wir haben uns dafür entschieden, die Akten zugänglich zu machen und wissenschaftlich aufzuarbeiten – und heute wissen wir, dass dies eine richtige Entscheidung war: Endlich wurden die Opfer der SED-Diktatur rechtlich besser gestellt als die Täter!
Natürlich hat es in diesen Monaten auch Fehler, Versäumnisse, Überforderungen gegeben. Wie sollte es auch anders sein?! Es gab ja kein Lehrbuch, in dem beschrieben steht, wie ein demokratisches Parlament sich selbst überflüssig macht, sich selbst und zugleich seinen Staat (die DDR) abschafft – und das auch noch zu akzeptablen Bedingungen.
Meine Damen und Herren,
in Bonn und in Ost-Berlin wurde der Einigungsprozess als Gestal¬tungsaufgabe begriffen, die sehr viel weiter reicht als nur bis vor die eigene Haustür, die sehr viel mehr umfasst als die eigenen inner¬staatlichen Probleme: Das Einigungswerk verlangte nach einer europäischen Perspektive, nach einer Einbindung in den Prozess der europäischen Integration. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR griff diese Perspektive verbindlich auf. Die Deutsche Einheit, so hieß es in der Präambel des Vertrags, werde vollendet im Bestreben, (Zitat) „einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Ausbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammen¬leben gewährleistet“. Mit anderen Worten: Deutsche Einheit und europäischer Integrationsprozess – das waren und sind zwei Seiten einer Medaille.
Meine Damen und Herren,
20 Jahre sind vergangen. Natürlich sehen wir heute manche Dinge nüchterner als damals. Entgegen früheren Vorstellungen oder Hoffnungen mussten wir inzwischen einsehen, dass die von der Verfassung vorgeschriebene „Herstellung gleichwertiger Lebens¬verhältnisse“ in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns 1990 erhofft oder manchmal auch eingeredet haben oder manche gar etwas leichtsinnig und vollmundig versprochen haben.
Nach 1990 erlebten die Ostdeutschen Jahre des dramatischen Um¬bruchs. Der wirtschaftliche Transformationsprozess, der Einbruch der Absatzmärkte für ostdeutsche Produkte, die problematische Handlungsweise der Treuhandanstalt, die Abwicklung tausender Betriebe, der Verlust hunderttausender Arbeitsplätze riefen bei vielen Menschen tiefe Verunsicherungen hervor. Als dann nach
 
Mitte der 90er Jahre eine Phase der Stagnation begann und das zunächst schnelle Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft ins Stocken geriet, stand die Entwicklung des Ostens „auf der Kippe“.
Dank erheblicher Kraftanstrengungen konnte diese Gefahr über¬wunden werden, auch weil wir die politischen und wirtschaftspoli¬tischen Förderstrategien nachjustiert haben. In den vergangenen Jahren ist ein stetiger, zuletzt allerdings deutlich verlangsamter Aufholprozess zu verzeichnen.
Die volkswirtschaftlichen Kennzahlen machen deutlich, welche beachtlichen Fortschritte seit 1990 erzielt wurden und welche Aufgaben wir zugleich noch zu bewältigen haben: Das Brutto¬inlandsprodukt pro Einwohner lag im Jahr 1991 in den ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) bei einem Drittel des westdeutschen Niveaus. Bis zum Jahr 2009 war dieser Wert auf 73 % gestiegen. Ähnliches gilt für die Produktivität. Sie lag unmittelbar vor der Deutschen Einheit bei etwa 25 % des Westniveaus. Im Jahr 2009 sind es ca. 75 %! (In beiden Feldern stagniert die Angleichung!)
Es gibt also noch deutliche Unterschiede. Diese Zahlen belegen aber, dass dank erheblicher gesamtdeutscher Anstrengungen in den vergangenen 20 Jahren viel erreicht worden ist. Außerordentliche Erfolge gibt es bei der Sanierung der einst vom Zerfall bedrohten ostdeutschen Städte bei der Modernisierung des Kommunikations¬netzes und der Verkehrsinfrastruktur, im Gesundheitswesen und bei der Beseitigung der immensen ökologischen Altlasten. Kommen Sie nach Deutschland, besuchen Sie Städte wie Dresden, Görlitz, Leipzig: Sie werden sehen, dass auch im kulturellen Bereich vieles erreicht wurde: Große Kirchen, wertvolle Museen, die Altbau¬substanz ganzer Innenstädte wurde gerettet, wurde restauriert.
Ostdeutschland verfügt mittlerweile in verschiedenen Branchen über industrielle Kerne und Zukunftsregionen: in den Energie- und Umwelttechnologien, in der Informations- und Kommunikations¬technologie, in der Nanotechnologie und bei den Neuen Werkstoffen, in der Biotechnologie, der Gesundheitsforschung und der Medizintechnik sowie in der Optotronik usw. usf.
Insbesondere der Sektor „Erneuerbare Energien“ hat sich zu einem regelrechten Beschäftigungsmotor entwickelt. In der Solarindustrie beispielsweise forschen und produzieren Unternehmen in Ostdeutschland entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Welt¬weit stammt mittlerweile, so habe ich gelesen, jede sechste Solar¬zelle aus den neuen Bundesländern. Ostdeutschland ist zu einem international bedeutenden Standort der Solartechnik geworden.
Aber ich will es nicht verschweigen: Bei allen positiven Entwick¬lungen in den letzten zwanzig Jahren, die es ja gibt, stehen wir weiterhin vor gewaltigen Herausforderungen. Die langfristigen Folgen der Arbeitslosigkeit, drohende Altersarmut, anhaltende Abwanderung, eine alternde Bevölkerung (mehr noch als im Westen) – das sind nur einige der Probleme, die uns beschäftigen.
Ein Ärgernis, das das ostdeutsche Gerechtigkeitsgefühl besonders berührt, sind die Löhne, die im Osten noch immer deutlich niedriger sind als im Westen. Eine Angleichung ist zwar in beträchtlichem Maße gelungen, aber eben noch nicht ganz. Heute verdienen Arbeitnehmer im Osten im Schnitt lediglich ca. 80 % des West¬niveaus (1991 waren es ca. 50 %!). Nur dort, wo Tariflöhne bezahlt werden, sind bereits über 90 % des Westniveaus erreicht!
Die größte Herausforderung ist noch immer die Arbeitslosigkeit, trotz mancher Verbesserungen: In nur drei Jahren des konjunktu¬rellen Aufschwungs vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise – von 2005 bis 2008 – konnte sie beinahe halbiert werden (von über 20 % im Jahr 2005 auf 11,5 % im August 2010.
Dennoch ist die Arbeitslosenquote im Osten noch immer doppelt so hoch wie im Westen (hier waren es im August 6,6 %). Die Frage der Teilhabe an Arbeit und die Frage nach den Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe bleiben ein entscheidendes Moment, nicht nur des ökonomischen, sondern auch des mentalen, sozialen, kulturellen Einigungsprozesses.

Meine Damen und Herren,
die Deutsche Einheit war von Anbeginn eine gesamtdeutsche Aufgabe, woran ich hier auch erinnern möchte: Die Erfolge im Einigungsprozess waren und sind nur dank der Solidarität der Westdeutschen möglich geworden. Diese Solidarität ist in der Geschichte ohne Vorbild! Ohne die Mittel aus dem Fonds Deutsche Einheit, aus dem Länderfinanzausgleich und aus dem Solidarpakt – ohne diese Mittel wäre das heute Erreichte nicht denkbar!
Da die ostdeutschen Bundesländer noch immer nicht auf eigenen Füßen stehen, beschlossen der Bund und die Länder die Fortführung des Solidarpaktes bis ins Jahr 2019. Erst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, so lautet die politische Prognose, werden die schlimmsten Folgen der deutschen Teilung überwunden sein.
Wir Deutschen haben die Erfahrung gemacht, dass die Vereinigung unseres Landes nicht nur ein wirtschaftlicher, ein ökonomischer Prozess ist, sondern dass sie nur gelingen kann, wenn sie zugleich als ein kultureller Prozess begriffen und gestaltet wird. Es geht also auch um die Vereinigung unterschiedlicher Erinnerungen und Prägungen aus 40 getrennten Jahren, um Bewertung von Biographien, um Veränderung von Mentalitäten. Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Ost und West stand und steht auch die Frage nach der Identität des gemeinsamen deutschen Staates zur Debatte, nach seiner Selbstdarstellung, nach seinem, unserem Verhältnis zur schwierigen deutschen Geschichte, nach Kontinuität und geschichtlichem Neuanfang, zugleich nach unserem künftigen Verständnis von Europa.
Und dieses Thema haben wir auch im Deutschen Bundestag sehr ernst genommen, wie ich an einem Beispiel illustrieren will: Nach einer lang andauernden, sehr ernsthaft und emotional geführten Debatte beschloss der Deutsche Bundestag im Jahre 1999 die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Dies war zugleich die Entscheidung für ein erstes gemeinsames Erinne¬rungsprojekt des wiedervereinten Deutschlands und Bekenntnis, dass sich dieses geeinte Deutschland seiner Geschichte stellt – indem es in seiner Hauptstadt, in ihrem Zentrum, an das größte Verbrechen seiner Geschichte erinnert. Im Zentrum jener Stadt, die zwar nicht der Ort des Massenmordes war, von der aus aber die systematische millionenfache Tötung von Menschen erdacht, geplant, organisiert und verwaltet wurde.
Das Denkmal – ein eindrucksvolles, unübersehbares Stelenfeld mit einem klug gestalteten Informationszentrum – wurde im Mai 2005 der Öffentlichkeit übergeben und ist heute ein bedeutender Ort unserer Erinnerungskultur. Dieses Denkmal überschreitet die Grenzen zwischen kognitiver Information und historischem Wissen einerseits und Empathie mit den Opfern und Trauer mit den Toten andererseits. Beides gehört zusammen, wir heutigen und die nachfolgenden Generationen müssen sich dem Geschehenen mit dem kopf und mit dem Herzen stellen.
Besonders jungen Menschen müssen wir historisches Wissen und emotionale Betroffenheit vermitteln, damit sie eine Beziehung zur Gegenwart herstellen. Es geht darum, moralische Sensibilität und politische Verantwortung zu vermitteln. Betroffenheit, die bloß ratlos macht, Wissen, das folgenlos bleibt – solcherart Ergebnisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß und gesell¬schaftlich wirkungslos, womöglich sogar kontraproduktiv. Die Gefährdungen der Demokratie, die Mechanismen von Stigmati¬sierung und Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart zu beobachten und in ihr zu handeln – darum geht es.
Und weil mir die Frage der historischen Aufklärung, der Aneignung von Geschichte und der aktiven Vermittlung an spätere Generationen persönlich ein so wichtiges Thema ist, habe ich mir hier in Santiago das neu errichtete „Museum der Erinnerung und der Menschenrechte“ angesehen. (Evtl. kurze persönl. Bewertung.)
Wir brauchen – in Chile wie in Deutschland – Gedenkorte wie diese: Orte, die zu einem politischen Selbstverständnis beitragen und das Bewusstsein von der Kostbarkeit und Zerstörbarkeit der Demokratie wach halten.

Meine Damen und Herren,
die deutsche Einheit ist ein historisches Glück: Nach zwei Diktaturen leben wir wiedervereint in einem freien Land, in einem vereinten, friedlichen Kontinent, in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt haben, gewissermaßen umzingelt von Freunden! Wann hat es das in unserer Geschichte schon einmal gegeben! Das nenne ich großes historisches Glück! Wir haben also allen Anlass, dankbar und selbstbewusst auf das von Ost- und Westdeutschen gemeinsam Erreichte zurückzublicken. Nach der großen Euphorie 1989/90 sind wir jetzt eine normale europäische Demokratie und haben es mit der Lösung ganz irdischer Alltagsprobleme zu tun: mit der Ausgestaltung unserer Freiheit und unserer Demokratie. Genau das habe ich mir vor 1989 immer gewünscht!
Und ich freue mich, heute die Gelegenheit zu haben, Ihnen, unseren chilenischen Freunden, herzlich danken zu können – für die Sympathie, mit der Sie die Entwicklungen in Deutschland seit Jahren beobachten und begleiten. Viele Chilenen feiern mit uns das Jubiläum der deutschen Einheit – und dafür sind wir dankbar!