Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede zur Trauerfeier Bernhard Heisig

 
2. Juli 2011

Rede von Wolfgang Thierse anlässlich der Trauerfeier für Bernhard Heisig am 2. Juli 2011

„Ich hätte gern freundlichere Bilder gemalt“ – so der Titel eines der späteren Werke von Bernhard Heisig. Ein Titel, der wie ein Resümee erscheint – selbstbewusst und trotzig und resignativ zugleich.

Bernhard Heisig, dieser große deutsche Maler, war eine Jahrhun-dertgestalt, ein Zeitzeuge par excellence, ein Moralist aus Erfahrung.

Seine Biographie, sein Werk sind geprägt durch die großen Auf- und Umbrüche des 20. Jahrhunderts in Gesellschaft, Kultur und Politik, durch die Erfahrung von Krieg und Diktatur, von hehren Glücksversprechen und hohlem Pathos, von Verführung, Verdrängung und Aufbegehren.

Sich den Widersprüchen der deutschen Geschichte und des eigenen Lebens nicht zu entziehen, sondern sich ihnen auszusetzen; an verordneten Gewissheiten zu zweifeln; an Verhältnissen zu leiden, die man doch selbst mit gestalten wollte; Gewalt, Krieg, Zerstörung, Verblendung und Inhumanität nicht zu verdrängen, sondern zornig und selbstkritisch nach deren Ursachen und deren Fortdauer zu fragen – all das trieb Heisig um, all das machte ihn künstlerisch so produktiv, sein Werk so einzigartig und unverwechselbar. Und genau das machte Bernhard Heisig für einen jüngeren Zeitgenossen wie mich (der übrigens auch in Breslau geboren wurde), so interessant und wichtig.

Das große Thema seiner expressiven Malerei war die deutsche Geschichte in all ihren widersprüchlichen – meist tragischen, mal komischen – Facetten. Er verstand sich als Interpret der Zeitgeschichte – aber eben auch als gesellschaftlicher Akteur, als Mitgestalter. Das hat ihm im Laufe seines langen Lebens viel Reputation und Anerkennung, aber auch heftige Kritik und Ablehnung eingebracht. Nicht selten beides zugleich.

Als Bernhard Heisig acht Jahre nach dem Fall der Mauer vom Kunstbeirat des Deutschen Bundestages eingeladen wurde, ein Werk für das im Umbau befindliche Reichstagsgebäude, den künftigen Sitz des Deutschen Bundestages, zu konzipieren, entspann sich um diese Einladung eine heftige kulturpolitische Kontroverse. Sie war Teil der oft hitzigen Auseinandersetzung um den künstlerischen und gesellschaftlichen Stellenwert von in der DDR entstandener Kunst.

Die einen attackierten Heisig als privilegierten „Staatskünstler“, die anderen feierten ihn als „Jahrhundertkünstler“, vergleichbar mit Otto Dix, Max Beckmann, Oskar Kokoschka. Alte, tief sitzende Verletzungen brachen auf, neue wurden offensichtlich. Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages hielt gleichwohl an seiner Entscheidung für Heisig fest, und zwar einstimmig. Eine wie auch immer geartete Gesinnungsprüfung lehnte er ausdrücklich ab.

Dies war nicht weniger als ein politisches Bekenntnis zu einem differenzierten Umgang mit in der DDR entstandener Kunst und den Lebensläufen der Künstlerinnen und Künstler.

Bernhard Heisig hat für das Reichstagsgebäude einen knapp sechs Meter breiten und über einen Meter hohen Historienfries geschaffen, dessen Themenfülle und Expressivität den Rahmen des Werkes zu sprengen scheint. Dieses Bild ist ein Plädoyer gegen das Vergessen: In assoziationsreichen Fragmenten und Verweisen erinnert es an widersprüchliche, heikle Kapitel aus 250 Jahren deutscher Geschichte, an große Hoffnungen und Katastrophen. Ob Täter, Opfer oder Mitläufer – der Maler nimmt die Akteure des dramatischen Geschehens in den Blick. Geschichte beschreibt er als chaotischen Sturm, dem niemand entrinnen kann. Bedrohlich schiebt sich ein „Pflichttäter“ durchs Bild – kriegsgeschädigt, doch unbelehrbar. (…) Der unaufhaltsame Strudel des historischen Geschehens reißt alle und alles in den Abgrund. Nur abgewandt von der äußeren Welt scheint es Momente fragilen Glücks zu geben – ein ins Bild verirrtes Liebespaar. Erkennbar wird das Sinnbild des kühnen Aufbruchs und zugleich des großen Scheiterns – der Flug des Ikarus. Zu sehen ist auch ein Selbstporträt des Malers: Seine Biographie wird mit dem Auf und Ab des historischen Geschehens eng verknüpft.

„Zeit und Leben“ hat Bernhard Heisig sein furioses Geschichts-panorama genannt. Es ist kein freundliches Bild, wahrlich nicht. Vielmehr wirft es existentielle Fragen auf. Es fragt nach der Verantwortung des Einzelnen für sich selbst, für andere, für die Gesellschaft. Stehen wir Menschen dem Lauf der Dinge tatsächlich nur hilflos gegenüber? Sind wir nur Spielball fremder Mächte und Interessen? Oder haben wir unser Schicksal nicht doch selbst in der Hand? Können wir aus unserem Wissen um den Gang der Geschichte nicht auch lernen und Konsequenzen ziehen?

Dieses Werk provoziert zum Nachdenken über unsere Geschichte und über die Rolle des Individuums in dieser. Das quälende Wissen des Künstlers um die eigene Fehlbarkeit und Begrenztheit ist dem Bild tief eingeschrieben.

Diese wichtige Arbeit Bernhard Heisigs hat im Reichstagsgebäude, dem Zentrum unserer Demokratie, eine gute, angemessene Heimstatt gefunden. Der bisherige Platz, die Cafeteria, ist gleichwohl dem Werk nicht angemessen. Wir werden einen besseren Ort finden, ja wir haben ihn eigentlich schon gefunden.

Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages hat Bernhard Heisig vor wenigen Monaten mit einer Ausstellung geehrt, in der alle Vorarbeiten des Gemäldes „Zeit und Leben“ sowie das bekannte Ikarus-Gemälde von 1975, das einst im Palast der Republik hing, vereint waren. Daneben waren Porträts (z.B. eines von Helmut Schmidt aus dem Jahr 1986) und weitere Arbeiten aus Heisigs Spätwerk zu sehen. Es war dies eine sehr würdige Ausstellung – und zugleich die letzte zu Lebzeiten von Bernhard Heisig. Ihr Titel wird ihm gefallen haben, skizzierte er doch trefflich die Dimension seiner Kunst: „Das große Welttheater“.

Wir trauern um Bernhard Heisig. Mein tiefes Mitgefühl gehört Ihnen, Frau Brüne, und den Söhnen (Johannes Heisig und Walter Eisler). Die Bilder von Bernhard Heisig – sie werden bleiben: als exemplarische Kunstwerke des 20. Jahrhunderts und als Zeugnis eines großen menschlichen und künstlerischen Bemühens.