Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede zur Bedeutung kultureller Bildung

 
29. Januar 2010

Rede zur Bedeutung kultureller Bildung auf der Kulturpolitischen Jahrestagung der FES

„Politische Perspektiven der Kulturellen Bildung“ – Einleitungsvortrag zur 3. Kulturpolitischen Jahrestagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 29./30. Januar 2010

I.
Wir haben es derzeit mit einem eigenartigen Widerspruch zu tun: Einerseits hat der Begriff „kulturelle Bildung“ Hochkonjunktur; er ist – denken wir an den Diskurs um Kreativität und Kreativwirtschaft – geradezu zum Hoffnungsträger von Bildungsbemühungen geworden. So erklärt sich etwa der herausragende Stellenwert kultureller Bildung in der Bundestagsenquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ oder in verschiedenen Studien des Deutschen Kulturrats – bis hin selbst zu den Wirtschaftswissenschaften, wo etwa Reinhard Pfriem unter dem Titel
„Unsere mögliche Moral heißt kulturelle Bildung“ eine
„Unternehmensethik für das 21. Jahrhundert“ (2007) entwickelte. Erinnert sei auch an das Grundlagenwerk „Kulturelle Bildung“ von Max Fuchs (2008), der Ordnung in die „irritierende Komplexität“ des Begriffs zu bringen versucht, oder an das systematisierende Kapitel „Kulturelle Bildung“ im „Kulturstaat Deutschland“ (2008) von Oliver Scheytt.
Andererseits hat sich, obwohl sie derzeit ein Megathema der Kulturpolitik ist, die wirkliche Lage der kulturellen Bildung in der Praxis kaum verbessert. Im Gegenteil: Die kulturelle Bildung steht derzeit besonders unter Druck. In kulturelle Bildung fließen zu wenige staatliche Bildungsressourcen, und sie ist als freiwillige kommunale Aufgabe stets besonders gefährdet: Das Fett ist längst abgeschmolzen, jetzt geht es an die Substanz. Dem Mainstream der Bildungspolitik war im letzten
 
Jahrzehnt die kulturelle und politische Teilhabe sowie die Persönlichkeitsbildung weniger wichtig, das Hauptgewicht wurde auf die Vorbereitung zur Berufstätigkeit, auf kognitive Verschulung und Verwertbarkeit von Bildungsinhalten gelegt, so dass gar von der Kapitalisierung der Bildung die Rede war. PISA verstärkte den falschen Eindruck, Fächer aus dem Bereich der kulturellen Bildung, die dort nicht abgeprüft werden, seien entbehrlicher Luxus. Beim Bildungsthema wurde die Theorie-Praxis Differenz besonders groß: statt dass jährlich zusätzliche Gelder in einer zweistelligen Milliardenhöhe in das Bildungssystem fließen, gelingt es gerade mal mit ungeheuren gemeinsamen Anstrengungen Millionen zu mobilisieren, und gleichzeitig wird durch Ausgabenkürzungen an anderer Stelle vieles wieder zunichte gemacht. Jetzt wurde das Kindergeld um 20 Euro erhöht, gleichzeitig steigen die Kindergartenbeiträge – meistens um mehr als 20 Euro. Nicht zuletzt blockiert auch das interessengeleitete Verhalten von Bürgern und Wählern, viele aus den Mittelschichten denken natürlich zunächst an die Bildungsvorteile der eigenen Kinder. So kann in Hamburg gegen die geplante sechsjährige Grundschule eine Volksinitiative erfolgreich mobil machen, wo sich doch Bildungsexperten längst einig sind, wie essentiell das längere gemeinsame Lernen für ein besseres Bildungssystem ist.
II.
Wer über kulturelle Bildung spricht, kommt nicht umhin, zunächst den Stellenwert von Kultur hervorzuheben. Denn nur wer Kunst und Kultur ernst nimmt, wird sich für deren Vermittlung einsetzen, dafür, eigene künstlerische Stärken und Interessen früh zu entdecken und auszubilden sowie kulturelle Prozesse kritisch zu reflektieren: Auch wenn es in Runden wie dieser bedeutet, Eulen nach Athen zu tragen, bleibt es notwendig, immer wieder zu betonen, öffentlich und auch innerparteilich: Kultur ist eben nicht ein nachrangiges Politikfeld, sondern für Sozialdemokraten vielmehr Auftrag, Inhalt und Ziel ihres Verständnisses von einer humanen Gesellschaft. Denn Kunst und Kultur geben Orientierung, sind ein Integrationsfaktor, wirken identitätsstiftend, fördern Partizipation, sind ein Kreativfaktor und imageprägend, sie sind die entscheidende Basis für freie Werte- und Zielverständigungen. Um es mit Brecht zu formulieren: „doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“. Denn anders als in Sonntagsreden oft behauptet, herrscht – trotz einzelner engagierter Kulturpolitiker in allen Parteien – eben keine grundsätzliche Übereinstimmung. Es gibt zwei zentrale Sätze eines sozialdemo¬kratischen Kulturprofils, das schwarz-gelber Politik entgegensteht:

  • Kultur und Kunst dürfen kein Luxus sein. Sie müssen allen zugänglich sein.
  • Kulturelle Bildung und ästhetische Erziehung in Kindergarten, Schule, Jugendarbeit und Berufsbildung sind die Tore zu allen Formen der Kultur. Wir kämpfen gegen eine soziale und kulturelle Spaltung der Gesellschaft!
  • Wir wollen die Künste nicht den Kräften des Marktes überlassen. Die Kunst ist frei. Gerade in der Wirtschaftskrise darf Kulturpolitik nicht in einer neoliberalen Kulturwirtschaft aufgehen, muss öffentliches Gut bleiben. Wir werden die Autonomie von Kunst und Kultur und die im Grundgesetz garantierte Kunstfreiheit verteidigen.


III.
Wem kulturelle Bildung wirklich wichtig ist, der findet im emanzipatorischen Bildungsdiskurs der letzten Jahre aber auch einige gute Anknüpfungspunkte:

  • Die neuere Bildungsdebatte geht von einem ganzheitlichen Bildungsbegriff aus, dem es gleichermaßen um Erkenntnisse und Kenntnisse geht wie um soziale Kompetenzen, Kreativität, ästhetische Erfahrung, ethische Reflexion und Sensibilität für Werte; letztlich um Orientierung, die nicht alleine durch eine Anhäufung von Wissen entstehen kann.
  • Die bildungspolitische Kluft zwischen Theorie und Praxis wird unüberwindbar bleiben, wenn es nicht zu einer Verlagerung finanziellen Prioritäten kommt. Notwendig ist eine deutliche Steigerung der Bildungsausgaben um rund 16-25 Mrd. Euro zusätzlich pro Jahr, um wenigstens in die Nähe des Durchschnitts der OECD-Staaten zu kommen. Gerade der schulische Ausfall von Fächern wie Kunst, Musik und – selten genug angeboten – Darstellendes Spiel (Theater) sowie Deutsch und Fremdsprachen mit ihren literatur- und kulturgeschichtlichen Anteilen, ist ein Beispiel für diese gesellschaftliche Unterfinanzierung des Bildungssystems. Kein Fünftel der Grundschullehrer erhält mehr eine musikalische Ausbildung; an Grund- und Hauptschulen entfallen zwei Drittel des Musikunterrichts, an Gymnasien ist es ein Drittel. Von den 14-19jährigen hören nur noch etwa 5% gerne klassische Musik.
  • Der Ausbau und die qualitative Weiterentwicklung der frühkindlichen Bildung, mit einem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz sowie bundesweiter Beitragsfreiheit bei Kitagebühren, sind als Kernforderungen für Bildungsgerechtigkeit erkannt. Nur durch die frühe Förderung, durch die kindgerechte kulturelle Bildung von Anfang an, lässt sich familiärer Bildungsferne entgegenwirken, wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu mehr als einem bloßen Bekenntnis.
  • Mehr Zeit muss zum Lernen und Leben in der Schule verbracht werden, und zwar durch ein flächendeckendes und
  • bedarfsgerechtes Ganztagsschulangebot. Es geht um das kulturell und sozial wichtige längere gemeinsame Lernen, um mehr Unterrichtszeit, gerade auch mit Künstlern und Kulturschaffenden, zur musisch-ästhetischen Erziehung, um eine bessere Einbettung der Schule ins soziale Umfeld, gerade auch um Kooperation mit Kulturinstitutionen, wie Theatern, Orchestern, Museen, Jugendmusikschulen und Volkshochschulen.
  • Angesichts anhaltender (und durch den Klimawandel wahrscheinlich zunehmender) Migrationsbewegungen ist
  • besonders das interkulturelle Lernen wichtig – damit wir nicht weiter in Parallelgesellschaften zerfallen, damit sich die doppelte Benachteiligung als wenig qualifizierte Unterschicht mit Migrationshintergrund nicht zur sozialen und kulturellen Ausgrenzung verfestigt.
  • Schließlich bedeutet Bildung für alle auch lebenslanges Lernen. Neben Aus-, Fort- und Weiterbildung gehört die Wahrnehmung der kulturellen Bildungsangebote vor Ort zur lebenslangen Entwicklung der Persönlichkeit und zur gesellschaftlichen Teilhabe. Nicht zuletzt bleiben gerade die älteren Menschen durch kulturelle und politische Weiterbildung in der Gesellschaft aktiv und auf der Höhe der Zeit.

 
IV.
Warum nun kulturelle Bildung im engeren Sinne so wichtig ist – ich will sechs Gründe nennen, warum wir uns für sie immer wieder stark machen sollten:

  • Erstens fördert die kulturelle Bildung wie kaum ein anderer Lernbereich von klein auf die Persönlichkeitsentwicklung. Identitätsfindung, emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung, Teamfähigkeit, Zuhören, Disziplin, Körpergefühl. Und überhaupt werden durch sie die schöpferischen Fähigkeiten im intellektuellen und emotionalen Bereich vermittelt. Es sind ja die Künste, von der Musik über die Literatur bis zur Malerei, der Raum des Emotionalen, des Sinnlichen, des Symbolischen, in dem in freierer Weise das Eigene ausgebildet und erfahren werden kann, und zugleich das Fremde, das Andere akzeptiert, anerkannt, integriert werden kann.
  • Vor allem trägt kulturelle Bildung zu dem bei, was man „Kultur für alle“, „Bürgerrecht Kultur“ oder kulturelle Teilhabegerechtigkeit nennen kann. Der Einbezug aller in das – anspruchsvolle – kulturelle Leben ist heute so weit entfernt wie eh und je. Trotz der Ausweitung des öffentlichen Kulturangebots, trotz erhöhter Kaufkraft, trotz ausgedehnter Freiheit und trotz höherer formaler Bildung nahm die kulturelle Partizipation in den letzten Jahrzehnten kaum zu. Die Wahlmöglichkeiten der potentiellen Kulturnutzer sind zwar stärker gestiegen und die kulturnahen Milieus nehmen die Angebote öfter wahr. Doch wer früher nicht ins klassische Konzert, in die Oper, ins Theater oder in Ausstellungen ging, der tut das jetzt auch nicht. Das gestiegene Kulturinteresse beschränkt sich nach wie vor auf die fünf bis zehn Prozent der kulturellen „Vielnutzer“ und auf weitere 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung, die gelegentlich unsere reichen, weil öffentlich geförderten Kultureinrichtungen in Anspruch nehmen. Die soziale Selektivität von Kultur hat sich seit 30 Jahren nicht verringert, offenbar hat sich die kulturelle Spaltung zwischen Nutzern und Nichtnutzern kultureller Einrichtungen bei einem 50:50-Verhältnis versteinert. Soziale und sozialpsychologische Barrieren gehören zu den Ursachen dafür.
  • Kulturelle Bildung ist ein Mittel gegen Exklusion. Beim neuen Migranten-Proletariat wie in der bildungsfernen deutschen „Unterschicht" – wir erinnern uns an das „abgehängte Prekariat“ der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung – sehen wir: Die anhand sozialer Kriterien bestimmbaren Spaltungen der Gesellschaft haben unübersehbar eine zutiefst kulturelle Dimension. Soziale Exklusion hat auch kulturelle Ursachen, kulturelle Exklusion verfestigt sich zur sozialen Exklusion. Sozialtransfers allein werden die Situation nicht verbessern, es kommt vielmehr auch auf Fragen von Bildung und Kultur an.
  • Kulturelle Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass kulturelle Vielfalt erhalten bleibt. Ohne sie können die vielfältigen eigenen kulturellen Traditionen, am deutlichsten bei unseren Opernhäusern, jenseits der Vermarktbarkeit und jenseits der industriellen bzw. medialen Massenkultur nicht lebendig bleiben. Sie ist Voraussetzung für neue Künstlergenerationen, dafür, dass es auch in Zukunft Kulturrezipienten und -konsumenten gibt. Sie ist nicht zuletzt auch die Substanz, aus der die in letzter Zeit so vielbeschworene Kreativwirtschaft lebt. Zugänge zu eröffnen und Verständnis zu lehren braucht musische Selbstbetätigung und die Entfaltung eigener Kreativität, die Kinder als Begabung schon haben und die sie unter Anleitung entwickeln müssen.
  • Die kulturelle Bildung ist eine Voraussetzung für Demokratie, für eine Gesellschaft, die zu Selbstreflexion, Toleranz und Anerkennung fähig ist. Das geht nicht ohne kulturelles Wissen, auch nicht ohne einen kulturellen Kanon, um ein sehr konservativ erscheinendes Wort in den Mund nehmen. Es geht also um die Verständigung über das Minimum dessen, was die Mitglieder einer Gesellschaft an gemeinsamen kulturellen Wissens, an Beständen kulturellen Gedächtnisses haben müssen.
  • Schließlich wird kulturelle Bildung zu einem entscheidenden Gegenmittel, um den mentalen Folgen der Computerei und des Internetzeitalters zu begegnen. Sicher verdient es sich mit Angstmachen gut. Man muss Frank Schirrmacher nicht mögen (typisch auch, dass er in seinem neusten Buch „Payback“ jede ökonomische Dimension der globalisierten Internetindustrie völlig ausblendet). Doch in der Welt von Twitter, Iphone, Google und Facebook scheint mir sein Warnruf, das Internet verändere das Denken, berechtigt. Die ständige Erreichbarkeit kann nicht nur nerven, möglicherweise werden wir tatsächlich „immer schlechter in dem, was wir tun“, macht uns „Ich-Erschöpfung (...) nicht nur passiv, der IQ und ausgerechnet die höheren Fähigkeiten des menschlichen Geistes, zum Beispiel logisches Denken, werden in Mitleidenschaft gezogen“, sodass es schließlich soweit kommt: „Bücher lesen ist Mühsal.” (169).

Die Urteilsfindung, welche Information wichtig ist und welche unwichtig ist, muss im letzten
Schritt im eigenen Kopf stattfinden. So „kann der Computer nicht der letzte Richter über Informationen, menschliche Denkprozesse oder Leistungsnachweise sein. Je stärker die Computer in unsere Sprache und in unsere Kommunikation eingreifen, desto dringender wird eine Erziehung, die zeigt, dass die wertvollsten menschlichen Verhaltensweisen durch Nicht
Vorausberechenbarkeit gekennzeichnet sind.” (217). „Denn das, worum es beim Erfassen von Ich, Welt und Weltall wirklich gehe (...) ist nicht durch Computer zu berechnen. Es ist etwas vollkommen anderes. Der Computer kann keinen einzigen kreativen Akt berechnen, voraussagen oder erklären. Kein Algorithmus erklärt Mozart oder Picasso oder auch nur den Geistesblitz, den irgendein Schüler irgendwo auf der Welt hat. Die Bildung der Zukunft lehrt Computer zu nutzen, um durch den Kontakt mit ihnen das zu lehren, was nur Menschen können“. (218). Soweit Schirrmacher. Wir müssen mit der modernsten Kommunikationstechnik leben. Doch es kommt eben mehr denn je auf kulturelle Bildung an, um in der Computerwelt nicht in der Informationsflut zu ertrinken – und damit die digitale Welt darauf reduziert wird, was sie sein sollte: eben nicht mehr als ein (meinetwegen fantastisches) technisches Hilfsmittel, das Information und Kommunikation erleichtert.
V.
Die kulturpolitische Perspektive fasste Oliver Scheytt in seinem bereits erwähnten Band in drei Punkten zusammen: „Kulturelle Bildung ist als ein individuelles Kraftfeld in besonderer Weise von Personen geprägt und auf die einzelne Person ausgerichtet.“ Kulturelle Bildung sollte nicht nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, sondern bedarf einer Infrastruktur, welche sich aus Institutionen des allgemeinen Bildungswesens, der Kultur und der außerschulischen Kulturellen Bildung sowie der Jugendbildung zusammensetzt. Kulturelle Bildung bedarf einer Kulturpolitik, die zwischen unterschiedlichen Institutionen und deren Selbstverständnissen vermittelt, die dieses Gestaltungsfeld als zentrales Element der kulturellen Grundversorgung versteht, langfristig – also auch durch gesetzliche Regelungen weiter ausbaut und die verschiedenen Partner aktiviert“. (216)
Damit ist das Feld abgesteckt für eine „aktivierende Kulturpolitik“ des – letztlich jedoch verantwortlich bleibenden – Kulturstaats:
Erstens geht es zuvorderst darum, die kulturelle Infrastruktur durch die Krise zu retten. Dazu braucht es Widerstand auf allen Ebenen gegen die Entstaatlichungstendenzen und Privatisierungsbestrebungen. Den Kommunen als wesentlichen Trägern kultureller Bildung steht durch Finanzmarktkrise, Steuerausfälle und soziale Ausgabensteigerungen das Wasser bereits bis zum Hals, für 2010 wird ein Hauhaltsdefizit der Kommunen von mehr als 11 Mrd. Euro geschätzt. In dieser Überschuldungssituation dürfte schwarz-gelbe Steuersenkungspolitik und Schuldenbremse zum Finanzkollaps führen.
Greifen wir zur Illustration eine dpa-Meldung aus diesen Tagen heraus:
„Der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth, befürchtet aufgrund des Sparkurses der Politik die Schließung von Teilen der Sammlungen. Die 24 Millionen Euro, die das Kunstministerium einsparen soll, würden wohl auch die Kunstsammlungen treffen, sagte Roth den «Dresdner Neuesten Nachrichten». «Wer etwas anderes glaubt, handelt nach dem Vogel-Strauß-Prinzip.» Für diesen Fall müsse über «radikale Maßnahmen» wie Schließungen nachgedacht werden, «das wird nicht mehr anders gehen». - Roth warnte zudem davor, dass städtische Museen von Einsparungen betroffen seien. «Sie haben aber kein Sprachrohr und können öffentlich kaum mit der notwendigen Aufmerksamkeit rechnen.» Darum müssten die Großen für die Unbekannteren und Kleineren Partei ergreifen. Von den Stiftungen wisse er, dass immer mehr Museen hilfesuchend vor der Tür stünden“ (9.1. 10)
Bereits jetzt werden Leistungen für die Bürger eingeschränkt, werden Investitionen zurückgefahren, von zweistelligen Kürzungen von Kulturetats ist vielerorts die Rede. Gefährdet ist vor allem die kulturelle Bildung. In erster Linie werden Projekte der Freien Szene eingestellt, Soziokultur und kulturpädagogische Einrichtungen sind besonders gefährdet. Nicht nur Schwimmbädern, auch Gemeindebüchereien, Theatern, Kindergärten droht die Schließung, sogenannte Orchesterzusammenlegungen finden statt, Konzertreihen werden gestrichen, Museumsbestände sollen verkauft werden, Eintrittspreise erhöhen sich überall – auch wo keine Theaterschließung stattfindet, wird es weniger Premieren, weniger Mut zur riskanten Projekten geben, erhöht sich das Einnahmesoll, nehmen prekäre Arbeitsverhältnisse zu, müssen Sparten schließen und sind mehr Koproduktionen notwendig. Selbst wichtige Bildungsbeschlüsse, die für die kulturelle Bildung wichtig sind, wie der von der SPD durchgesetzte Rechtsanspruch auf einen Kinder-Betreuungsplatz ab 2013, kann laut Deutschem Städtetag angesichts der kommunalen Finanzsituation nicht umgesetzt werden. Das Ergebnis wäre eine andere Republik, die die FDP ja auch offen anstrebt, in der die Durchlässigkeit der Gesellschaft weiter abnimmt, in der die an Einkommen, Besitz und Bildung gekoppelte soziokulturelle Milieuzugehörigkeit immer mehr polarisiert, in der Kultur und kulturelle Bildung – privat finanziert – nur noch zur Ausstattung der Besserverdienenden gehören. Bereits heute besuchen nur 14% von Kindern aus Arbeiterfamilien eine höhere Schule; nur 26% der Unterschichteltern, gegenüber 69% der Oberschicht, ist es wichtig, die Lesefreude der Kinder zu fördern. Das Zutrauen, die eigene Lage oder die der eigenen Kindern nachhaltig zu verbessern, wird weiter verkümmern. Der „Statusfatalismus der unteren Schichten“, von dem Allensbach (FAZ 16.12.09) jüngst (nicht ohne bürgerliche Arroganz) sprach, wird sich weiter verfestigen – auch weil die Resignation, ohnehin nichts ausrichten zu können, zur Lebenserfahrung Ausgegrenzter gehört. – Dagegen muss es natürlich um eine andere Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gehen, um Ausgleich und Förderung, um Inklusion und – last but not least – eben darum, Kulturförderung unmittelbar zur pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe der Städte und Gemeinden zu machen und dafür zu sorgen, dass kostenlose und bezahlbare kulturelle Bildungsangebote pflichtige Aufgaben aller Bildungseinrichtungen und integraler Bestandteil aller Kulturinstitutionen werden. Wo der gesamte Anteil der Kulturausgaben in Bund, Ländern und Gemeinden gerade mal 0,8% der öffentlichen Ausgaben, nämlich 8 Mrd. Euro ausmacht, dürfte doch klar sein, dass man damit defizitäre Haushalte nicht ernsthaft sanieren kann!
Zweitens kann umgekehrt Kulturförderung durchaus helfen, Krisenverlierer sozial zu stabilisieren, gerade in der Krise der Staatsfinanzen ist der Blick auf die Zivilgesellschaft angesagt. Kristina Volke und Christoph Links haben ja gerade für Ostdeutschland gezeigt, wie vielfältig, wo die große Politik eher ratlos scheint, Menschen vor Ort
neue Wege in der Krise beschritten haben. Viele Projekte dieser „changemaker“ haben mit kultureller Bildung zu tun: Wenn eine Gemeinde zusätzliche Einnahmen durch Windenergie nutzt, um die Kosten des Kindergartens zu senken, wenn freie Theater- und Opernprojekte in der ländlichen Peripherie kulturelle Räume erobern, wenn eine abgewickelte Stadtteilbibliothek als ehrenamtlich geführte Nachbarschaftsbibliothek weiterlebt, wenn ein Verein Strukturen für dezentrale Kulturprojekte schafft und Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche unterstützt, und so weiter. Statt in Perspektivlosigkeit zu verfallen und angesichts mancher Abwärtsspirale zu resignieren, sollten wir fragen, wie solchen kreativen Projekten und Initiativen von unten, die vor Ort gemeinschaftlich Probleme lösen, systematischer geholfen werden kann. Rahmenbedingungen, die bürgerschaftliches Engagement fördern und honorieren, neue Instrumente, die konkreter, kleinteiliger und flexibler auf die Impulse aus dem Alltag reagieren: Dies wird gerade auch kulturelle Bildung fördern. Sicher kann die Zivilgesellschaft die Verantwortung des Staates, auch des Kulturstaates, nicht ersetzen. Aber ohne die Stärkung der Eigenkräfte, ohne Aktivierung, ohne Ehrenamt und selbst ohne private Spenden, Sponsoren und Mäzene (die in Deutschland immerhin 8% der Kulturfinanzierung aufbringen), wird es nicht gehen. Doch gerade im Hinblick auf die kulturelle Bildung bleibt festzuhalten, wie wichtig es ist, das laufende Geschäft unabhängig von privater, nie kontinuierlich gesicherter, Finanzierung zu halten. Die wirklichen Auswirkungen der Krise auf die Finanzierung von Kultur werden erst 2011-2013 vollständig sichtbar werden (es ist empirische Erfahrung des Deutschen Städtetages, dass nach kommunaler Überschuldung es immer noch ein bis drei Jahre dauert, bis dies auf den Kulturetat durchschlägt).
 Zum dritten gilt es gerade auf dieser Tagung darüber zu sprechen, wohin inhaltliche Schwerpunkte und der Ausbau kultureller Bildung in den nächsten Jahren gehen sollten. Da sind Sie mit Ihrem praktischen Erfahrungshintergrund in vielem die besseren Experten.
Ich will hier abschließend (nicht von ungefähr ein paar Monate vor dieser wichtigen Landtagswahl) als Anregung auf das verweisen, was vom NRW-Kulturforum und dortigen SPD-Kulturpolitikern formuliert wurde. Da heißt es: „Die zentrale Herausforderung für die Kulturpolitik der nächsten Jahre ist der Ausbau der kulturellen Bildung!“ Und weiter: „Für künstlerisch besonders begabte Kinder und Jugendliche überlegen wir Formen der Unterstützung, z.B. ein ´Kultur-Stipendium`. Unser kulturpolitisches Ziel ist der ´Kultur-Rucksack für jedes Kind`. Alle Kinder und Jugendlichen (vom Kindergarten bis zum 16-jährigen) erhalten jedes Kindergarten- bzw. Schuljahr einen kleinen Rucksack, gefüllt mit dem nötigen Kulturproviant, den sie für ein ganzes Jahr brauchen. Er besteht aus altersgemäßen Bildungs- und Kreativitätsangeboten in den Sparten Theater, Tanz, Musik, Bildende Kunst und Literatur. Der Kulturrucksack soll Kinder und Jugendliche so früh wie möglich an kulturelle Einrichtungen, aber auch an eigenes künstlerisches Tun heranführen. Die hervorragende Arbeit in den pädagogischen Abteilungen der Kultureinrichtungen soll dabei unterstützt und weiter ausgebaut werden.
Dazu gehört auch der freie Eintritt in alle Kultureinrichtungen des Landes. Darüber hinaus wollen wir überall im Land Wege schaffen, den Kindern und Jugendlichen den kostenfreien Besuch der Museen und Ausstellungen in kommunaler Trägerschaft zu ermöglichen.
Die bisher verfolgten Projekte zur kulturellen Bildung (z. B. ´Jedem Kind ein Instrument`, ´Kultur und Schule`) sind ein erster richtiger Ansatz; sie reichen aber nicht aus. Kulturelle Bildung lässt sich nicht auf ´Projekte` an einigen Schulen auf freiwilliger und selbstfinanzierter Basis reduzieren. Daher fehlt dem Ansatz ´Kulturelle Bildung an Schulen` Breite, Tiefe und Nachhaltigkeit. Wir wollen, dass die Kulturelle Bildung formal in den Lehrplänen verankert wird und somit für alle Kinder und Jugendliche verbindlich flächendeckend angeboten wird. Im Blick auf die rasante Entwicklung der elektronischen Medien und das unüberschaubare Angebot des Internets ist auch die Förderung von Medienkompetenz eine wichtige Aufgabe kultureller Bildung. Wir wollen Patenschaften zwischen Kultureinrichtungen und Schulen bzw. Kindertagesstätten fördern. Der Ausbau der Schulen zu ´echten` Ganztagschulen ist eine besondere Chance für die kulturelle Bildung. Pädagogisch ausgereifte Ganztagsschulen mit ausgeweitetem kulturellem Bildungsangebot sind wichtige Wege, um kulturelle Bildung für alle zu erreichen. Die großen Ziele der kulturellen Bildung werden nicht erreicht, wenn nicht - mehr als bisher – ausreichend qualifizierte personelle Kapazitäten zur Verfügung stehen. Wir wollen dafür sorgen, dass mehr Erzieher/innen und Lehrer/innen ausgebildet und weiterqualifiziert werden, damit das ausgeweitete kulturelle Bildungsangebot von Fachkräften vermittelt werden kann. Wir wollen das Freiwillige Soziale Jahr in der Kultur weiter ausbauen und fördern. Für die Jugendlichen soll es ein Bildungs- und Orientierungsjahr sein, in dem sie freiwilliges Engagement mit ihrer persönlichen und beruflichen Weiterbildung verbinden können. Es eröffnet jungen Menschen die Möglichkeit, sich über die vielfältigen Handlungsfelder in Kunst und Kultur praktisch und konkret zu informieren, an ihrer Gestaltung mitzuwirken und stellt damit ein wichtiges Modul für kulturelle Bildung in Nordrhein-Westfalen dar.“ –
Soweit ein beispielhaftes Aktionsprogramm kultureller Bildung aus dem Westen des Landes.
VI.
Fassen wir zusammen: Kulturelle Bildung bedarf der Vernetzung von Kultur- und Bildungseinrichtungen in der Kommunalpolitik. Kulturelle Bildung wirft die, wie wir sahen, schwierige Frage nach einer grundlegenden Reform der Schule auf. Kulturelle Bildung muss interkulturell sein, also die Auseinandersetzung mit der Herkunftskultur und die Anerkennung fremder kultureller Ausdrucksformen entwickeln. Kulturelle Bildung sollte Teil einer neuen Kulturpolitik sein, die „ein flächendeckendes Kulturangebot in verschiedenen künstlerischen
Sparten, das zu erschwinglichen Preisen, mit niedrigen Zugangsschwellen breiten Teilen der Bevölkerung kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung stellt“, wie die nach wie vor geltende Formel des Deutschen Kulturrats (von 2004) lautet. Und vor allem gilt heute (in den Worten von Rolf Bolwin, dem Präsident des Deutschen Bühnenvereins): „Man muss eine politische Diskussion darüber führen, ob und wie wir eine Verarmung der Städte vermeiden. Wir können doch nicht den kulturellen Niedergang der Städte akzeptieren, während gleichzeitig Milliarden zur Sicherung von Banken ausgegeben werden“ – dies sehen wir genauso, in diesem Sinne versteht sich die SPD ohne Einschränkung als der Verbündete der Kultur.
Besten Dank.