Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede in Minsk "5. Johannes-Rau.Gespräch"

 
21. September 2010

Rede aus Anlass des „5. Johannes-Rau-Gesprächs" in Minsk

„Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen im deutschen Vereinigungsprozess“ Rede aus Anlass des „5. Johannes-Rau-Gesprächs“, veranstaltet vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk Minsk (IBB) und der Friedrich-Ebert-Stiftung, am 21. September 2010 im IBB „Johannes Rau“ Minsk:

Die Einladung nach Minsk habe ich gerne angenommen – nicht nur, weil diese wunderbare Bildungsstätte den Namen eines verdienst¬vollen deutschen Sozialdemokraten trägt – Johannes Rau. „Versöhnen statt spalten“ – so lautete seine politische Grundüberzeugung, seine Leitidee, und in diesem Sinne hat Johannes Rau gewirkt: als Ministerpräsident und als Bundespräsident, auf nationaler und auf internationaler Ebene. Die Versöhnung mit den osteuropäischen Völkern war ihm ebenso eine Herzensangelegen¬heit wie die Aussöhnung mit Israel.
Dass die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte Minsk seinen Namen trägt, verstehe ich als Bekenntnis und Verpflichtung: – als Bekenntnis zur Idee der Versöhnung, der Annäherung, der vielschichtigen Kooperation zwischen den Völkern und –    als Verpflichtung, zivilgesellschaftliche Initiativen aktiv und selbstbestimmt zu unterstützen, ihnen Foren zu bieten, sie in Netzwerke einzubinden, ihnen Bildungsangebote zu machen. Versöhnungsarbeit ist nicht allein oder zuerst eine Aufgabe der professionell Zuständigen – der Politiker. Nein, hier sind ganz besonders die Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt, ohne ihr Zutun, ohne ihre eigene Initiative geht es nicht. Dafür hat Johannes Rau immer wieder neu geworben – und das ist sein politisches Vermächtnis.
 
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
in diesen Wochen und Monaten feiern wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Am 3. Oktober 1990 erfüllten sich die Deutschen ihren jahrzehntelang gehegten Wunsch, die staatliche Spaltung des Landes friedlich zu überwinden und nach über 40 Jahren endlich geeint in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu leben.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die DDR in freier Ausübung der Selbstbestimmung ihrer Bürger ihre Staatlichkeit beendete, der Bundesrepublik beitrat und die Einheit Deutschlands in Freiheit hergestellt werden konnte. So hatte es wörtlich das Grundgesetz (der Bundesrepublik Deutschland) vorgesehen: Seit 1949 war in ihm dieses Ziel „Einheit in Freiheit“ vorgegeben, bewahrt und angestrebt worden. Es hat in den Zeiten der Zweistaatlichkeit Phasen der Konfrontation gegeben und Phasen der Resignation. Diese Phasen sind dann abgelöst worden von einer Politik der
„kleinen Schritte“, der Verhandlungen und der Zusammenarbeit, also der Politik der Entspannung, die sich letztendlich als wirksam erwiesen hat.
Meine Damen und Herren,
zwanzig Jahre – das ist der Zeitraum einer Generation! Die Gefühle der Freude und großen Dankbarkeit, die ich damals – wie Millionen andere auch – empfunden habe, sind bis heute nicht verblasst. Ganz im Gegenteil: Schließlich war der 3. Oktober 1990, also der Tag der deutschen Einheit, keine himmlische Fügung, kein bloßes Geschenk, sondern ein hart errungenes Ergebnis einer friedlichen Revolution – der ersten ihrer Art in der Geschichte unseres Volkes. Es gab einige Revolutionen, aber eben keine, die unblutig verlief und zugleich erfolgreich war – und die darüber hinaus in ganz Europa mit Sympathie begleitet wurde.
Die friedliche Revolution in der DDR – das war ein zivilgesell¬schaftlicher Akt der Selbstbefreiung, den viele der Akteure übrigens selbst kaum für möglich gehalten hätten. Diese Revolution belegte, dass eine politische Zivilgesellschaft unter bestimmten Bedingungen auch gegen ein totalitäres System erfolgreich sein kann.
Im Spätsommer und Herbst 1989 hatten die Ostdeutschen auf wöchentlich wachsenden Demonstrationen in Leipzig und in vielen anderen Städten der DDR nach und nach ihre Angst verloren – die halbe Macht der Diktatur – und zugleich ihre Sprache, ihren Mut wiedergefunden: „Wir sind das Volk!“ riefen die Demonstranten und dieser Ruf war Ausdruck eines neu erwachenden Selbstbewusstseins.
Auf den Demonstrationen wuchs die Zuversicht, dass man gemeinsam etwas ändern könne. Ein Transparent, das im Herbst 1989 in Leipzig zu sehen war, formulierte es: „Jetzt oder nie, Freiheit und Demokratie!“ So habe ich es empfunden und noch heute bewegt mich die Erinnerung daran tief.
Der zivilgesellschaftliche Aufbruch von 1989 hatte tapfere Wegbereiter in der DDR selbst: die Bürgerrechtler und
 Oppositionsgruppen, deren Mut und Intelligenz umso größer und respektabler waren, als ihre Zahl zunächst sehr klein war. Frieden, Bewahrung der Umwelt, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten – an diesen Zielen arbeiteten sie lange im Verborgenen, bevor diese Ideen die Massen ergriffen.
Die Bürgerrechtler traten zunächst für eine Reformierung der DDR ein und mussten dafür Überwachung und Zersetzungsmaßnahmen durch die Staatssicherheit sowie Haft und Ausbürgerung in Kauf nehmen. Sie organisierten sich vielfach unter dem Dach der Kirchen in der DDR und gründeten 1989 politische Parteien und Bewegungen. Manche gingen später, nach dem 3. Oktober 1990, in die Politik oder in politiknahe Behörden (BStU, BpB usw.). Andere kehrten dem professionellen Politikbetrieb (den Parlamenten und Parteien) den Rücken und engagierten sich in Initiativen und Organisationen (NGO). Eine der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen beispielsweise, die Malerin Bärbel Bohley (die in DDR-Gefängnissen eingesperrt und ausgebürgert worden war), ging 1996 nach Bosnien und engagierte sich dort für den Wiederaufbau. Sie blieb im besten Sinne des Wortes unangepasst, selbstständig und aktiv. Vor wenigen Tagen ist sie gestorben.
Zivilcourage – und dieser Gedanke ist mir wichtig – Zivilcourage verjährt nicht! Den mutigen Frauen und Männern aus Bürgerrechts-und Kirchenkreisen, aus der Friedens- und Frauenbewegung in der DDR gebührt auch 20 Jahre später noch Respekt. Sie haben die Verdorbenheit der Diktatur anschaulich gemacht und mit ihrem Vorbild viele Menschen zum Nachdenken und Umdenken angeregt.
 
Selbstbestimmt denken, verantwortlich und gemeinwohlorientiert handeln – das sind die Ansatzpunkte jedes zivilgesellschaftlichen Engagements, in kleineren Gruppen wie in großen Organisationen.

Meine Damen und Herren,
dass die friedliche Revolution in der DDR erfolgreich war (und Freiheit und Einheit möglich wurden), das war nicht zwingend, nicht „gesetzmäßig“, nicht logisch, nicht unvermeidlich. Es bedurfte einer Reihe historischer Vorbilder und des Zusammen¬wirkens verschiedener Ereignisse, Konstellationen, Kräfte, an die ich kurz erinnern möchte:
Es bedurfte
– der russischen Dissidenten von Sacharow bis Solschenizyn;
– des Vorbilds der tschechischen Charta 77 (mit meinem
„politischen Heiligen“ Vaclav Havel, dessen Buch „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ die wichtigste politische Lektüre meiner DDR-Existenz war);
– der Besuche von Karol Wojtyla in Polen (1979, 1983, 1987), – der Kraft und der Ausdauer und des disziplinierten Mutes der
polnischen Oppositionsbewegung „Solidarnosc“ (bis zu ihrer
grandiosen Erfindung des Runden Tisches);
– der Intelligenz der ungarischen Reformkommunisten (die die Grenze öffneten);
– der Perestroika-Politik Gorbatschows (der – Gott sei Dank – die in der DDR stationierte Rote Armee nicht gegen die ostdeutschen Demonstranten in Einsatz brachte);
– des ökonomischen wie moralischen Desasters der SED- Politik
 
(die auf der ganzen Linie gescheitert war);
– der (ich habe gerade darüber gesprochen) Zivilcourage der Oppositionsgruppen, der Desillusionierung der DDR-Bürger, der Überwindung unserer Angst;
– schließlich auch der Handlungsfähigkeit westlicher Politiker (von Helmut Kohl bis George Bush sen.).

Erst im Zusammentreffen dieser Voraussetzungen wurde sichtbar und wirksam, dass die Raison d’être der DDR verbraucht und zerstört war. Die DDR hatte ja nie eine eigene nationale Identität, sondern nur einen einerseits sicherheits- und machtpolitischen Existenzgrund als Westposten des sowjetischen Imperiums und andererseits eine immer prekäre, immer labile ideologische Identität, zunächst aus Antifaschismus gespeist, dann aus marxistisch-leninistischer Ideologie. Auch aus Sicht der SED-Ideologen hatte die DDR ihre Rechtfertigung nur als „Alternative“ zur bürgerlichen, kapitalistischen Bundesrepublik. Doch wo die Ideologie nicht mehr geglaubt wird, wo die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und erlebter Wirklichkeit unüberbrückbar geworden ist, wo der Vorposten unnötig wird, da zerbricht die Basis für den mit so viel Mühe und Druck erbauten und verteidigten
Staat: Der revolutionäre Zusammenbruch war die Konsequenz.
Was uns, die DDR-Bürger, vor zwei Jahrzehnten beflügelt hat, das war der millionenfach erlebte Ausbruch an Mut und Zivilcourage, an Phantasie, Kreativität und Witz.

Dieser Zugewinn an Selbstvertrauen setzte ungekannte Energien frei und befähigte uns, die zu regelnden gesellschaftlichen und politischen Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Die bis dahin weitgehend atomisierte Zivilgesellschaft organisierte sich: Neu gegründete Initiativgruppen, Vereine, Bündnisse übernahmen die politische Verantwortung in den Gemeinden, in den Städten, im Staat. Viele der alten Machthaber (in den staatlichen Einrichtungen, aber auch in den Medien) verloren nach und nach ihre Ämter. Überall entstanden in dieser „revolutionären Phase“ Runde Tische zur Regelung der dringendsten Fragen – unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Auch die Parteienlandschaft geriet in Bewegung.
Ich selbst engagierte mich 1989 beim Neuen Forum und trat dann im Januar 1990 der von Bürgerrechtlern neu gegründeten Partei SPD-Ost bei. Schon wenige Monate später wurde ich zum Vorsitzenden dieser Partei gewählt. Eine so rasante politische Laufbahn ist nur in revolutionären Zeiten möglich.
Ihre demokratische Legitimation erhielten die Forderungen der Demonstranten vom Herbst 1989 am 18. März 1990 – dem Tag der ersten freien Parlamentswahl in Ostdeutschland. An diesem Tag machten die mündig gewordenen Bürgerinnen und Bürger der DDR eine ganz neue Erfahrung – ihr Kreuz auf einem Wahlschein war endlich einmal etwas wert: Sie wählten die zehnte und zugleich letzte Volkskammer – und das war eine, die diesen verpflichtenden Namen auch verdiente. Nach knapp sechs Jahrzehnten und zwei Diktaturen konnten die DDR-Bürger erstmals in einem demokratischen Verfahren auf die politische Gestaltung ihres Landes und auf seine Zukunft Einfluss nehmen. Wofür sie sich entschieden, ist bekannt: für die parlamentarische Demokratie und für die deutsche Einheit.

Meine Damen und Herren,
die Wahl vom 18. März 1990 markiert einen wichtigen Wendepunkt: Sie beendete die revolutionäre Phase und eröffnete die parlamentarische. Aus Basisgruppen und Bewegungen waren Parteien geworden. Aus einfachen Bürgerinnen und Bürgern, die eben noch Erstwähler waren – sie konnten ja erstmals ein demokratisches Parlament wählen –, wurden Abgeordnete, Staatssekretäre, Minister. Ich selbst hätte mir in den Jahren zuvor nicht vorstellen können, jemals selbst in die Volkskammer einzuziehen.
Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wortes eine Schule der Demokratie und zugleich ein Arbeitsparlament. Es ging bis an die Grenzen der Belastbarkeit, bis an die Grenze des menschlich Möglichen. Die Abgeordneten praktizierten gewissermaßen aus dem Stand heraus, doch außerordentlich motiviert, die Spielregeln und Verfahrensweisen der Demokratie und sahen sich zugleich einer Fülle von Problemen gegenüber. Ein parlamentarisches Regierungssystem musste in Gang gesetzt werden, um den neuen Staat handlungsfähig zu machen. Die Politik musste Legitimität und Kalkulierbarkeit in einem Land gewinnen, dessen Wirtschaft zusammenbrach, dessen Versorgung kaum noch zu gewährleisten war, dessen Bevölkerung mit weiterer Abwanderung drohte – in den Westen Deutschlands. Der Tempodruck war erheblich:
„Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, war auf Transparenten zu lesen. Die Abwanderung hunderttausender Menschen ließ uns, die neuen Abgeordneten, nicht kalt.
Der Souverän hatte dem Parlament einen klaren Auftrag erteilt: die Herstellung der deutschen Einheit. Auch wenn manche Legendenerzähler heute anderes behaupten: An neuen realsozialistischen politischen Experimenten war der Souverän – die Mehrheit des Volkes in der DDR – nicht sonderlich interessiert. Zu beantworten war vielmehr die Frage, auf welchem Weg der Wählerauftrag umsetzbar ist, nach Artikel 23 (Beitritt) oder nach Artikel 146 (Volksabstimmung über eine neue Verfassung) des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Die ausgehandelte Formel lautete: zügiger Beitritt, aber zuvor Verhandlungen. Dies war dann in der Tat der einzig realistische Weg einer schnellen Überwindung der deutschen Teilung – angesichts des immer weiter voranschreitenden Zusammenbruchs der DDR und des damit einhergehenden Verlustes an politischer Gestaltungsmöglichkeit.
Die Verhandlungsposition dieses Parlaments war nicht die beste. Doch es bleibt ein Verdienst der 10. Volkskammer und der Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière, darauf beharrt zu haben, dass vor der Vereinigung außenpolitische und vertragliche Regelungen erreicht werden müssen, dass die Boden¬reform und der redliche Erwerb von Eigentum Bestand haben müssen.
Nur sechs Monate hatte die Volkskammer Zeit, die staatliche Einheit in Selbstbestimmung und in Anerkennung ihrer historischen Verantwortung zu vollenden. Der Regelungsbedarf war gewaltig.
 
Zu den politisch schwierigsten und hochkomplexen Gestaltungs¬feldern zählten die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Rechtsangleichung, das Stasi-Unterlagengesetz, also die Frage: Wie gehen wir mit der Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes um? Machen wir die Akten den Opfern zugänglich oder nicht?
Der Beitrittsbeschluss erging erst nach Abschluss des Einigungs¬vertrages und der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen. Das Parlament wollte einvernehmlich mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (Sowjetunion, USA, Frankreich, England) und den Nachbarn in die Einheit gehen. Und dieser Maßstab wurde umgesetzt!
Natürlich hat es Fehler, Versäumnisse, Überforderungen gegeben. Wie sollte es auch anders sein? Es gab ja kein Lehrbuch, in dem beschrieben wird, wie ein demokratisches Parlament sich selbst überflüssig macht, sich selbst und zugleich seinen Staat (die DDR) abschafft – und das auch noch zu akzeptablen Bedingungen.
Was in der 10. Volkskammer erreicht wurde, war ohne Vorbild. Es konnte nur gelingen, weil wir, die Abgeordneten, Unterstützung erhielten: aus den alten Bundesländern, von der Bundesregierung, von den Schwesterparteien und -fraktionen des 11. Deutschen Bundestages. An diese Solidarität zu erinnern, ist mir auch ein persönliches Anliegen: Denn die Herstellung der deutschen Einheit war nur als gemeinsame, als gesamtdeutsche Anstrengung denkbar. Sie war mehr als nur ein Lückenfüller zwischen Diktatur und Demokratie. Dieses Parlament zählt zu den Leistungen, auf die die Ostdeutschen im Rückblick auf die friedliche Revolution 1989/90 stolz sein können. Für mich jedenfalls gehören die Monate von März bis September 1990 zu den aufregendsten meines Lebens – und ich bin auch heute noch, zwanzig Jahre später, ein wenig stolz auf diese Zeit.


Meine Damen und Herren,
der deutsche Vereinigungsprozess im Jahre 1990 wurde in einer für das In- und Ausland atemberaubenden Geschwindigkeit vorange¬trieben. Die Siegermächte haben sich dem Sog des Vereinigungs¬strebens in Deutschland nicht widersetzt. Mit ihrem Votum signalisierten sie Vertrauen in die Zukunft Deutschlands.
In Bonn und in Ost-Berlin wurde der Einigungsprozess als Gestaltungsaufgabe begriffen, die sehr viel weiter reicht als nur bis vor die eigene Haustür, die sehr viel mehr umfasst als nur die eigenen innerstaatlichen Probleme: Das Einigungswerk verlangte nach einer europäischen Perspektive, nach einer Einbindung in den Prozess der europäischen Integration. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der am 20. September 1990 (also fast auf den Tag genau vor zwei Jahrzehnten) in den Parlamenten ratifiziert wurde, griff diese Perspektive verbindlich auf. Die Deutsche Einheit, so hieß es in der Präambel des Vertrags, werde vollendet im Bestreben, (Zitat) „einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Ausbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet“. Mit anderen Worten: Deutsche Einheit und europäischer Integrationsprozess – das waren und sind zwei Seiten einer Medaille.
Gleichwohl gab es im Vorfeld des Vereinigungsprozesses bei manchen unserer Nachbarn auch eine gewisse Skepsis. Mit Blick auf die europäische Geschichte fragten sie sich, ob das vereinte Deutschland den Kontinent dauerhaft stärken oder schwächen würde. Die einen, die Franzosen, sorgten sich um die politische Balance, um das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den zwei großen Staaten Westeuropas. Und die anderen, unsere polnischen Nachbarn, wollten endlich Gewissheit haben über den Bestand ihrer Grenze im Westen.
All diese Sorgen wurden ernst genommen und ausgeräumt. Heute, 20 Jahre später, ist unser Kontinent stabiler, sicherer, stärker als je zuvor. Es gibt keine deutsche Frage mehr, die uns oder unseren Nachbarn unter den Nägeln brennt. Wir pflegen gute, belastbare Beziehungen zu allen europäischen Staaten, insbesondere zu Frankreich und Polen. Und wir haben unsere neuen Partner in Mittel- und Osteuropa sehr verlässlich auf ihrem Weg in die NATO und in die Europäische Union begleitet. Wir werden nicht vergessen, dass der Einsatz der Polen, der Ungarn, der Tschechen, der Slowaken für Freiheit und Menschenrechte ganz entscheidend dazu beigetragen hat, die deutsche Teilung, die Spaltung Europas und der Welt zu überwinden. Dafür sind gerade wir Ostdeutschen sehr dankbar.
 
Meine Damen und Herren,
dass Deutschland zwei Jahrzehnte nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit eine stabile Demokratie ist – bei allen Problemen und bei allem Reformbedarf, den es zweifellos gibt –, hat ganz wesentlich mit der Stärke und dem Einfluss der zivilgesellschaftlichen Kräfte zu tun. Politiker sind gut beraten, diesen Zusammenhang, diese Korrelation zwischen „Demokratie“ und „zivilgesellschaftlichem Engagement“ immer wieder neu zu diskutieren und für diese Beteiligungsform zu werben: Denn das Engagement vieler Einzelner ist das Lebenselixier demokratischer Gesellschaften schlechthin. Ohne dieses gäbe es weder Sportvereine noch Parteien.
Dass einer der Schwerpunkte im Programm des IBB Minsk der Entwicklung und Förderung der Zivilgesellschaft gewidmet ist, kann ich vor dem Hintergrund meiner eigenen politischen Erfahrungen nur begrüßen. Bürgerschaftliches Engagement und politische Teilhabe sind und bleiben die tragenden Säulen für das Funktionieren moderner Gesellschaften, für das Funktionieren der Demokratie. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte stärken – das ist eine lohnende Aufgabe, gerade in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher und politischer Transformationsprozesse überall in Europa. Ohne eine handlungsfähige Zivilgesellschaft gibt es keine Demokratie – wir wissen das aus unserer eigenen wechselvollen Geschichte.
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein andauernder Lernprozess, auch das ist eine historische Erfahrung. Ich bin froh und dankbar, dass es Institutionen gibt, die diesen Lernprozess organisieren und begleiten – hier in Minsk das Internationale Bildungs- und Begegnungszentrum „Johannes Rau“ und die Außenstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des IBB und der FES für ihre so wertvolle, zukunftsweisende Arbeit, die ganz sicher nicht immer leicht ist, aber dennoch unverzichtbar. Und in diesen Dank schließe ich ausdrücklich die wichtige Erinnerungsarbeit der IBB-Geschichtswerkstatt mit ein, denn ohne Aufarbeitung, ohne Versöhnung kann Vertrauen nicht wachsen. Belarus hat unter den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts außerordentlich stark gelitten und daraus erwächst Verantwortung. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie sich dieser Verantwortung stellen – mit einer ganzen Reihe interessanter Initiativen und Publikationen.
Ich wünsche den Trägern des IBB aus beiden Ländern (Deutschland und Belarus) und allen hier Beschäftigten sehr viel Glück und Erfolg bei Ihrer Arbeit an einer neuen Kultur der Verständigung und der Entwicklung einer selbstbewussten und an den Werten der Europäischen Union orientierten Zivilgesellschaft. Alles Gute!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!