Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede Charta der Heimatvertriebenen

 
10. Februar 2011

Rede im Bundestag zur Charta der Heimatvertriebenen

© Deutscher Bundestag / Lichtblick/Achim Melde

 
 

Ich bin nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruchnahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher entsetzt. Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und Vertreibung geschrieben werden muss und wir uns immer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das ist unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das tut.

Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich, weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deutschen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch – so steht es in Ihrem Antrag – Aussöhnung wollen. Die Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein zeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr 1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Not erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer neuen, kalten Heimat angekommen sein. So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die ihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebenen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rachegefühle und Vergeltungsverlangen. Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehrfach darauf hingewiesen – ich finde: sehr treffend –, dass man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man einen Anspruch hat.

Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonnenen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechen keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache. Darin sind wir uns doch hoffentlich einig. Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die heute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemand mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese – ich zitiere –: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“ Welch fatale moralische Anmaßung – als hätte es den Holocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht gegeben.

Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem Abstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vollem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewissermaßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnen und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutragen, wie Sie es tun, das ist weder moralisch noch politisch legitim.

Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt einen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denen man sich versöhnen will. Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbesondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger als zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das bedeutete.

Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor 70 Jahren wurden Polen – nur als ein Beispiel – als rassisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutschland sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenenpolitiker durch zwiespältige Äußerungen.

Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik zu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich, so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhaltbare Aussagen wie diese – ich zitiere wieder aus Ihrem Antrag –: „Die Deutschen nehmen Vertreibungen … mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.“ Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Geschehen. Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv andere Völker vertrieben und unendliches Leid über sie gebracht haben und danach auch selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte ist immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für jeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann es auch kein Verständnis für die Umstände und Folgen geben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöhnung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das Grundproblem Ihres Antrags.

Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorieren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen. Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zunächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesrepublik Deutschland – sie gehören zu ihrer Erfolgsgeschichte – und die großen Anstrengungen der Vertriebenen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ihrer Herkunft bestand weiter. Unvergessen ist – ich nenne nur ein Beispiel –: Als 1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unterstützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft Solidarnosc. Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich aus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trauernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die uns die Einigung Europas eröffnet hat.

Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Einzelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener, die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öffentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es gegeben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstanden? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurierungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmälern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.

Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Begegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartige Entwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antrag schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der Forderungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wiederhole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, vorangebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptionelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stiftung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt. Von einem Nachholbedarf bei der Forschung – Sie haben davon gesprochen – kann ebenfalls nicht die Rede sein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förderprogramm zur Erhaltung und Auswertung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt. Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung dieses Programms nicht zu?

Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer von Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe, selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. Sowohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestagspräsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Gedenktag ausgesprochen. Die beiden haben recht.

Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Koalition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten aus einem gestern erschienenen Kommentar von Professor Dr. Krzysztof Ruchniewicz – er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ – belegen: „Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und Angehörige anderer Nationen, die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und ermordet wurden, stellt das Dokument – die Charta – keine Grundlage für eine Versöhnung dar.“ Weiter: „Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer Verkündung so einseitig und reflexionslos betrachten können.“ Weiter: „Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen … ist kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die 1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr erschienene polnische Bischofsbrief an ihre deutschen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: `Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.´“ Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch das völlig falsche Signal. Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschieben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen Anstrengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung und die Leiden und Opfer dieses Unrechts.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland war und bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demokratischen Staat, seine politische Praxis und seine politische Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit zu begreifen. Das ist unser gemeinsames politisches Fundament, unser gemeinsames moralisches Fundament. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gewählt.

Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für die Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche andere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser doppelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte moralische Verpflichtung. Genau diesen, den entscheidenden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch und überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.