Unterschrift Wolfgang Thierse

Kulturpolitische Grundstzrede Frankfurt

 
9. Mai 2012

„Kultur für alle“ – ein Imperativ mit Zukunft

Am 28. April 2012 hielt Wolfgang Thierse, Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie e.V., auf der Fachtagung "Jeder Mensch ist ein Künstler" des Kulturforums Hessen in Frankfurt am Main eine kulturpolitische Grundsatzrede zum Thema „Kultur für alle! – Ein Imperativ mit Zukunft".

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

"Diese Tagung des Kulturforums zur Kulturpolitik in Hessen kommt zum richtigen Zeitpunkt. Die Lage ist ernster denn je. Wir haben vielerorts über fünfzehn Jahre drastisches Sparen an der Kultur, zumeist als pauschale Mittelkürzungen, erlebt. Jetzt sind die Einsparpotentiale, was an Synergieeffekten, Zusammenlegungen und Umstrukturierungen, an Organisationsreformen, Personalreduktion und Selbstausbeutung möglich war, längst aufgebraucht. Mancherorts geht es an die kulturelle Substanz.

Gerade in den letzten Wochen wurde deutlich, wie gefährdet unsere einzigartige Kulturland­schaft ist. Ich erinnere nur an die sich durch die Tariferhöhung im öffentlichen Dienst zuspitzen­de Theaterkrise, überhaupt an den Druck auf die Kultur angesichts der Verschuldung von Kommunen und Ländern, an die Attacken der EU gegen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz, an das für Künstler existenzielle Urheberrecht, in der digitalen Welt nur noch schwer durchsetz­bar - und jetzt auch noch massiven politischen Angriffen ausgesetzt, sowie an die aufgeregte Debatte um den eigenartigen Vorschlag, jede zweite Kulturinstitution zu schließen und die Kul­turpolitik mehr oder weniger dem freien Markt zu überlassen.

Es geht also nicht mehr nur darum, wie wir der „Kultur für alle“ von Hilmar Hofmann ein Stück näher kommen, sondern es droht – würden wir den Dingen ihren Lauf lassen – Kulturabbau in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß. Und weniger Kultur bedeutet vor allem Kultur für wenige, bedeutet die kulturelle Verfestigung sozialer Spaltung. Kultur droht so wieder, wie beim überhitzten Kunstmarkt, zum Mittel von Anlage, Distinktion und Abgrenzung zu werden.

Den Abschied von der „Kultur für alle“ können sich nur Gebildetere, Besserverdienende und Elitäre leisten. Weil trotz des finanziellen und institutionellen Ausbaus das eigentliche Kulturle­ben viele nicht mehr erreicht, können wir doch nicht einfach unser Gerechtigkeitsziel und Bil­dungsideal aufgeben! Für die Ärmeren, für die Niedriglöhner, die Aufstocker, die Arbeitslosen, die vielen prekär beschäftigten Jugendlichen und den Ottonormalverdiener mögen die elektroni­schen Massenvergnügungen genügen - das ist keine zynische Zuspitzung meinerseits, konse­quenterweise liest man in diesem „Kulturinfarkt“-Buch statt „jedem Kind ein Instrument“: „Tab­letts für alle“.

Der von Klaus Staeck gerade initiierte „Appell zur Verteidigung der Kultur“, den zahlreiche be­rühmte Künstler unterschrieben haben, sagt alles hierzu Notwendige: „Danach hätten sich Kunst und Kultur dem Diktat der Quote zu stellen. Gefragt ist Massentaugliches – alles andere erhält keine festen Förderzusagen mehr. Statt „Kultur für alle“ soll die Kultur offenbar wieder zu einem elitären Gut werden. Die Akademie der Künste protestiert gegen diesen mit klarer Ab­sicht inszenierten Tabubruch, die Grundlagen einer öffentlichen Kulturförderung zu zerstören. Die Fragen nach notwendigen Strukturveränderungen für eine zukunftsorientierte Kulturpolitik bedürfen einer ernsthaften und verantwortungsbewussten Debatte, die auf breiter Front schon längst im Gange ist. Auf eine alternativlose Kahlschlag-Diskussion werden wir uns nicht einlas­sen. Sie würde unsere Kulturnation nachhaltig schädigen.“

Darum geht es heute im Kern wieder: um die erneute ernsthafte und verantwortungsbewusste Kulturdebatte! Die gab es schon einmal, die Älteren erinnern sich: Im Klima von Gesellschafts­kritik und reformpolitischem Aufbruch, im Zeitgeist des Fortschritts, den Willy Brandt auf die Formel vom „mehr Demokratie wagen“ gebracht hatte, entstand in den 70er Jahren nicht nur eine durchgreifende Bildungsreform, sondern auch die sogenannte Neue Kulturpolitik. Die Ver‑


antwortung des Staates für die Pflege und Förderung von Kunst und Kultur hat gerade in Deutschland eine lange, dezentrale Tradition. Nun ging es darüber hinaus um die gewisserma­ßen sozialstaatliche Ausdehnung und aktive Gestaltung auf Grundlage eines erweiterten Kul­turbegriffs. Hilmar Hofmann’s „Kultur für alle“ und „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so Joseph Beuys, waren plakative Begriffe für eine Vision, die im Irseer Programmentwurf der SPD 1986 sogar „Auf dem Weg in die Kulturgesellschaft“ überschrieben wurde.

„Kultur für alle“: Gemeint war die Demokratisierung der Kultur als öffentliche Aufgabe, d.h. der Ausbau und die bessere staatliche Förderung von Museen, Theatern, Opern, Orchestern, Bibliotheken. „Jeder ein Künstler“: Gemeint war die spezifische Unterstützung von jetzt weiter gefassten kulturellen Szenen und Personen: von Stadtteilkultur, Breitenkultur, Migrantenkultur, von kritischer Avantgardekultur; aber auch neue Künstlerförderung und soziale Absicherung der Künstler, schließlich kulturelle Bildung und Vermittlung.

Diese Neue Kulturpolitik bündelte und operationalisierte in Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis die damaligen Leitbegriffe der kultur- und bildungspolitischen Diskussion: Von

„Emanzipation, Kreativität, Partizipation, Kommunikation, Humanisierung, Identitätsfindung“ war etwa bei der von Olaf Schwencke gegründeten Kulturpolitischen Gesellschaft die Rede; vom »Bürgerrecht Kultur«, sprach Hermann Glaser. Die Soziokultur trat neben die bürgerliche Hoch­kultur. Ideenvielfalt, Bürgernähe der Kulturinstitutionen wurden beschworen. Demokratisierung der Kultur, Kultur von unten, multikulturelle Offenheit, Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, Kulturpolitik als kommunale Pflichtaufgabe - viele dieser Stichworte bestimmen den kulturpolitischen Diskurs bis in unsere Tage hinein.

Es ging darum, für einen erweiterten Kulturbegriff zu streiten, eine reformorientierte kultur­politische Forschung zu begründen, für Angebotsvielfalt und kulturelle Innovationen einzutreten, den Menschen als kulturell aktives Subjekt ernst zu nehmen und kulturpolitische Planung auf ihn auszurichten. Sicher sind wir heute weniger gestaltungsoptimistisch als damals, doch ist damit diese emanzipatorische Vision von der kommunikativen Teilhabe aller Menschen an der demokratischen Selbstgestaltung der Gesellschaft, eben der „Kultur für alle“, wirklich überholt?

Grundlage dieser Kulturpolitik waren sicher hohe Wachstumsraten. Reformpolitik war auch möglich, weil es irgendwie immer Zuwächse zu verteilen gab. Aber sie hatte auch zu tun mit inhaltlichen Konzepten, die bald von der neoliberalen Dominanz verdrängt wurden: Gegen die so genannte »öffentliche Armut« galt der Ausbau der staatlichen Infrastruktur als eine entscheidende Dimension von Umverteilung. Dazu gehörte auch, gegen die – wie es damals hieß - »ständige finanzielle Unterprivilegierung kultureller Interessen« eine sozial umfassendere und offenere Kulturförderung durchzusetzen. Diese Orientierung auf den auszubauenden Wohlfahrtsstaat war überaus erfolgreich: Eine Vervielfältigung der kulturellen Angebotsdichte wurde erreicht. Selbst in den 80er Jahren konnte die »Neue Kulturpolitik« noch Zuwachsraten von durchschnittlich 15 Prozent jährlich verzeichnen. Auch ließen sich – vor allem mit Bundeshilfe, wenn auch mit Mühe und Abstrichen - nach der Einheit wesentliche kulturelle Strukturen Ostdeutschlands, etwa die größte Theaterdichte der Welt, erhalten.

Auf absehbare Zeit werden die ehemals so vertrauten wirtschaftlichen Zuwächse nicht mehr zu verteilen sein. Die - auch durch steuerpolitische Richtungsentscheidungen bewirkte - Einnahmeschwäche des Staates, der regional dramatische Strukturwandel, Überschuldung, Schuldenbremse, der demographische Wandel – all dies jetzt macht geradezu umgekehrt die Gestaltung von Schrumpfungsprozessen, wie jetzt bereits in manchen ostdeutschen Regionen oder Teilen des Ruhrgebietes, notwendig. Es reicht vor diesem Hintergrund nicht mehr aus, Kulturpolitik auf Lobbyismus für eine andere Verteilungsgerechtigkeit zu reduzieren. Kulturpolitik braucht heute wieder normative Zielsetzungen, offenen Diskurs und Politisierung – gerade deshalb ist sie auf öffentliche, den Verwertungsbedingungen entzogene Räume angewiesen. Wenn nicht alle kulturpolitischen Gelder ausschließlich darauf konzentriert werden sollen, was seit den 70er Jahren an Strukturen gewachsen ist, wenn wir gerade nicht alles Neue nur dem

Markt und der Nachfrage überlassen wollen, dann wird Kulturpolitik an wertorientierten inhaltlichen und strukturellen Entscheidungen nicht vorbeikommen.

Notwendig ist heute eine zweite Phase kulturpolitischer Neuorientierung. Worin, so ist zu fra­gen, liegen Alternativen zum bloßen Rückbau des Staates? Mehr Unternehmergeist, mehr Aus­einandersetzung mit den Bedürfnissen des Publikums“ sind ja nicht falsch, reichen aber nicht aus. Gegen die Polemik über „Allmachtsphantasien“ der Kulturpolitik und „Auswüchse der Sub­ventionskultur“ ist es für die Kultur existemziell wichtig, an ihr als einem wichtigen „Öffentlichem Gut“ festzuhalten. „Öffentliches Gut“ meint ja nicht, dass der Staat alles ausrichtet und plant, verweist aber darauf, dass es auf demokratische und staatlich gesetzte Rahmenbedingungen zur gesellschaftlichen Aktivierung und zur Mobilisierung von Ressourcen ankommt.

Ein wichtiges Hilfsargument, was mittlerweile selbst die Union gelernt hat, ist hierbei, dass Kul­turförderung eben keine Subvention, sondern Investition ist. Sogar Wohlstand und Wettbe­werbsfähigkeit hängen mehr denn je von der Höhe öffentlicher Investitionen in den Zusammen­halt der Gesellschaft ab: von kulturellen Kompetenzen, von Offenheit, Reflexionsvermögen und Flexibilität, von lebenslanger Lernfähigkeit sowie von Investitionen in Familie und Kinder, in de­ren Bildung und andere Strukturen, die das kulturelle Niveau verbessern.

Wie kann nun eine Kulturpolitik aussehen, die sich nicht in Rückzugsgefechten aufzehrt, in der nicht nur die Kürzung des Kulturellen gegen die Kürzungen des Sozialen ausgespielt wird? Wie können wir den an vielen Stellen bereits begonnenen Prozess der kulturpolitischen Selbstrefle­xion gemeinsam mit Künstlern, Kulturinstitutionen, den kulturaffinen Milieus, aber auch mit der Kreativwirtschaft, systematischer und vor allem ergebnisorientiert organisieren? Die Rasen­mähermethode, bereits bei 5% Minus problematisch, ist erst recht falsch, wenn sie zur Schlie­ßung jeder zweiten Kulturinstitution aufruft. Die Verbesserung von Entscheidungsstrukturen, wie derzeit im Kulturkonvent in Sachsen-Anhalt ausprobiert, ist das genaue Gegenteil. Jede einzel­ne Ausgabe im Kulturbereich, für die Kulturinstitutionen wie für die freie Szene, ist natürlich im­mer wieder zu prüfen. Doch mit der Zielsetzung einer verbesserten Förderung, nicht mit dem Ziel des Plattmachens und Abwickelns.

Die Definition dessen, was Kulturpolitik ist, kennen wir: Kulturpolitik als staatliches und kommunales Handeln im Bereich Kunst und Kultur in Form ihres Schutzes sowie der Sicherung und Gestaltung ihrer politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wobei selbstverständ­lich Kunst und Kultur nicht gleichzusetzen sind (deshalb sind wir ja beim „Forum für Kunst und Kultur“). „Kunst ist immer individuelle Setzung. Kultur dagegen kollektive Spannung“, so heißt eine sehr schöne Formulierung des Komponisten Wolfgang Rihm. Auch die Warnung vor jeder Instrumentalisierung durch politische und ökonomische Macht ist nicht neu und bleibt richtig. Kulturpolitik, die diesen Namen verdient, soll der Autonomie der Kunst dienen, deren Selbst­zwecksetzung, »Zweckmäßig ohne Zweck«, wie es bereits bei Immanuel Kant hieß. Daher gehört der kulturkritische Umgang mit dem heutigen Doppelcharakter der meisten künstle­rischen Produkte, die in der Marktwirtschaft eben auch Waren sind, seit Jahrzehnten zur Kulturpolitik, zur kulturpolitischen Reflexion. Soweit, so gut.

Häufig jedoch wird Kulturpolitik auf Fragen der finanziellen Kulturförderung konzentriert und reduziert. Das ist der kulturpolitische Alltagskampf, denn in der Haushaltskrise wird nicht nur der Sozialstaat, sondern auch der Kulturstaat in Frage gestellt. Demgegenüber plädiere ich für eine zweifache Blickveränderung:

Einerseits müssen wir uns wehren gegen das Gerede vom Ende des Kulturstaats, gegen die ausschließliche Ausrichtung auf Markt und Nachfrage, auf den Künstler als Unternehmer, da­rauf, die Künste auf Kreativwirtschaft und „digitale Boehme“ zu reduzieren. Hier wird die seit der Finanzkrise doch eigentlich unglaubwürdig gewordene neoliberale Ideologie für die Kulturpolitik reanimiert. Aber wollen wir in der Kulturpolitik in der Breite wirklich britische oder amerikanische Verhältnisse? Die Verantwortung des Staates im Bereich der Kulturpolitik heißt doch, Freiheit


dort zu ermöglichen, wo sich Kunst und Kultur eben nicht - wirtschaftlich erfolgreich oder zivil­gesellschaftlich befördert - von alleine realisieren. Kulturpolitik stärkt Orte des gesellschaftlichen Selbstgesprächs neben und jenseits von Kunstmarkt und Kulturindustrie. Nur mit Kultur, mit Kunst und Wissenschaft, öffnen sich besondere Erfahrungsräume menschenverträglicher Un­gleichzeitigkeit, Erfahrungsräume des Menschen jenseits seiner Marktrollen als Konsument und Arbeitskraft.

Andererseits bieten die Grenzen der öffentlichen Finanzen nicht insofern auch eine Chance, als es eben nicht so weiter gehen kann wie bisher? Auch in der Kulturpolitik sind wir gezwungen, grundsätzlich über diese nachzudenken und alles Eingefahrene auf den Prüfstand zu stellen. Zugespitzt und polemisch paradox gefragt: Wieweit ist Kulturpolitik auch mit weniger öffentlichen Haushaltsmitteln möglich? Da geht es um die Weiterentwicklung des öffentlichen Gutes Kultur, ob man wie Oliver Scheytt, der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft, vom Begriff des

„aktivierenden Kulturstaats“ sprechen sollte, auch das wird zu diskutieren sein. Ich schließe mich denen an, die hierbei eine Rückbesinnung auf kulturpolitische Werte und Leitideen für wesentlich halten. Wir werden den Kampf ums immer zu knappe Geld oder ums noch knapper werdende Geld jedes Mal verlieren, wenn wir nicht klar Werte und Leitideen formulieren können.

In jedem Fall wäre es falsch, Kulturpolitik heute noch als irgendein zusätzliches Politikfeld anzusehen, das man sich nur unter üppigen Wohlstandsbedingungen leisten kann. Von Hermann Glaser stammt die wunderbar provozierende Passage: »Kultur darf man nicht als unverbindliche Farbigkeitsbedarfsdeckung begreifen oder sie profitmaximierend betreiben wollen; erst ihre sinnvolle Nutzung legitimiert ihre öffentliche Finanzierung und macht sie zum Kern eines demokratischen Staatswesens. (...) Kulturpolitik tut gut daran, sich zur ›Ästhetik des Widerstandes‹ zu bekennen; liebt man sie nicht, sollte sie zumindest gefürchtet sein«.

So ist es gut, wenn in der Kulturpolitik, von der Hilmar Hoffmann einst sagte: »Kulturpolitik heißt ermöglichen«, wieder öffentlich über begründete Interessen und Inhalte geredet und gestritten wird. Wenn es in der aktuellen Debatte um den „Kulturinfarkt“ doch nur so gewesen wäre! Man­ches in den letzten Wochen hätte man besser „Argumentationsinfarkt“ genannt: „Von allem zu viel und überall das Gleiche“ – das ist nun wirklich nicht unser kulturpolitisches Problem! Versu­chen wir eine Positionsbestimmung aus sozialdemokratischer Sicht:

Erstens: Die erneuerte Kulturpolitik muss den Impetus der „Kultur für alle“ vor allem deshalb reaktivieren, weil Kultur, Kunst und kulturelle Bildung heute mehr denn je notwendige Gegenmittel gegen soziale Exklusion sind. Alle Integrationsdebatten der letzten Jahre laufen darauf hinaus, dass gesellschaftliche Spaltungen, von denen die Sozialforschung sagt, dass sie zunehmen, eben nicht nur mit der Verteilung von Vermögen und Arbeit, sondern ebenso mit der von Bildung und Kultur zu tun haben.

Trotz der erwähnten Ausweitung des öffentlichen Kulturangebotes und gestiegener Nutzerzahlen blieb es dabei, wer früher nicht ins klassische Konzert, in die Oper, ins Theater oder in Ausstellungen ging, der tut das jetzt meist auch nicht. Die soziale Selektivität von Kultur hat sich seit 30 Jahren kaum verringert. Auch Soziokultur, lange Museumsschlangen, junge Künstlerszenen änderten nichts daran. Untersuchungen ergeben 5-10% kulturelle „Vielnutzer“ und weitere 40-45%, die die Kulturinstitutionen gelegentlich in Anspruch nehmen. Die Spaltung zwischen Nutzern und Nichtnutzern kultureller Einrichtungen ist bei einem 50:50-Verhältnis wie versteinert. Es bleibt eine nicht gelöste Aufgabe, dem Ziel der „Kultur für alle“, das wir in heutiger politikwissenschaftlicher Terminologie vorsichtiger „kulturelle Teilhabegerechtigkeit“ nennen, durch verstärkte Anstrengungen in der kulturellen Bildung näher zu kommen.

Zweitens: Der Anspruch der klassischen „Neuen Kulturpolitik“, von Emanzipation, Partizipation, Kultur „von unten“ und multikultureller Offenheit bleibt richtig, muss aber in die neue Zeit übersetzt werden. Dass wir das Ziel der „Kultur für alle“ nicht zynisch aufgeben sollten, dafür gibt es weitere Gründe. Es geht um Persönlichkeitsentwicklung, denn es sind ja die Künste, der


Raum des Emotionalen, des Sinnlichen, des Symbolischen, in dem in freierer Weise das Eigene ausgebildet und erfahren, sowie zugleich das Fremde, das Andere akzeptiert, anerkannt, inte­griert werden kann. Es geht um den Erhalt kultureller Vielfalt: um kulturelle Traditionen, um junge Kunst, um gesellschaftskritische Positionen, um Soziokultur usw., eben um alles das, was nur jenseits der Vermarktbarkeit und der industriellen bzw. medialen Massenkultur lebendig bleiben kann. Ohne kulturelle Bildung wird es keine neuen Künstlergenerationen, keine zukünf­tigen Kulturrezipienten und –konsumenten geben. Die kulturelle Bildung, die Hochschulen, viele Formen der öffentlichen Förderung sind nicht zuletzt Voraussetzungen für die in letzter Zeit so vielbeschworene ökonomische Bedeutung der Kreativwirtschaft. Kulturelle Bildung eröffnet Zugänge, fördert soziale Kompetenz, Intelligenz und kritisches Denken, lehrt Verständnis, ist entscheidend für alles das, was man neuhochdeutsch „Empowerment“ nennt. Nicht zuletzt ist kulturelle Bildung eine Voraussetzung für Demokratie, für eine Gesellschaft, die zu Selbstrefle­xion, Toleranz und Anerkennung fähig ist. Zusammenhalt ist nicht zu haben ohne die Verständi­gung über gemeinsames kulturelles Wissen und die Bestände kulturellen Gedächtnisses.

Drittens: Dass wir der Kultur eine gesellschaftliche Rolle zumessen, die mit Teilhabe und sozialer Inklusion, mit Integration und Anerkennung von Vielfalt, mit Emanzipation und Demokratie zu tun hat, steht überhaupt nicht im Gegensatz, zu dem, was Thomas Steinfeldt jüngst in der SZ „die Kritik der Kultur in der Kultur“ nannte. Natürlich ist, wenn wir von der Kultur als notwendigem Lebenselement von Gesellschaft sprechen, niemals nur die affirmative Kultur gemeint. Gerade, wer wie wir, auf eine 150jährige Geschichte von Systemkritik, Emanzipations­streben und Sozialreform zurückblicken kann, wird auf das Widerständige der Kultur setzen. Gerade heute ist - vielleicht mehr denn je - das Gesellschaftskritische, das Provokative, Verstörende, Sperrige und Visionäre der Kunst lebenswichtig, um in einer Welt im Umbruch die eigentlichen Fragen zu stellen. Zudem erleben wir, dass politische Konflikte und gesell­schaftliche Auseinandersetzungen immer mehr kulturelle Dimensionen besitzen.

Viertens: Auch gilt es einem realitätsfernen Politikverständnis zu widersprechen, dem es im feingeistigen Feuilleton vor den sogenannten „inneren Verteilungskämpfen“ der Kultur ekelt - fast ist man an Thomas Mann’s Betrachtungen eines Unpolitischen erinnert. Dabei ist staatli­ches Handeln vor allem immer Rechtssetzung und Umverteilung von Mitteln. Wo Kultur doch der wichtigste Ausdruck gesellschaftlichen Reichtums ist, muss Kulturpolitik, wie jede Politik, durch Verteilungsfragen geprägt sein. Oder um das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD zu zitieren: „Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde jedes Menschen. Sie bedeutet gleiche Freiheit und gleiche Lebenschancen, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Also meint Gerechtigkeit gleiche Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, gleichen Zugang zu allen öffentlichen Gütern.“ Wer dem Verteilungskampf entsagt, entscheidet sich immer für den schlechten Status Quo der Nichtfreiheit und Nichtgleichheit.

Gerade wenn der staatlichen Finanzierung enge Grenzen gesetzt sind, sollten kulturelle Fragen auch über die Kulturpolitik im eigentlichen Sinne hinaus von vorne herein mit berücksichtigt werden. Gerade dann kommt es auf die „Kultur für alle“ an, denn Kulturförderung sollte aktivierend sein und der Kampf gegen gesellschaftliche Spaltung besitzt eine wichtige kulturelle Dimension. Gerade dann hat die kulturelle Infrastruktur, etwa die Förderung kultureller Bildung, zentrale Bedeutung. Und überhaupt geht es um den mutigen Schritt, nicht mehr alles und jedes zu versprechen und fördern zu wollen und zu können, sondern wertorientiert Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu fällen und zu vertreten.

Fassen wir zusammen: Worauf es also heute wirklich ankommt, ist tatsächlich über die kulturpolitischen Inhalte zu reden. Kulturpolitik ist eben nicht die „Auseinandersetzung um Anspruch und Neid“, sondern handlungsorientierte Kommunikation mit dem Ziel wertbegründete Entscheidungen zu treffen. Dazu wollen wir unsere sozialdemokratischen Werte und Leitideen formulieren, mit denen sich Zumutungen und Ansprüche an die Kultur glaubhaft begründen lassen. Wollen wir nicht einfach, das sich nur durchsetzt, was der Markt, die Nachfrage, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Konsumstrategen wirtschaftlich Mächtiger vorgeben,


so müssen wir vor allem den Streit über diese Maßstäbe führen. Der Eigenwert von Kunst, Verantwortung des Staates, kulturelle Teilhabe, öffentliches Gut (daher auch unsere Forderung Staatsziel Kultur in die Verfassung!), kulturelle Bildung, kulturelle Vielfalt und Kultur der Anerkennung bleiben unsere entscheidenden Stichworte."