Unterschrift Wolfgang Thierse

August Bebel-Preisverleihung

 
27. September 2019

Begrüßungsrede zur Verleihung des August-Bebel-Preises an Malu Dreyer

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,

seien Sie herzlich willkommen zur Verleihung des August-Bebel-Preises 2019.

 

Ich begrüße besonders unsere Laudatorin, die großartige und liebenwürdige Schriftstellerin Eva Menasse und natürlich unsere diesjährige Preisträgerin, die derzeitige SPD-Vorsitzende und Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Weiterhin begrüße ich den Bebel-Preisträger von 2015, Klaus Staeck, der auch Mitglied im Vorstand der Bebel-Stiftung ist.

Und Sie alle, seien Sie herzlich willkommen.

Nun meine Damen und Herren, die amtierende SPD-Vorsitzende bekommt den August-Bebel-Preis. Auf den ersten Blick scheint dies ein bisschen selbstbezüglich, nach dem Motto, die SPD ehrt sich selbst. Doch als sich der Vorstand der noch von Günter Grass gegründeten unabhängigen August-Bebel-Stiftung vor fast einem Jahr für Malu Dreyer entschied, war überhaupt nicht absehbar, dass sie in Berlin für die Bundespartei derart in die Bresche springen musste.

Sie hat, wie wir noch genauer hören werden, den August-Bebel-Preis wirklich verdient!

Günter Grass hatte es so formuliert: „Das Großartige an August Bebel war, und da gibt es eine gewisse Parallele zu Willy Brandt, dass er auf der einen Seite auf Grund seines eigenen Werdeganges von unten nach oben gegen ungeheure Widerstände, durch keine Privilegien begünstigt, die sozialen Probleme der Zeit erkannt und sie auch als gegenwärtige Probleme nicht nur angenommen hat, sondern gleichzeitig Vorstellungen entwickelt, die zu seiner Zeit noch nicht realisiert werden konnten.“

Ganz in diesem Sinne haben wir uns für Malu Dreyer entschieden. Ja, für eine führende Politikerin der SPD, die die sozialen Probleme der Zeit angeht! Dass sie derzeit mit dem Amt Bebels kommissarisch betraut ist, dass ist für mich durchaus eine Bestätigung dafür, wie richtig wir mit unserer Wahl lagen!

Denn für Bebel war die Partei selbstverständlich ein wichtiger, eigentlich der entscheidende Teil der sozialen und sozialdemokratischen Bewegung. Für ihn war es die Partei, die dem Emanzipationswillen der arbeitenden Klasse, auch den Gewerkschaften und der vielfältigen Arbeiterkulturbewegung, Richtung und Programm gab. Sie setzte sich bei aller „sonntäglichen“ Revolutionsrhetorik für ganz konkrete Verbesserungen der sozialen Lage - nicht nur, aber vor allem - in den Parlamenten ein.

So verstehen wir das Erbe von August Bebel ganz in dem reformistischen Sinne, wie ihn unser Stifter Günter Grass formuliert hatte: „Er war von seinem Naturell her ein Reformer. Doch die Stimmung seiner Zeit bot wenig Ansatzpunkte für Reformen. Es wurde derart gemauert, dass man dachte, es nur über eine Revolution schaffen zu können. August Bebel war zwar revolutionärer Theoretiker, die alltägliche Parlamentsarbeit aber holte ihn immer wieder auf den evolutionären Weg zurück.“

 

Kein Wunder, denn die Demokratie musste ja erst erkämpft werden und es war die SPD, die sie ganz entscheidend erkämpfte, wie wir uns 100 Jahre nach den ersten Schritten der Weimarer Republik erinnern. Völkischer Rechtsradikalismus behauptet damals wie heute gegen Religionsgemeinschaften, Migranten und ethnische Minderheiten einen angeblich genuinen Volkswillen. An der Diffamierung der Parteiendemokratie hat sich nichts geändert, es gibt wieder Kräfte, die die politische Klasse als korrupt, machtbesessen und zu wenig volksnah denunzieren. Dem müssen wir offensiv entgegentreten.  

Meine Damen und Herren, ich will hier keine Laudatio vorwegnehmen. Nur so viel: Wir wollen mit der Auszeichnung von Malu Dreyer auch ein Zeichen setzen. Wir beobachten das doch alle – und es tut weh: Sozialdemokratische Inhalte finden mehrheitliche Zustimmung, aber das Ansehen der Partei ist nicht besonders gut, was uns in letzter Zeit viele Wahlniederlagen beschert hat. Die Ziele der SPD, Brücken zu bauen und den Zusammenhalt zu stärken - von der Grundrente über eine klare Europaorientierung bis zur einer sozial ausgewogenen Klimapolitik - findet durchaus Zustimmung, aber diese Zustimmung zahlt bei der SPD nicht ein. Da sind schmerzliche Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverluste entstanden. Genau das macht eine Politikerin wie Malu Dreyer so unerhört wichtig! Denn: Malu Dreyer ist das personifizierte Gegenteil von eitlem und sehr männlichem Machtgehabe. Sie  für eine menschliche und ehrliche Art von Politik. Sie erfüllt etwas, was man modisch „authentisch“ nennt, was ja vor allem meint, dass es zwischen Sein und Schein keine Differenz gibt. Es kommt bei glaubwürdigen Politikern nicht nur darauf an, was sie sagen und dass ihr politisches Handeln dem, was sie sagen, auch entspricht, sondern auf noch mehr: nämlich darauf, dass sie das, wofür sie stehen, auch verkörpern, wozu in Zeiten medialer Öffentlichkeit im Grunde das ganze Leben gehört. Und, das „nah bei de Leut“, wie Ihr in Rheinland-Pfalz sagt. Bei Malu fallen einem Begriffe ein wie Mut, Toleranz, Aufrichtigkeit, das Engagement für die Schwachen und den Zusammenhalt. Und dass sie eine Frau ist, hätte Bebel, dessen Buch „Die Frau und der Sozialismus“ bereits damals ein Bestseller war, besonders gefallen!

 

In Malu Dreyer sehen wir die gelebte Alternative zu dem mittlerweile weltweit viel zu mächtigen populistischen Politikertypus, der sich um Wahrheit nicht schert, der falsche Versprechungen macht, der Hass und Vorurteile schürt – und der Ängste und diffusen Protest zum Angriff auf die Demokratie und die offene Gesellschaft missbraucht.

Malu hat sich in ihrem Buch „Die Zukunft ist meine Freundin“ als „soziale Optimistin“ bezeichnet, das ist eine Grundhaltung, wie sie auch bei August Bebel unerschütterlich anzutreffen war. Besonders Bebels Briefe an seine Frau Julie geben davon Zeugnis. Schreibt er doch dort immer wieder mahnend: „Also haltet den Kopf oben, trotz alledem und alledem." Oder ganz selbstbewusst: „Der Tag kommt, wo wir als Sieger in der Bresche stehen.“

 

Natürlich hatte der Bebelsche Geschichtsoptimismus noch mit der Marxschen Zusammenbruchstheorie zu tun: „Die bürgerliche Gesellschaft arbeitet so kräftig auf ihren eigenen Untergang los, dass wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen“ haben“, so in seiner Erfurter Parteitagsrede 1891. Heute wissen wir, wie wandlungsfähig der Kapitalismus war und ist. Politische Demokratie, Massenkonsum und Sozialstaat zivilisierten ihn. Aber: Entfesselte Marktlogik, mit der Ungleichheit, Ausbeutung, Zerstörung des Planeten, Gefährdung von Demokratie und Friedens einhergehen, zeigt: Nichts ist erledigt! Es bedarf erneut und vielmehr denn je der sozialen Demokratie.

 

Vielleicht täte es der SPD heut wieder gut, etwas von dieser beflügelnden Gewissheit der frühen sozialdemokratischen Bewegung zu haben, mit dem historischen Fortschritt im Bunde zu sein und letztendlich doch über alle Ausbeutungsverhältnisse zu triumphieren. Unser Anspruch jedenfalls muss sein, den „Primat der Politik“ zu verteidigen oder wiederzugewinnen gegenüber unkontrollierter wirtschaftlicher Macht. Die „Postdemokratie“ kann und darf unsere Sache nicht sein! Denn auch unter neuen Bedingungen von Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung kann und muss der Fortschritt sozial, demokratisch und an der Menschenwürde orientiert gestaltet werden. Neoliberal befreite Märkte oder autoritärer Nationalismus - oder verhängnisvolle Kombinationen aus beidem - dürfen nicht das Ende der Geschichte sein. Es lohnt sich für eine bessere Welt zu kämpfen!

 

Liebe Genossinnen und Genossen, zu August Bebel, dem noch immer bedeutendsten Vorsitzenden in der über 150jährigen Geschichte der SPD, der faktisch von 1869 bis zu seinem Tod 1913 über vier Jahrzehnte an der Spitze der Partei stand, gibt es in diesem Jahr  noch einen anderen Bezug. Denn das Amt des Vorsitzenden selbst ist zum Thema geworden: Die Krise der SPD hat ja auch damit zu tun, dass der SPD-Parteivorsitz, einst ausgefüllt durch das Charisma eines August Bebel und Willy Brandt, zuletzt ein Schleudersitz war und nicht mehr viel wert zu sein schien, es entstand sogar der öffentliche Eindruck, niemand aus der ersten Reihe, der es ausfüllen könnte, wolle dieses Amt wirklich noch.

 

Doch mit einer mutigen Volte könnte das Münchhausen-Prinzip, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, der SPD diesmal gelingen. Denn die solidarischen Kandidatendiskussionen auf den Regionalkonferenzen funktionieren, mobilisieren die Partei, verbessern die Stimmung. Es zeigt sich, wieviel kluge, interessante und sympathische Köpfe mit Zukunftsideen die SPD tatsächlich hat. Hält dieser Politikstil an, wird der basisdemokratische Mitgliederentscheid von allen wirklich angenommen, so könnte eine neue Führung, wer immer es sein wird, tatsächlich neues Vertrauen und neue Legitimation erhalten! Es geht um nicht weniger, als den vielerorts tiefen Graben zwischen Basis und Führung zuzuschütten, Misstrauen, Missmut und destruktive Selbstbeschäftigung zu überwinden. Malu Dreyer hat hieran als verantwortliche Parteivorsitzende, die diesen Prozess von Anfang bis Ende begleitet, großen Anteil!

Zuletzt möchte ich die Gelegenheit nutzen, einmal an den Co-Vorsitzenden Bebels, an Paul Singer zu erinnern.

Dass sich jeweils Paare um den Parteivorsitz bewerben, wurde von den Journalisten oft abgetan als von den Grünen abgekupfert. Welche Geschichtsvergessenheit! Die SPD hatte in gut der Hälfte ihrer über 150-jährigen Geschichte zwei Vorsitzende. (Natürlich war man noch nicht so weit, dass es wie jetzt geschlechtergerecht zuging.)

Die Idee einer Doppelspitze hing zunächst mit dem Konflikt zwischen dem von Lassalle 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) und dem von Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 in Eisenach gegründeten Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zusammen. In der Vereinigung der beiden Parteien 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) wurde die Parteiführung nach dem Vorbild der SDAP als kollektive Führung mit einem fünfköpfigen Ausschuss und mit zwei gleichberechtigten Vorsitzenden gestaltet. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 führten Paul Singer und Alwin Gerisch die sich nun SPD nennenden Partei. 1892 löste August Bebel, der mittlerweile zur charismatischen Gallionsfigur der SPD aufgestiegen war, Giersch als Vorsitzenden ab. Unter Singer und Bebel erlebte die SPD ihre erfolgreichste Phase des Aufstiegs zur Massenpartei. Beide blieben bis zu ihrem Tode Vorsitzende, sie starben kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Wenn auch Bebel mit seinen Reden und Schriften in der historischen Erinnerung natürlich dominiert, so war sein Freund Paul Singer alles andere als unwichtig. Es gab eine funktionierende Arbeitsteilung mit Bebel, zum Beispiel leitete Singer von 1890 bis 1909 mit Ausnahme des Jahres 1901 die jährlichen sozialdemokratischen Parteitage. Singer war eher ein Mann der Tat voller Empathie als ein sozialistischer Theoretiker. Mit eigenem Geld half er die Sozialistengesetze überstehen, er finanzierte nach dem Ende des Parteiverbots den Aufbau des „Vorwärts“-Verlages. Kostenlose Schulspeisungen, der Kampf gegen die gewaltige Wohnungsnot bleiben mit seinem Namen verbunden. Paul Singer, aus jüdischer Familie stammend und Miteigentümer einer erfolgreichen Konfektionsfirma, hatte übelster antisemitischer Hetze zu widerstehen. Von der Berliner Arbeiterbevölkerung wurde er – so hieß es - „fast vergöttert“. Singers Beerdigung wurde zu einem der größten Trauermärsche Berlins, eine Million Menschen sollen auf den Beinen gewesen sein (bei Bebel waren es drei Jahre später für Zürich auch ganz viele, doch im Vergleich „nur“  60.000). Am Tag nach der Beisetzung von Singer ist der „Vorwärts“, der damals eigentlich eine Tageszeitung war, nicht erschienen, wohl deshalb, weil alle Beschäftigten des Verlages und alle Redakteure auf der Berliner Trauerfeier waren.

Mein kleiner Ausflug in die Geschichte verweist darauf, dass auch für eine gemeinsame, freundschaftliche Doppelspitze August Bebel Vorbild sein kann. Unterschiedliche Akzente und Prägungen können und sollten sich vertrauensvoll ergänzen! Übrigens: Singer setzte sich besonders dafür ein, dass Eduard Bernstein währende des Revisionismusstreits 1898 nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde.

 

Die Erinnerung an die beiden Vorsitzenden, an Bebel und Singer, ist auch die Erinnerung an einen für die SPD fundamentalen Zusammenhang, den nämlich zwischen Theorie und Praxis, zwischen Programmatik und Pragmatismus. Es bedarf der Realpolitik zur Verbesserung des Lebens Vieler, aber es bedarf ebenso der Orientierung und eines Narrativs über den Tag hinaus: Wofür steht die SPD, wohin soll die Reise gehen, was meinen wir mit einer Gesellschaft der Gleichen und Freien? Und was meinen wir heute damit, das Soziale, Wirtschaftliche und Ökologische zusammenzusehen und dies in praktische Politik umzusetzen?

 

Auf das Paar Singer/Bebel folgte übrigens die offene Institutionalisierung des innerparteilichen Spektrums: der gemeinsame Vorsitz des Parteilinken und Pazifisten Hugo Haase und des Parteirechten Friedrich Ebert funktionierte allerdings angesichts des 1. Weltkrieg allerdings nur einige Jahre.

 

Zum Schluss. Günter Grass hatte in einem Gespräch mit unserer Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ gesagt: „Es hat mich geärgert, wie die Kenntnis über eine so große Person, einen so großen Deutschen wie August Bebel, selbst in seiner eigenen Partei kaum fundiert ist. Und das hat mich dazu gebracht – in meinem letzten Prosa-Buch Grimms Wörter hatte ich es angekündigt – 2010 aus dem Bucherlös die August-Bebel-Stiftung ins Leben zu rufen. Alle zwei Jahre verleiht sie den August-Bebel-Preis: 2011 an Oskar Negt (..) 2013 an Günter Wallraff (…). Wir werden Mühe haben, einen dritten und vierten Preisträger von gleichem Rang zu finden.“

Liebe Malu, ich glaube, nach Klaus Staeck 2015 und Gesine Schwan 2017 ist es uns mit Dir nun auch ein fünftes Mal gelungen, einen „Preisträger von gleichem Rang“ zu finden. Auch Grass hätte dies bestimmt so gesehen.

Meine herzliche Gratulation zur Verleihung des Bebel-Preises an Dich und kräftige Wünsche für die nächsten Monate und Jahre!