Unterschrift Wolfgang Thierse

7. Oktober 2019

 
7. Oktober 2019

Rede zum 7. Oktober 2019 im Willy-Brandt-Haus

Wolfgang Thierse

30. Jahrestag der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR

Rede zum 7. Oktober 2019 im Willy-Brandt-Haus 

Es ist gut und es ist doch auch selbstverständlich, dass sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands an den 7. Oktober 1989, an die Gründung der SDP – Sozial-demokratische Partei in der DDR – erinnert.

Gerade weil der 9. November in den Emotionen und Erinnerungen alles überstrahlt und der 3. Oktober nun der jährliche Tag der Deutschen Einheit ist, sollten wir unsere eigene Gründung darüber nicht vergessen!

Diese Gründung war schließlich ein gewichtiger Teil der Friedlichen Revolution – und nicht einer bloßen „Wende“.  (Das war Egon Krenz. Warum hat sich nur dieser unangemessene Terminus durchgesetzt? Das verdanken wir wohl und leider Helmut Kohl.)

Denn: Die friedliche Revolution war - hart errungen – die erste ihrer Art in der Geschichte unseres Volkes. Es gab gewiss zuvor schon einige Revolutionen in Deutschland, aber eben keine, die unblutig verlief und zugleich erfolgreich war. Eine Revolution, in der Freiheit und Einheit nicht zum Gegensatz wurden, im Gegenteil. Eine Revolution zudem, die in ganz Europa mit Sympathie begleitet wurde. Das genau macht sie wirklich zu einem historischen Wunder! Erst die Freiheit – dann die Einheit! Erst der September und Oktober 1989, dann der 9. November 1989 und ein Jahr später dann der 3. Oktober 1990 – das war die Reihenfolge der Ereignisse. Wer die Friedliche Revolution auf eine pure Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung reduziert, ignoriert, dass es sich hier um eine Sternstunde der deutschen und europäischen Freiheits- und Demokratiegeschichte handelt. Darauf können wir doch stolz sein – wir Ostdeutsche und wir Deutsche insgesamt und wir Sozialdemokraten besonders. Von dieser großen Geschichte darf uns niemand enteignen! 

Um das gänzlich (auch uns selbst damals) Überraschende, ja auch Unwahrscheinliche der historischen Vorgänge zu begreifen, muss man sich die Jahrzehnte davor vergegenwärtigen. Ich erinnere an den 17. Juni 1953 in der DDR, an die Aufstände 1956 in Ungarn und Polen, an den Bau der Mauer am 13. August 1961, an den Prager Frühling 1968, an Solidarnosc und das Kriegsrecht in Polen 1980/81: Die Geschichte der DDR und unserer östlichen Nachbarn war eine Geschichte von Unterdrückung, von Niederlagen, von enttäuschten Hoffnungen, bis nur der Mut der Verzweiflung blieb – und eine letzte neue Hoffnung auf Gorbatschow, auf „Perestroika“ und „Glasnost“. Das war, so meine Erinnerung, die Stimmungslage 1989: zwischen Resignation und Hoffnung, zwischen Angst und Mut. Und der Mut hat schließlich obsiegt!

Im Spätsommer und Herbst 1989 hatten die Ostdeutschen auf wöchentlich wachsenden Demonstrationen in Plauen und Leipzig und anderen Städten ihre Angst verloren – die Angst, die die halbe Macht der Diktatur ist. Und sie hatten zugleich ihre Sprache, ihren Mut wiedergefunden: „Wir sind das Volk!“ riefen die Demonstranten und dieser Ruf war Ausdruck eines neu erwachten Selbstbewusstseins. Die Zuversicht wuchs, dass man gemeinsam etwas ändern könne, endlich. Ein Transparent, dass im Herbst 1989 in Leipzig zu sehen war, formulierte es: „Jetzt oder nie, Freiheit und Demokratie!“ So habe auch ich es damals empfunden und noch heute bewegt mich die Erinnerung daran.

Die Idee zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei hatten Martin Gutzeit und Markus Meckel seit Anfang 1989 entwickelt. Der Aufruf zu ihrer Gründung wurde von beiden mit Datum vom 24.7.1989 formuliert und einen Monat später am 28.8.1989 in der Golgatha-Gemeinde in der Borsigstraße in Berlin-Mitte vorgestellt. Die Gründung selbst erfolgte – illegal – am 7. Oktober 1989 in Schwante bei Berlin, im dortigen Pfarrhaus, die Gründungsurkunde wurde von 43 Personen unterzeichnet.

Anspruch und Dimension der SDP-Gründung hat Markus Meckel so beschrieben: „Mit dieser Gründung zogen wir gewissermaßen die sozialdemokratische Hand aus dem Symbol des SED-Parteiabzeichens und entzogen der SED ihre ideologische Legitimation. Dies ging an die Wurzel der Selbstdefinition der SED – und war beabsichtigt. Wir widersprachen dem von der SED beanspruchten Wahrheits- und Machtmonopol und wollten uns der notwendigen Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger stellen.“

Und man muss sich das vergegenwärtigen: Schon am Beginn des Aufrufs der Initiativgruppe steht der Satz: „Die notwendige Demokratisierung der DDR hat die grundsätzliche Bestreitung des Wahrheits- und Machtanspruchs der herrschenden Partei zur Voraussetzung“. Und dann ist das Ziel formuliert: „Eine ökologisch orientierte soziale Demokratie“. Und die Forderungen heißen: Grundrechte, Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung, parlamentarische Demokratie und Parteienpluralismus, relative Selbständigkeit der Regionen, soziale Marktwirtschaft, Demokratisierung des Wirtschaftslebens, Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht. 

Was heute als Realität ganz selbstverständlich erscheint, wie umstürzlerisch war es damals! Und dass dies fast alles so selbstverständliche Realität ist, straft alle diejenigen der Dummheit oder der Lüge und Hetze, die behaupten, heute herrschten ähnliche Verhältnisse wie in der DDR. Welch entsetzliche Vergesslichkeit!

Es ist, glaube ich, keine unangebrachte Eitelkeit und kein unangemessener Sonderstolz, wenn die Sozialdemokraten an der Erinnerung festhalten: Der Gründungsaufruf war einer der ersten der oppositionellen Bewegungen, war also besonders mutig. Er zielte ausdrücklich auf die Bildung einer Partei, stellte früher und entschiedener die Frage nach der Macht, war also besonders nüchtern und realistisch. Und er stellte sich in eine große Tradition, nämlich die sozialdemokratische, war also zwar mutig, aber nicht größenwahnsinnig.

Auch heute, 30 Jahre danach, gilt mein Respekt und sollte unser aller Respekt den Gründern der SDP gelten, also vor allem Martin Gutzeit und Markus Meckel und allen anderen, die in Schwante dabei waren!

Im Herbst 89 begann ein turbulentes Jahr, ein großer Aufbruch, ein Schritt ins wahrlich Unvertraute: Runde Tische, Aufbau der Partei, sogar ein Parteiprogramm haben wir erarbeitet, dann Volkskammerwahl, Regierungsbildung, deutsch-deutsche Verträge, Bildung der Länder, Deutsche Einheit. Es war für mich und wohl auch für alle, die dabei waren, das dramatischste Jahr des eigenen Lebens. 

Ich habe diesen Eindruck damals (in meiner Rede auf dem Zusammenschluss-Parteitag der SPD am 27. September 1990) so zusammengefasst: „Es war ein gewichtiges, wenn auch schmales Kapitel in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Wie in einem Zeitraffer haben wir alle Seiten, alle – nein: fast alle – Höhen und Tiefen der langen Geschichte der Sozialdemokratie durchlaufen: Anfang in der Illegalität, hoffnungsvoller Aufschwung, Selbstüberschätzung, Wahlenttäuschung, Regierungsbeteiligung, Opposition. Fehler viele, Hoffnungen auch. Viel Streit aber auch viel Übereinstimmung. Nicht alle sind mehr dabei, viele sind neu hinzugekommen. Und nun das Ende dieses Kapitels, das gewollte Ende. Ein neues Kapitel in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie beginnt.“ 

Ich will hier ausdrücklich an Einige erinnern, die dieses Kapitel mitgestaltet haben, denn sie sollten nicht der Vergesslichkeit anheimfallen. Ich erinnere neben Martin Gutzeit und Markus Meckel stellvertretend für viele andere an: Till Backhaus, Christine Bergmann, Konrad Ellmer, Rüdiger Fikentscher, Iris Gleicke, Hans-Joachim Hacker, Regine Hildebrandt, Stephan Hilsberg, Reinhard Höppner, Karl-August Kamilli, Constanze Krehl, Thomas Krüger, Hinrich Kuessner, Karlheinz Kunckel, Christoph Matschie, Hans Misselwitz, Willi Polte, Steffen Reiche, Harald Ringstorff, Walter Romberg, Volker Schemmel, Richard Schröder, Ulrich Stockmann, Rolf Schwanitz, Gottfried Timm, Gunter Weißgerber, Alwin Ziel. Nicht wenige von ihnen und viele andere Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten politische Verantwortung übernommen und in schwieriger Zeit auch getragen – mit Erfolgen und Misserfolgen, mit Überzeugungs-treue und Leidenschaft – im Bund und in allen ostdeutschen Ländern, als Ministerpräsidenten und Minister, in den Parlamenten und als Bürgermeister. 

Und da wir gegenwärtig wieder (zum wievielten Mal eigentlich?) über die Große-Koalitions-Frage in der SPD streiten, will ich daran erinnern, dass dies schon im Frühjahr 90 der Fall war – und zitiere dazu den Rückblick von Richard Schröder: „Nach den Wunden des Wahlkampfes war aber auch innerhalb der SPD die Koalitionsfrage umstritten. Die Fraktion hat sich schließlich für die Koalition entschieden, vor allem aus drei Gründen. Diese Regierung konnte eine 2/3-Mehrheit deshalb gut gebrauchen, weil der Weg zur deutschen Einheit über 2/3-Entscheidungen gehen musste. Außerdem wollten wir den Weg zur Einheit nicht der CDU überlassen. Und in der SPD-Fraktion war die Zahl derer hinreichend groß, denen die Übernahme von Verantwortung wichtiger war als die Fortsetzung eines Oppositionsgestus, der seinen Gegner verloren hatte. Wer heute die Koalitionsvereinbarung liest, kann nicht bestreiten, dass sie sozialdemokratische Züge trägt.“

So Richard Schröder in seiner schönen und vertrauten Nüchternheit. So sollten wir auch heute urteilen, egal ob pro oder contra.

Stichwort Nüchternheit. Angesichts des gegenwärtig grassierenden vorwurfsvollen Krisendiskurses über den Stand der Deutschen Einheit und die Stimmung im Osten Deutschlands, über ostdeutsche Demütigungen und Benachteiligungen, über „Kolonialisierung“ und falsche Einheit… Angesichts dessen fiel mir ein Satz wieder ein aus meiner Volkskammerrede zum Einigungsvertrag im September 1990: „Die DDR tritt nicht dem Paradies bei, aber auch nicht der Hölle“. Und ich habe damals darauf hingewiesen, dass noch viel Arbeit vor uns liegt und uns harte politische Auseinandersetzungen erwarten. Viele aber haben das Paradies erwartet, manche es auch versprochen. Die Enttäuschung setzte bald ein und kommt – in Wellen – immer wieder hoch.

Wir sind 1990 für unseren nüchtern-kritischen Blick nicht belohnt worden. Das sollte uns heute allerdings nicht dazu verführen, an dem Vorwurfsdiskurs teilzunehmen! Den nämlich beherrschen AfD und auch Linkspartei besser. Unsere Aufgabe ist und bleibt der genaue, differenzierte Blick auf die Stimmung wie auf die Realität und die Formulierung konstruktiver Antworten und Problemlösungen. Selbstverständlich. Und deren Umsetzung in praktische Politik, wo wir dies können, wo wir mitregieren – und das tun wir schließlich in ganz Ostdeutschland.

Ich will einen solchen genauen, differenzierten Blick auf die Lage versuchen. 

Die Wahlergebnisse der vergangenen Wochen, Monate, Jahre waren schmerzlich: „Noch einmal davon gekommen“ dieser Kommentartitel in der FAZ gilt insbesondere für die SPD (nicht nur Ost). 25 Prozent haben in Sachsen und Brandenburg AfD gewählt. Noch nie im Nachkriegsdeutschland haben die Rechten so viel parlamentarische Präsenz erreicht. Eine bestürzend große Zahl ostdeutscher Wähler ist bereit, (rechts-)extrem zu wählen (vor allem in Ost-Sachsen und Süd-Brandenburg). 

Schauen wir genauer hin und vermeiden zu einfache Erklärungen und Schuldzu-weisungen. Blickt man auf das politische Angebot und vor allem die Wähler, so erweist sich die AfD als sowohl nationalistisch-rechtsextremistische Partei wie als Protestpartei wie als konservative Partei: Die AfD wird nämlich (1.) von denen gewählt, die vorher schon DVU oder NPD gewählt haben. Diese Parteien haben es zuvor bereits in Landesparlamente geschafft. Und liest man die Langzeitstudie von Wilhelm Heitmeyer „Deutsche Zustände“, dann weiß man, dass es in Deutschland einen Anteil von 10-20 Prozent von Menschen mit autoritären, minderheiten­feindlichen, rassistischen, antisemitischen und demokratiefeindlichen Einstellungen gibt, deren Sichtbarkeit allerdings je nach wirtschaftlich-sozialer Lage deutlicher oder weniger deutlich ist. Die AfD wird (2.) gewählt von Menschen aus wirtschaftlich-sozialen Problemgebieten und ländlichen Regionen, in denen Abwanderung stark ist, Überalterung groß, Männerüberschuss erheblich ist und die Infrastrukturprobleme größer sind als anderswo und deshalb die Zukunftsunsicherheit drastisch ist. Das gilt im Besonderen für die Braunkohlereviere. Die AfD wird (3.) gewählt von Leuten, denen es eigentlich ganz gut geht und die nicht zu den Verlierern der Deutschen Einheit zählen, die sich aber wehren gegen die vielen Veränderungen, die gegenwärtig stattfinden und deren Dramatik Unsicherheiten und Ängste erzeugt. 

Die Wahlerfolge der AfD erklären sich also nicht nur, vielleicht sogar weniger aus ökonomisch-sozialen Gründen (dann dürfte es z. B. in Baden-Württemberg nicht einen so erheblichen AfD-Wahlerfolg gegeben haben), sondern mindestens gleichgewichtig sind kulturelle Gründe. Um das zu begreifen, muss man einen Schritt von der nur ostdeutschen Wahrnehmung zurücktreten.

Die radikalen Veränderungsprozesse in der Gegenwart, die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die der Begriff Globalisierung zusammenfasst, die Migrationsschübe, die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die ökologische Bedrohung, die zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, die Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte, insgesamt das Erleben einer „Welt in Unordnung“ – das alles verstärkt auf offensichtlich dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Darauf muss unsere Partei Antworten finden!

Vor allem auch, weil die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen was Halt gibt und Zusammenhalt sichert, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste, soziale Überforderungsgefühle, kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt sind. So gibt es – drei Jahrzehnte nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit – eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: Nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.  

Und zur Dialektik der Globalisierung gehört offensichtlich eine neue, vor allem kulturelle Spaltung der Gesellschaft (die allerdings die „älteren“ sozialen Spaltungen nicht zum Verschwinden bringt). Diese Spaltung wird in unterschiedlicher Terminologie beschrieben: zwischen den „Somewheres“ und „Anywheres“, zwischen dem „kosmopolitischen“, libertären, urbanen Teil der Bevölkerung und dem „kommunitaristischen“, lokalorientierten und gebundenen Teil. Wie angemessen diese Termini sind, sei hier nicht diskutiert aber doch festgehalten: Es sind ja nicht die kosmopolitischen Eliten, die Libertären, die auf den Wellen der Globalisierung Surfenden, die Modernisierungsschübe erfolgreich Meisternden, die Entheimatungs-befürchtungen und Entfremdungsängste empfinden. Es sind die Anderen, die die Veränderungen durch Globalisierung und durch das Fremde und die Fremden als Gefährdung ihrer vertrauten Lebenswelt, auch als sozialen Verteilungskonflikt erfahren.

Diese Anderen reagieren auf die Öffnung der Grenzen mit dem Wunsch nach neuen Grenzen, mit dem Wunsch zurück zum souveränen Nationalstaat. Sie reagieren auf die postmoderne Vielfalt und den kulturellen Pluralismus mit dem Wunsch nach kultureller Eindeutigkeit von Identitäten, nach verbindlichen Werten, nach nationaler Leitkultur. Man kann auf solche Wünsche mit purer Ablehnung und Verachtung reagieren, was ich allerdings für falsch halte. Die Rechtspopulisten tun das Gegenteil und das erklärt wenigstens zum Teil ihren Erfolg.

Zeiten also für Populisten, die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die die Sehnsüchte nach Erlösung von den ängstigenden Unsicherheiten zu befriedigen versprechen. Zumal eben in Ostdeutschland! Denn was ich für Deutschland (und Europa) insgesamt zu beschreiben versucht habe, gilt für den Osten in besonderer, verschärfter Weise. Denn hier trifft die gegenwärtige Veränderungsdramatik auf Menschen, die die dramatischen Veränderungen seit 1989/90 mit Schmerzen, Opfern, Verlusten noch nicht gänzlich und vor allem nicht alle gleichermaßen erfolgreich bestanden haben. So viel Umwälzung in kurzer Zeit! Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und biografischen Umbrüchen!

Das macht nicht wenige empfänglich für die einfachen, radikalen Botschaften. Für das Angebot altneuer konservativ-nationaler Gewissheit und wütend-aggressiver Abwehr. Eine erfolgreich-gefährliche Mischung – nicht nur im Osten Deutschlands. 

Aber darüber hinaus: Worüber haben wir noch zu reden in Sachen Ostdeutschland? Ich zähle stichwortartig und vergröbernd auf:

Erstens eine weiterwirkende, tiefe autoritäre Prägung! Selbstverantwortliche, selbstbewusste Bürgerschaft war nicht oder kaum möglich in der DDR. Sie war schließlich als SED-Diktatur ein autoritärer Staat, oder wie Rolf Henrich in seinem berühmten, 1990 erschienen Buch sie genannt hat ein „vormundschaftlicher Staat“. Von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ hatte Rudolf Bahro bereits in den 70er Jahren gesprochen. Die Nachwirkungen dieser Prägung werden noch laut in den Vorwürfen „an die da oben, die im Westen“. Die sollens richten, die sind schuld, die sollen doch erstmal uns integrieren.

Zweitens erinnere ich an die unbewältigte Nazi-Erbschaft. Die DDR hatte es sich leicht gemacht und das Nazi-Erbe einfach an den Westen delegiert. Es gab bei uns eben kein kulturelles 1968. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus wurde unter den Teppich gekehrt. Das Eingesperrtsein 40 Jahre lang hat Folgen. (Man lese einmal Ines Geipel „Umkämpfte Zone“, um das Ineinander von braunen und roten Diktaturprägungen in Biografien zu verstehen.)

Drittens erinnere ich an unsere zähen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplexe. Wir Ostdeutsche haben ja immer mit dem Blick nach Westen gelebt und uns deshalb immer als den schwächeren, weniger erfolgreichen Teil empfunden. Der westdeutsche Maßstab wirkt bis heute nach bei allen Debatten über den Stand der Deutschen Einheit. Wie wäre es, die Ostdeutschen hätten damals auch nach Osten geblickt und würden es heute gelegentlich tun. Der Blick nach Polen, Tschechien, Ungarn, Russland verkleinert unsere ostdeutschen Probleme gewiss nicht, aber er könnte doch unsere emotionalen Wertungen ein wenig relativieren helfen.

Viertens. Die Kritik am deutschen Einigungsprozess ist modisch geworden. Der Wunsch nach einer ganz anderen Art von Einheit, nach einem ganz anderen Sozialismus wird laut. Nun bin ich kein Hegelianer, um das was wirklich geworden ist, schon deshalb für vernünftig zu halten. Aber ein nüchterner Rückblick tut not. Gab es 1990 wirklich eine Alternative zum Beitritt nach Artikel 23?  Angesichts der Beschleunigungsfaktoren, die damals wirksam waren: Die Ungeduld der DDR-Bürger („Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“- noch im Jahr 1990 verließen viele Hunderttausend die DDR gen Westen.), der faktische Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, die außenpolitische Ungewissheit, ob Gorbatschow und die Sowjetunion einer Einheit zustimmen würden. Auch rückwärtsgewandte Hoffnungen können Illusionen sein.

Aus der erzwungenen Beschleunigung ergab sich auch das Grundmuster der deutschen Einigung, über das man ohne moralische Schuldzuweisungen sprechen sollte: Es war die Vereinigung von zwei Ungleichen, von einem erfolgreichen System und einem gescheiterten System. Im Westen wirkte der Zusammenbruch des ostdeutschen Systems als Bestätigung des Status quo, im Osten bewirkte er eine radikale Veränderung. Die einen wurden die Lehrmeister, die anderen Lehrlinge. Das ist ein schmerzliches Beziehungsverhältnis, das gerade im Osten langanhaltende Wirkungen erzeugte.

Erinnern will ich aber auch an die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Seine beruhigenden Versprechen nach dem Motto: „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ hat gewirkt und zu CDU-Wahlerfolgen geführt. Aber die Ostdeutschen sollten ehrlich zu sich selber sein: Eine Mehrheit wollte in ihrer Zukunftsunsicherheit Helmut Kohls Versprechungen glauben, wollte so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik Deutschland. Je größer die Versprechen und die Erwartungen und das Glauben wollen, umso größer späteren Enttäuschungen! Bis heute!

Selbst eine friedliche Revolution kommt nicht ohne Personalwechsel aus. Wir wollten schließlich die alten SED-Eliten loswerden. Das ging nicht ohne die Übernahme von Positionen durch Westdeutsche. Das ist nicht in jedem Fall gut gelaufen und war oft mit persönlichen Zurücksetzungen und Verletzungen verbunden. In der Wirtschaft, in der Justiz, in den Medien war dieser Wechsel unausweichlich. In der Politik aber konnten die Ostdeutschen ihresgleichen wählen – und sie haben die westdeutschen Biedenkopf und Vogel und Ramelow gewählt. Und heute: wählen die, die über die Kolonisierung des Ostens durch den Westen klagen, westdeutsche AfD-Funktionäre übelster Art!

Fünftens fällt mir auf und beklage ich eine Unfähigkeit und Unwilligkeit vieler Ostdeutscher zu positiver Selbstwahrnehmung. Ich wage gar nicht von Stolz zu reden. Dabei haben wir Ostdeutsche doch Anlass, mit Selbstbewusstsein auf die Friedliche Revolution und die Bewältigung einer dramatischen und schmerzlichen Transformation zu blicken. Das ist doch eine große soziale und kulturelle und menschliche Leistung! Wir haben einen Erfahrungsschatz gewonnen, der für die vor uns stehenden, vermutlich nicht weniger dramatischen Veränderungsprozesse von Vorteil sein könnte, sein sollte. Ich wünsche mir, dass die SPD vielmehr als bisher eine Partei der Ermutigung und der Ermunterung wird! 

30 Jahre danach können wir begreifen, dass die Deutsche Vereinigung noch ein längerer Prozess sein wird. Dass es für sie nicht nur weiterer ökonomischer Anstrengungen bedarf, sondern auch der Demokratiearbeit, der emotionalen Arbeit und der kommunikativen Verständigung, damit die Einheit gelingt. Das wird wohl länger dauern, als wir es uns vorgestellt und gewünscht haben. Das ist kein Grund für Wut und Empörung, meine ich, jedenfalls dann nicht wenn immer wieder kleinere und größere Fortschritte erreicht und sichtbar werden – und die SPD daran erkennbar beteiligt ist. Fortschritte in Sachen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft, der Einkommen, der sozialen Sicherheit, der menschlichen Annäherung und vielleicht gar der Lebenszufriedenheiten und der Anerkennung unterschiedlicher Biografien! 

Zum Schluss ein Zitat von Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 1990. Damals prognostizierte er folgenden Zeitbedarf: Für die Einführung politischer Demokratie und rechtstaatlicher Verhältnisse – 6 Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft – 6 Jahre, für die Entwicklung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft – 60 Jahre. So gesehen sind wir durchaus im Zeitplan. Die SPD, ich wiederhole es, muss gerade im Osten Deutschlands, eine Partei der Ermutigung und der Ermunterung sein!