Unterschrift Wolfgang Thierse

Beitrag Auch ich bin in Breslau geboren

 
17. Mai 2010

"Auch ich bin in Breslau geboren" - Wolfgang Thierse in der WELT zu Flucht und Vertreibung

Wolfgang Thierse verfasste zum Thema Flucht und Vertreibung einen Essay, der in der Printausgabe der Tageszeitung DIE WELT vom 17. Mai 2010 erschien.

 
Wolfgang Thierse

Auch ich bin in Breslau geboren

Das Schicksal der Vertreibung ist ins kollektive Gedächtnis der Deutschen übergegangen. Aber es ist nicht mehr Angelegenheit der Vertriebenen allein, sondern der ganzen Republik

Hört der Streit denn niemals auf? Ist auch die Geschichte von Flucht und Vertreibung eine Vergangenheit, die nicht vergehen will? 60, 70 Jahre ist das alles her: die Jahre des Krieges, von Vertreibung und Flucht; die bitteren, opferreichen Erlebnisse vieler Menschen, vor allem von Alten, von Müttern, von Kindern; die Erfahrung schmerzlichsten Verlusts - von Familienangehörigen, von Eigentum, von Heimat; die Tage und Wochen, manchmal Monate und Jahre des Hin und Her, des Bedrohtseins, der Unsicherheit und Angst, des Kampfes ums schiere Überleben, ohne gewisses Ziel; die Ankunft in fremder, kalter Heimat, der unfreundliche Empfang.

Das Leid der Vertriebenen kenne ich - im Gegensatz zu vielen anderen - aus eigener Erfahrung: Ich bin in Breslau geboren, meine gesamte Familie, mütterlicherseits wie väterlicherseits, hat in Schlesien gelebt und ist vertrieben worden. Der größere Teil meiner Familie fand sich im Westen Deutschlands wieder, der kleinere blieb im Osten Deutschlands hängen. Ich bin mit der trauernden Erinnerung an die verlorene Heimat aufgewachsen. Diese trauernde Erinnerung fand aber nur einen Platz im engsten Kreis der Familie oder der Kirchengemeinde. Öffentlich durfte sie nicht werden, denn offiziell gab es uns Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR gar nicht. Stattdessen war euphemistisch von "Umsiedlern", schon ab 1950 von "ehemaligen Umsiedlern" oder "Neubürgern" die Rede. Dabei machten die Vertriebenen bei Gründung der DDR mit vier Millionen Menschen noch mehr als ein Fünftel der Bevölkerung aus. Aber sie hatten zu schweigen!

Ich weiß also, was es heißt, wenn vom Leid der Vertriebenen die Rede ist - dem doppelten Leid des schmerzlichen Verlustes der Heimat einerseits und andererseits dem Leid des Schweigenmüssens, der Unterdrückung und Verdrängung, das krank machen kann.

Im Westen Deutschlands verlief die Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen durchaus anders als in der DDR. Die Bundesrepublik hat eine große, wahrlich historische Leistung erbracht: die Integration von weit mehr als zehn Millionen Menschen! An dieser Leistung hatten die Vertriebenen selbst den größten Anteil - durch ihren Fleiß, ihre Integrationsbereitschaft, ihr politisches Engagement und auch ihre Organisationskraft: Die Vertriebenenverbände hatten erheblichen Einfluss, zunächst über eine eigene Partei (den BHE), dann in den demokratischen Parteien, die die Bundesrepublik seit 1949 prägten. Das Lastenausgleichsgesetz von 1952 und das Bundesvertriebenengesetz von 1953 waren wichtige Ergebnisse ihrer Aktivitäten und zugleich wirkungsvolle Instrumente der Integration. So wurden die Flüchtlinge und Vertriebenen Akteure und Teilhaber am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfolg der Bundesrepublik. Die Pflege der Erinnerung an die verlorene Heimat und deren Kultur war ein ganz selbstverständlicher Teil davon. Zahlreiche Heimatmuseen, Ausstellungen und circa 1400 Denkmäler entstanden, die an den historischen deutschen Osten erinnern, der Opfer von Flucht und Vertreibung gedenken oder der Integration gewidmet sind. Das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten immer wieder Gegenstand von historischer Dokumentation und künstlerischer Aufarbeitung in Büchern, in Filmen, im Fernsehen gewesen.

Man wird also nicht behaupten dürfen, dass die Vertriebenen in der Erinnerungskultur der (West-)Deutschen jahrzehntelang nicht genügend vertreten gewesen seien (diesen Vorwurf erhebt Manfred Kittel, der erste Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung). Allerdings gab es einen unübersehbaren Rückgang des öffentlichen Einflusses der Vertriebenenverbände in den 70er-Jahren, der vor allem ihrer Gegnerschaft zu den Ostverträgen der sozialliberalen Koalition geschuldet war, die vielfach als Ablehnung einer Aussöhnung mit Polen und unseren anderen östlichen Nachbarn verstanden wurde. Eine Mehrheit der Deutschen, vor allem der jüngeren Generationen, war entschieden für die Ost- und Entspannungspolitik der Regierungen Brandt und Schmidt. Der Konflikt hatte Folgen: Er vermehrte den Unwillen, sich des Leides der Vertreibungen zu erinnern, den Opfern Aufmerksamkeit und Respekt zu widmen.
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Inzwischen sind wir in einer anderen Situation. Die deutsche Einheit und die Einigung Europas haben die Chance eröffnet, über das schmerzliche Thema von Flucht und Vertreibung auf neue Weise zu sprechen - ohne Misstrauen, ohne Angst vor Revanchismus und Revisionismus. Die europäischen Grundfragen der Vergangenheit, die Grenzfragen vor allem, sind geklärt; die europäischen Völker, die Deutschen und Polen darin, haben sich zu Frieden und Solidarität miteinander verpflichtet. Das schließt den kritischen und selbstkritischen, den wahrhaftigen Blick auf die Vergangenheit ein, besonders auch den Blick auf die bitterböse Geschichte der Deutschen mit ihren polnischen Nachbarn. Eine gemeinsame Aufgabe.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat in Deutschland das Interesse für diesen Teil unserer Geschichte wieder zugenommen. Wir erleben einen Gezeitenwechsel: Die Erinnerung an nationalsozialistische Diktatur und Verbrechen, an Holocaust und Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung wechselt (endgültig) von den Zeitzeugen, von der "Erlebnisgeneration", von der persönlichen und familiären Erinnerung ins kollektive Gedächtnis, das vergegenständlicht ist in Museen, in Gedenkstätten, in Historiografie, in den Werken der Kunst, in den medialen Archiven. Das ist mehr als ein Formenwechsel, denn dieser Vorgang ist von Erinnerungsverlusten und also auch von Verlustängsten begleitet. Und in ihm verschärft sich noch einmal der Streit über die Bedeutung von Geschichte, er ist unweigerlich von Erinnerungspolitik imprägniert. So hat der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren drei wichtige geschichtspolitische Entscheidungen getroffen: zum Holocaust-Mahnmal, zur Formulierung und Novellierung einer Denkmalskonzeption für das geeinigte Deutschland und zu einem Denkmal für Freiheit und Einheit.

Nach der Initiative des Bundes der Vertriebenen von 1999 ist mit einem Bundestagsbeschluss von 2002, mit der Koalitionsvereinbarung über das "Sichtbare Zeichen" von 2005 und mit der Konzeption für die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" von 2008 - an allen habe ich maßgeblich mitgewirkt - die Erinnerung an diesen Teil unserer Geschichte in ein neues Stadium getreten: Sie wird zum Gegenstand "offizieller" Geschichtspolitik, wird Angelegenheit der ganzen Republik, dessen Parlament sie zu seiner Sache gemacht hat. Sie ist nicht mehr "Eigentum" der professionellen Vertriebenen, des BdV, wird dessen ideeller und moralischer Verwaltung entzogen, deren alleinige Zuständigkeit entfällt. (Ist das die Ursache dafür, dass der BdV und Erika Steinbach ihren Erfolg nicht begreifen können und das Projekt misstrauisch-eifernd nicht nur befördern, sondern möglichst kontrollierend beeinflussen wollen?)

Dabei ist längst nicht (mehr) alles umstritten. Tatsache ist, rund 15 Millionen Deutsche sind aus dem östlichen Europa geflohen oder vertrieben worden. Ihnen ist großes Leid zugefügt worden. Vertreibungen verstoßen gegen elementare Menschen- und Völkerrechte, sind also Unrecht. Der Wunsch ist nicht nur legitim, dass die Erinnerung die Generation der Vertriebenen überlebt; er ist auch selbstverständlich, denn das Leid der Vertriebenen kann nicht aus der Welt geschafft werden. Tatsache ist auch: Dieses deutsche Drama hatte seine Vorgeschichte. Zu dieser Vorgeschichte gehört der alte Irrglaube von einer "deutschen Mission im Osten", dazu gehört die aggressive "Lebensraum"-Politik der Nationalsozialisten, dazu gehören der Hitler-Stalin-Pakt, der Überfall auf Polen, der mörderische Krieg, und dazu gehört der Antisemitismus, der in furchtbarer Konsequenz in die planmäßige Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden mündete. Man kann und darf nicht über Vertreibung reden, ohne auch ihre Ursache in den Blick zu nehmen: Ohne Hitlers Rassismus keine Vertreibungen, kein 1945 ohne 1933, wie es Richard von Weizsäcker in seiner berühmtesten Rede formuliert hatte. Die Frage, ob und in welchem Maße sich auch die Deutschen als Opfer des Weltkrieges fühlen dürfen, ist falsch gestellt. 60 Jahre danach sollten wir vielmehr fähig sein, den Opfern der Vertreibungen (und zum Beispiel den Opfern der Bombennächte) dadurch gerecht zu werden, dass wir daran erinnern: Sie alle wären ohne die verbrecherische deutsche Kriegspolitik nicht zu Opfern geworden!

Man spricht vom 20. Jahrhundert als dem Jahrhundert des Völkermords und der Vertreibungen: Insgesamt 50 bis 70 Millionen Menschen sind durch Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihres nationalen Bekenntnisses oder ihrer Religion in ihren grundlegenden Menschenrechten verletzt worden. Aber solcherart Zusammenschau darf nicht Unterschiede verwischen! Gestritten, debattiert werden muss über die Genauigkeit der Begriffe, über Ursachen, Kontexte und Folgen von Vertreibungen. Jeder, wirklich jeder Anschein muss vermieden werden, dass wir Deutschen geschichtliche Wahrheiten umdeuten, deutsche Täterschaften relativieren und uns zu einem "Opfervolk" umstilisieren wollen. Schon ein derartiger Verdacht wäre fatal. Denn der Kern des Projekts "Sichtbares Zeichen" war und muss bleiben: durch Aufklärung über geschichtliche Wahrheiten zu Frieden und Versöhnung zwischen unseren Nachbarn und uns Deutschen beizutragen. Deshalb kann und darf dieses Vorhaben nicht gegen unsere Nachbarn, vor allem nicht gegen Polen verwirklicht werden.

Das Projekt kann nur gelingen, wenn es nicht nur ein nationales, sondern ein nachbarschaftlich-europäisches Projekt wird! Nachdem der zähe Streit über Erika Steinbach dem Projekt geschadet hat, nachdem zwei Historiker aus Polen und Tschechien den wissenschaftlichen Beirat verlassen haben, muss jetzt verlorenes Vertrauen wieder aufgebaut, muss der Stillstand beendet und die Krise des Projekts überwunden werden. Was ist zu tun? Die Novellierung des Stiftungsgesetzes und die Besetzung des Stiftungsrates müssen genutzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen - auch um dem Eindruck entgegenzutreten, die Stiftung könnte ein verlängerter Arm des BdV werden. Es ist doch überlegenswert, ausländische Experten auch in den zu Entscheidungen befugten Stiftungsrat zu berufen. Wir brauchen dringend und endlich einen diskutierbaren und diskussionswürdigen Entwurf einer Ausstellungskonzeption. Im Herbst 2008, also vor eineinhalb Jahren, ist das Stiftungsgesetz verabschiedet worden. Seitdem gibt es keine Fortschritte. Es sind viele Fragen offen: Was soll dargestellt werden, worauf soll sich die Ausstellung konzentrieren? Wie viel "Deutsche Siedlungsgeschichte im Osten", wie viel "deutsche Tätergeschichte" und wie viel "deutsche Opfergeschichten"? Wie viel Erfolgsgeschichte der Integration der deutschen Vertriebenen nach 1945? Wie viel kritische Geschichte des BdV? Worin soll die Ausstellung sich von anderen bisherigen Ausstellungen zum Thema unterscheiden? Welches Wissen soll sie vermitteln? Welche Art Betroffenheit und Empathie mit wem?

Solange so viel ungeklärt ist, so lange sind das Projekt und die Stiftung nicht frei von Verdacht. Das darf nicht so bleiben! Deshalb bleibt die Zusammenarbeit mit dem "Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität" wichtig und muss endlich aktiv in das Stiftungsprojekt einbezogen werden.

Erinnerungs- und Gedenkprojekte brauchen - in Deutschland gewiss - einen langen Atem. Beim Holocaust-Mahnmal und bei der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin dauerten Streit und Debatte 20 Jahre. Das hat nicht geschadet, im Gegenteil. Auch das Projekt "Sichtbares Zeichen" verdient intensive Diskussion - offen und gemeinsam mit unseren Nachbarn. Denn die deutsche Geschichte gehört nicht nur uns Deutschen, sondern ist eine europäische Angelegenheit - und das ist gut so.